Rezension zu »Soledad: Un dicembre del commissario Ricciardi« von Maurizio de Giovanni

Soledad: Un dicembre del commissario Ricciardi

von


Wenige Tage vor Weihnachten 1939 wird die attraktive Geliebte eines prominenten verheirateten Anwalts in ihrer Wohnung erschlagen. Ihre bettlägerige, pflegebedürftige Mutter ist die einzige Zeugin. Die Stimmung in der Stadt ist vom Faschismus geprägt, den die einen feiern, die anderen fürchten.
Historischer Kriminalroman · Teil der Serie »Il Commissario Ricciardi« · Einaudi · · 288 S. · ISBN 9788806255190
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Taschenbuch E-Book

Gestohlene Leben

Rezension vom 12.12.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

An eine Zeit wie diese kann Luigi Ricciardi sich nicht erinnern. »Incoerenza«, philoso­phiert er bei sich, sei viel­leicht ihr bezeich­nendes Merkmal. Es ist Montag, der 18. Dezember 1939. In Neapels Stadt­vierteln pulsiert das Leben wie immer, die Menschen sind ent­schlos­sen, Armut und Kälte ein gewohnt ausge­lassenes, hoff­nungs­frohes Weih­nachts­fest abzu­trotzen, aber Unsicher­heit und Angst belasten die Stimmung schwer. Denn es ist auch das Jahr XVIII der neuen Zählung, die mit Musso­linis Ver­eidi­gung als Präsident des Minister­rats begann. Der Duce sitzt fest im Sattel und steht kurz davor, sich mit seinem deutschen Freund zu verbünden. Wie Hitler es bereits prakti­ziert, zieht er die Schlingen gegen Juden und Regime­gegner zu und schlägt aggres­sive Töne an, die einen Krieg be­fürchten lassen.

Als Polizist wie als feinfühligem Beobachter bleibt Commis­sario Ricciardi nicht verborgen, wie die Gesell­schaft schlei­chend vergiftet wird. Denunzia­tionen häufen sich; harmlose »femminielli« werden verfolgt und zu Brei geschla­gen; nach Schlie­ßung ihrer Geschäfte und Berufs­verboten herrscht in jüdischen Familien Unsicher­heit, ob man abwarten oder fliehen solle. Wo man früher beim caffè arglos drauflos plaudern konnte, ist jetzt aus takti­schen Gründen das Verbergen der eigenen Haltung oder das Vor­spiegeln einer falschen Gesinnung an der Tages­ordnung.

Erfolgsautor Maurizio de Giovanni lässt uns die unheim­liche, bedroh­liche Stim­mungs­lage hautnah nach­voll­ziehen, indem er die persön­lichen Erleb­nisse seiner Figuren unmit­telbar damit durch­dringt. Da ist Ricciar­dis Freund Bruno Modo, Gerichts­medi­ziner, dessen lose Zunge und Aktivi­täten im Wider­stand ihn schon öfter in akute Gefahr gebracht haben. Da ist der Briga­diere Raffaele Maione, Ricciar­dis rechte Hand, den nach Dienst­schluss die Sorgen um seinen halb­wüchsi­gen Sohn umtreiben. Der fühlt sich angezogen vom pathe­tischen Akti­vismus, in dem sich eine Handvoll begeis­terter Jung­faschis­ten sonnt, und nimmt in Kauf, dass er sich als Preis für ihre Aner­ken­nung bedin­gungs­los unter­werfen und alles aufgeben muss, was er bisher für richtig hielt. Die ideolo­gisch aufge­plus­terten Burschen dekla­rieren ihre Taten als heroisch und weg­berei­tend für eine neue Zeit und recht­ferti­gen damit, wie grausam sie ihre Opfer entwür­digen und miss­handeln.

Selbst in Ricciardis eigener Familie sind Leben bedroht, wie ihn wohl­wol­lende Vertraute wissen lassen. Fünf Jahre zuvor hatte der Kommissar seine geliebte Enrica Colombo gehei­ratet, doch starb sie bei der Geburt ihrer Tochter Marta (zu lesen in »Il pianto dell’alba«, Band 12, 2019). In Folge der jüngsten Rasse­gesetze musste Enricas Vater Giulio Colombo schon sein Geschäft für Hüte und Hand­schuhe aufgeben, nun steht die ganze Familie ein­schließ­lich der Enkelin Marta auf einer geheimen Liste.

