»Cristiano, ce l’hai un cuore?« – »No. L’ho perso.«
Klipp und klar gesagt: Nach meiner persönlichen classifica ist dies - nach "Io non ho paura" (2001) - des Autors zweitbester Roman. 2006 erschienen, bringt er meisterhaft zwischen zwei Buchdeckel, was ich an Ammanitis Büchern am liebsten mag und was er am besten kann: eine anrührende Initiationsgeschichte in ungeschöntem gesellschaftlichen Kontext hinreißend erzählen. Seine überschäumende Fantasie zügelt Ammaniti hier wenigstens so weit, dass sich die Handlung einigermaßen in den harten Alltagsgrenzen dessen entfaltet, was tatsächlich passieren könnte. Dichtauf folgen "Ti prendo e ti porto via" (1999), das vom Plot her exaltierter, vom Personenkreis her privater und von den Botschaften her weniger relevant ist. "Io e te" (2010) ist intimer, "Che la festa cominci" (2009) überdrehter, und "Fango" (1999) steckt noch zu tief in der Pulp-fiction-Trash-Noir-Grottesk-Phase, die den Autor bis heute geprägt hat.
Dem letzten der vier Hauptteile sind zwei Song-Zeilen des Liedermachers Edoardo Bennato vorangestellt: "Ti hanno iscritto / a un gioco grande". Das trifft auf sarkastische Weise, was Cristiano Zena widerfährt. Der trotz widrigster Umstände bisher noch halbwegs intakte Dreizehnjährige gerät in einen Strudel, den andere auslösen, die es aus ihrer (schiefen) Perspektive durchaus gut mit ihm meinen. Am Ende bleibt er allein zurück, mitten im Chaos seiner ruinierten Lebensumstände.
Cristianos Leitfigur ist sein Vater Rino. Dem ist die Frau davongelaufen, er ist arbeitslos und wohnt mit seinem Sohn in einem heruntergekommenen Haus zwischen Industriegebiet und Niemandsland. Der Mann hat die Mentalität eines Kettenhundes: Er ist unfasslich leicht entzündbar, jederzeit bereit, einen vermeintlichen Feind zu zerfleischen. Brutal in Gedanken und Taten, kennt er keine Grenzen. Am Rand der Gesellschaft schlägt er sich durch, weltanschaulich nach rechts driftend, tätowiert, verachtet und rätselhaft, nur noch für wenige Frauen attraktiv.
Im Mittelpunkt von Rino Zenas Trachten steht sein Sohn, sein einziger Halt und Lebenssinn. Dieses wertvolle Gut beansprucht er eifersüchtig und stolz, und er verteidigt seinen Besitz mit List, zum Beispiel gegen die Behörden in Gestalt des Sozialarbeiters Beppe Trecca. Cristianos Erziehung hat nur ein Ziel: Lebenstüchtigkeit nach dem Vorbild des Vaters. Kleine Übungen auf diesem Weg sind, nächtens einen Kettenhund zu erschießen und einen ungebremsten capucciotto gegen des Vaters Nasenbein zu donnern: Gelobt sei, was hart macht.
Die Vater-Sohn-Beziehung ist von gegenseitigem Respekt und blindem Vertrauen geprägt, auch von rauen Emotionen, und wir ahnen, dass Rino vielleicht ein Herz hat, verschüttet unter all dem Müll, den er in seinem Leben angesammelt hat. In einigen Schlüsselszenen findet Rino beeindruckende Bilder und Worte für seinen Sohn: "Io non posso cadere." - "Perché?" - "Perché so il segreto per non cadere." (S. 324) - dann lässt er den gespannten Cristiano das Geheimnis selber suchen.
So angeleitet, lernt Cristiano Zena sich zu behaupten. Wenn er eigenständig, unkontrolliert handelt, gerät er in größte Kalamitäten, aus denen der Vater ihn wieder heraushauen muss. Er bewahrt sich Zuneigung und Bewunderung für seinen Vater, und auch sein Bewusstsein für Recht und Unrecht bleibt im Grunde erhalten, doch in seinem "gioco grande" kann er nur Verlierer sein: "Cristiano, ce l'hai un cuore?" fragt ihn Beppe, und weise antwortet der Junge: "No. L'ho perso." (S. 460)
Ein Roman voller beschädigter Leben
Auch Rinos Kumpel Danilo ist ein Verlierer. Nach dem Tod der kleinen Tochter hat ihn seine Frau verlassen, und er stürzte tief; jetzt will er seinen verlorenen Status wiedergewinnen, und dazu sind ihm alle Mittel recht - der Gelegenheitsarbeiter fühlt sich allen überlegen, hat hochfliegende Pläne, ist freilich nicht besser als andere und überschätzt sich ebenso wie sie. Von ihm stammt der fatale Plan, einen Bancomat aufzubrechen ...
Mitleid und Schauder erregt "Quattro Formaggi", der zweite Gefährte der Zenas. Geistig etwas zurückgeblieben, lebt er am liebsten in seiner presepe, einer riesigen Weihnachtskrippe aus liebevoll gesammeltem Müll (tipo Überraschungsei-Figürchen), deren Parallelwelt kindliche Gedanken, Religiöses und fatalerweise auch derbe Sexbesessenheit verdinglicht.
Beppe Trecca, der Sozialarbeiter, verfällt gänzlich unerwartet der Frau des besten Freundes. Dieser Schicksalsschlag stürzt das Weichei in ein moralisches Wechselbad - bald fühlt er sich als draufgängerischer, kaltblütiger Verführer, bald ist er reumütiger Sünder. Leider kann er dadurch seinen wichtigen Alltagsaufgaben nicht mehr so nachgehen, wie es für Cristiano zu wünschen wäre ...
Der äußere Schein täuscht ohnehin in dieser scheinheiligen Gesellschaft: Spontan beschließt Cristiano in der Tierhandlung, das niedliche Frettchen zu klauen, steckt es in seine Hose, türmt - und wird natürlich sofort erwischt; die biestigen Wohlstandsmädchen dagegen - die eh nur an Joints, Saufen und Sex denken - plündern sich geradezu durch die Boutiquen und hinterlassen auch noch die unschuldigsten Eindrücke.
In den unzähligen Kapiteln, aus denen sich diese Leben zusammensetzen, beweist sich Ammanitis unerschöpfliche Fabulierkunst - dicht, fettfrei, auf den Punkt formuliert, aber verschwenderisch kreativ wie die mensoloni der Barockbalkone im sizilianischen Südosten: Für ein, zwei Absätzchen schweift der Meister kurz mal ab, bloß um einen Spitznamen, eine Narbe, eine Macke einer Figur zu begründen, und liefert dazu eine Episode ab, die anderen Autoren als Steilvorlage für einen ganzen Roman dienen könnte ... Wie, beispielsweise, hat denn Danilo sein Töchterchen verloren? Weil sich ein Kindersitz, wiewohl vielfach getestet, nicht öffnen ließ, als Danilo eines Tages ... (S. 134 ff.). Und wie kommt er selbst ums Leben? "La ruota destra colpì a centosessanta chilometri orari il marciapiede e si staccò dal mozzo e la macchina si ribaltò e cominciò ad avvitarsi su se stessa e si accartocciò contro un'enorme fioriera di cemento che era stata messa lì dalla nuova giunta comunale per impedire alle auto di entrare in quello che chiamavano centro storico" (S. 297).
Im Übrigen ist auch dieser Ammaniti nichts für Zartbesaitete: Wenn Rino und Konsorten zuschlagen, dann richtig und ganz nach Comic-Art (mit "CRICK", "STOCK", Bomben im Hirn und Willie the Coyote). Auch das Strukturprinzip ist bewährt, unterhaltsam und leserfreundlich: Ein halbes Dutzend Handlungsstränge wird im Wesentlichen chronologisch abgearbeitet, in 244 Kapitelchen, die hübsch alternierend jeweils einer Person und Phase gewidmet sind, wobei diese Schnipselchen zu einander hinführen, einander spiegeln, ergänzen, relativieren - und meist ein cliffhanger am Kapitelende zum Weiterlesen zwingt ...
Dass all dies Gott befohlen haben könnte (oder es ihm gefällt, wie es in der deutschen Übersetzung heißt), kann nur zynisch gemeint sein. Und doch schimmern durch die Oberfläche der alles beherrschenden Brutalität - physisch, psychisch, verbal, sozial, biographisch - immer wieder einfache Moralvorstellungen, die sich als Sorge um die pflegebedürftige Mutter, im bedingungslosen Eintreten füreinander, in Freundschaft und Skrupeln manifestieren, letzten Endes aber aus einer anderen Welt stammen als die, in der Cristiano mitspielen muss.
P.S.: Falls Sie das Buch über einen Versand kaufen: Was Sie erhalten, ist kein Mängelexemplar. Die Taschenbücher der Piccola Biblioteca Oscar Mondadori sehen oft so aus, als wären die Papierbögen per Hand geschnitten und zusammengetackert worden ...