Ricciardi, der introvertierte, besonnene und melan­choli­sche Charakter, der die Trauer über Enricas tragi­schen und viel zu frühen Tod wohl nie über­winden wird, findet zwar Trost bei seiner kleinen Tochter (deren Erziehung er in die Hände einer guten Freundin sowie seiner Schwie­ger­eltern gelegt hat), muss sich nun um die Rettung seiner Liebsten kümmern, und dafür fallen ihm geeignete Mittel und Wege ein. Auch seine spröde Haus­hälte­rin Nelide (die in diesem Band an Profil gewinnt) steht ihm mit Tatkraft, Loyalität und wunder­baren Redens­arten aus dem Cilento zur Seite.

Unter der drückenden Last all dieser persön­lichen und politi­schen Probleme müssen Ricciardi und Maione einen besonders rätsel­haften Mord­fall lösen. In ihrem Zimmer im ersten Stock eines gut­bürger­lichen palazzo wurde Erminia Cascetta am hell­lichten Tage erschla­gen, während Angelina, die betagte Mutter des Opfers, im Nebenraum den grausamen Ablauf des Ver­bre­chens hilflos mit anhören musste. Denn da Angelina bett­läge­rig und permanent auf Hilfe ange­wiesen ist, war lauthals zu schreien alles, was ihr in ihrer Ver­zweif­lung zu tun blieb. Ricciar­dis myste­riöse »Gabe«, die letzten Worte der Opfer vernehmen zu können, sugge­riert ihm Stich­worte, die auf ein Motiv des Täters hinweisen könnten, aber um den zu stellen, muss er erst einmal Ver­däch­tige ermitteln.

Erminia war eine attraktive Frau mitt­leren Alters, lebens­froh, eigen­ständig. Ihr Lebens­wandel, so stellt sich schnell heraus, war unkon­ventio­nell. Seit Jahren war sie die Geliebte eines siebzig­jähri­gen Star­anwalts mit Frau und vier Kindern, der sie und ihre Mutter überaus großzügig unter­stützte. Natürlich gerät er als Erster in Verdacht, kann aber die Auf­richtig­keit der unge­wöhn­lichen Liebes­bezie­hung und seine Unschuld beweisen. Ricciardi und Maione durch­forsten darauf­hin die wenigen Freund­schaften, die die Ermordete unter­halten hatte, finden darunter einen jüngeren Bewun­derer, hören Aus­künfte und Gerüchte von Nach­barn, die in der Wohnung ein und aus gingen, um Angelina zu pflegen und zu versorgen, während Erminia unter­wegs war, um teuer einzu­kaufen oder sich zu amü­sieren, aber nirgend­wo erhärtet sich ein konkreter Verdacht.

Die Struktur des Romans bewirkt ein eher geruh­sames Tempo. Es gibt mindes­tens ein halbes Dutzend Hand­lungs­stränge, die einander mehr oder weniger berühren und in den 44 Kapiteln alte­rnierend fortge­führt werden. Eine ganze Reihe davon dient vor­nehm­lich dazu, die Atmos­phäre der konkret wach­senden Bedrohung im Faschis­mus, der bemühten Fröh­lich­keit der Weih­nachts­zeit, der Sorgen im Privat­leben Maiones um den Zu­sammen­halt seiner Familie, von Ricciar­dis Dasein als Witwer und Vater zu schildern. Das Leitmotiv all dieser Szenen ist die Einsam­keit der Menschen, die sich in der jewei­ligen Lage verloren, verlassen, isoliert und trostlos fühlen: Während Ricciardi Halt in Selbst­gesprä­chen mit seiner verstor­benen Frau sucht, gibt es für Menschen, die anders sind als die Norm, die anders denken als von der Regierung erwünscht, die von neu erlas­senen Gesetzen ausge­grenzt, verfolgt, ver­trie­ben und ver­nich­tet werden sollen, keine Solida­rität und keine Hoffnung.

Einsamkeit stellt den Titel des Romans und wird in einem Tango von 1934 musika­lisch inter­pretiert (»Soledad«, Kompo­sition Carlos Gardel, Text Alfredo Le Pera). Für eine nach Argen­tinien geflohene italie­nische Sängerin verdich­tet dieses Lied ihre triste, sehn­suchts­volle Situation im Exil. In diesen Szenen erweist sich ganz besonders über­zeu­gend de Giovannis Meister­schaft, tief in die Seelen seiner Figuren einzu­dringen und jeder einzelnen eine indivi­duelle, dif­feren­zierte Gestalt zu geben. Seine Reihe um »Commis­sario Ricciardi« – die er nach Folge 12 offiziell für abge­schlos­sen erklärt hatte – gewinnt von Band zu Band an Tiefe und histori­scher Rele­vanz.

P.S.: »Soledad« ist der 14. Roman der Reihe, wird aber als »Vol. 17« der »indagini del commissario Ricciardi« betitelt. Dies rechnet die Erzäh­lungs­bände mit ein.

P.P.S.: Die gedruckte Taschenbuchausgabe dieses Buches ist vorerst nur über Amazon Italien Maurizio de Giovanni: »Soledad« bei Amazon Italien lieferbar, nicht aber über Amazon Deutschland Maurizio de Giovanni: »Soledad« bei Amazon Deutschland.
Die Kindle-Ausgabe ist über Amazon Deutschland Maurizio de Giovanni: »Soledad« bei Amazon Deutschland zu beziehen.


Weitere Artikel zu Büchern von Maurizio de Giovanni bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Angeli per i Bastardi di Pizzofalcone«

go

Rezension zu »Das Krokodil«

go

Rezension zu »Der dunkle Ritter: Lojacono ermittelt in Neapel«

go

Rezension zu »Die Gauner von Pizzofalcone«

go

Rezension zu »Die Klagen der Toten«

go

Rezension zu »I Bastardi di Pizzofalcone: Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme«

go

Rezension zu »Il Commissario Ricciardi: Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme«

go

Rezension zu »In fondo al tuo cuore«

go

Weitere Artikel zu der Serie Il Commissario Ricciardi bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Il Commissario Ricciardi: Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme«

go

Weitere Artikel zu Büchern aus der Region Neapel und Golf bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Am Hügel von Capodimonte«

go

Rezension zu »Angeli per i Bastardi di Pizzofalcone«

go

Rezension zu »Arturos Insel | L'isola di Arturo«

go

Rezension zu »Das Krokodil«

go

Rezension zu »Das lügenhafte Leben der Erwachsenen«

go

Rezension zu »Der dunkle Ritter: Lojacono ermittelt in Neapel«

go

Rezension zu »Der erste Tag vom Rest meines Lebens«

go

Rezension zu »Der Tag vor dem Glück«

go

Rezension zu »Die Gauner von Pizzofalcone«

go

Rezension zu »Die Insel Capri. Ein Portrait«

go

Rezension zu »Die Klagen der Toten«

go

Rezension zu »I Bastardi di Pizzofalcone: Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme«

go

Rezension zu »Il Commissario Ricciardi: Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme«

go

Rezension zu »In fondo al tuo cuore«

go

Rezension zu »La compagnia delle anime finte«

go

Rezension zu »La giustizia di Pulcinella«

go

Rezension zu »La mammana«

go

Rezension zu »La vera storia di Martia Basile«

go

Rezension zu »Meine geniale Freundin«

go

Rezension zu »Mille giorni che non vieni«

go

Rezension zu »Montedidio«

go

Rezension zu »Noi due oltre le nuvole«

go

Rezension zu »Se vuoi vivere felice«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Soledad: Un dicembre del commissario Ricciardi« von Maurizio de Giovanni
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Taschenbuch E-Book


Kommentare

Zu »Soledad: Un dicembre del commissario Ricciardi« von Maurizio de Giovanni wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top