Soledad: Un dicembre del commissario Ricciardi
von Maurizio de Giovanni
Wenige Tage vor Weihnachten 1939 wird die attraktive Geliebte eines prominenten verheirateten Anwalts in ihrer Wohnung erschlagen. Ihre bettlägerige, pflegebedürftige Mutter ist die einzige Zeugin. Die Stimmung in der Stadt ist vom Faschismus geprägt, den die einen feiern, die anderen fürchten.
Gestohlene Leben
An eine Zeit wie diese kann Luigi Ricciardi sich nicht erinnern. »Incoerenza«, philosophiert er bei sich, sei vielleicht ihr bezeichnendes Merkmal. Es ist Montag, der 18. Dezember 1939. In Neapels Stadtvierteln pulsiert das Leben wie immer, die Menschen sind entschlossen, Armut und Kälte ein gewohnt ausgelassenes, hoffnungsfrohes Weihnachtsfest abzutrotzen, aber Unsicherheit und Angst belasten die Stimmung schwer. Denn es ist auch das Jahr XVIII der neuen Zählung, die mit Mussolinis Vereidigung als Präsident des Ministerrats begann. Der Duce sitzt fest im Sattel und steht kurz davor, sich mit seinem deutschen Freund zu verbünden. Wie Hitler es bereits praktiziert, zieht er die Schlingen gegen Juden und Regimegegner zu und schlägt aggressive Töne an, die einen Krieg befürchten lassen.
Als Polizist wie als feinfühligem Beobachter bleibt Commissario Ricciardi nicht verborgen, wie die Gesellschaft schleichend vergiftet wird. Denunziationen häufen sich; harmlose »femminielli« werden verfolgt und zu Brei geschlagen; nach Schließung ihrer Geschäfte und Berufsverboten herrscht in jüdischen Familien Unsicherheit, ob man abwarten oder fliehen solle. Wo man früher beim caffè arglos drauflos plaudern konnte, ist jetzt aus taktischen Gründen das Verbergen der eigenen Haltung oder das Vorspiegeln einer falschen Gesinnung an der Tagesordnung.
Erfolgsautor Maurizio de Giovanni lässt uns die unheimliche, bedrohliche Stimmungslage hautnah nachvollziehen, indem er die persönlichen Erlebnisse seiner Figuren unmittelbar damit durchdringt. Da ist Ricciardis Freund Bruno Modo, Gerichtsmediziner, dessen lose Zunge und Aktivitäten im Widerstand ihn schon öfter in akute Gefahr gebracht haben. Da ist der Brigadiere Raffaele Maione, Ricciardis rechte Hand, den nach Dienstschluss die Sorgen um seinen halbwüchsigen Sohn umtreiben. Der fühlt sich angezogen vom pathetischen Aktivismus, in dem sich eine Handvoll begeisterter Jungfaschisten sonnt, und nimmt in Kauf, dass er sich als Preis für ihre Anerkennung bedingungslos unterwerfen und alles aufgeben muss, was er bisher für richtig hielt. Die ideologisch aufgeplusterten Burschen deklarieren ihre Taten als heroisch und wegbereitend für eine neue Zeit und rechtfertigen damit, wie grausam sie ihre Opfer entwürdigen und misshandeln.
Selbst in Ricciardis eigener Familie sind Leben bedroht, wie ihn wohlwollende Vertraute wissen lassen. Fünf Jahre zuvor hatte der Kommissar seine geliebte Enrica Colombo geheiratet, doch starb sie bei der Geburt ihrer Tochter Marta (zu lesen in »Il pianto dell’alba«, Band 12, 2019). In Folge der jüngsten Rassegesetze musste Enricas Vater Giulio Colombo schon sein Geschäft für Hüte und Handschuhe aufgeben, nun steht die ganze Familie einschließlich der Enkelin Marta auf einer geheimen Liste.
Ricciardi, der introvertierte, besonnene und melancholische Charakter, der die Trauer über Enricas tragischen und viel zu frühen Tod wohl nie überwinden wird, findet zwar Trost bei seiner kleinen Tochter (deren Erziehung er in die Hände einer guten Freundin sowie seiner Schwiegereltern gelegt hat), muss sich nun um die Rettung seiner Liebsten kümmern, und dafür fallen ihm geeignete Mittel und Wege ein. Auch seine spröde Haushälterin Nelide (die in diesem Band an Profil gewinnt) steht ihm mit Tatkraft, Loyalität und wunderbaren Redensarten aus dem Cilento zur Seite.
Unter der drückenden Last all dieser persönlichen und politischen Probleme müssen Ricciardi und Maione einen besonders rätselhaften Mordfall lösen. In ihrem Zimmer im ersten Stock eines gutbürgerlichen palazzo wurde Erminia Cascetta am helllichten Tage erschlagen, während Angelina, die betagte Mutter des Opfers, im Nebenraum den grausamen Ablauf des Verbrechens hilflos mit anhören musste. Denn da Angelina bettlägerig und permanent auf Hilfe angewiesen ist, war lauthals zu schreien alles, was ihr in ihrer Verzweiflung zu tun blieb. Ricciardis mysteriöse »Gabe«, die letzten Worte der Opfer vernehmen zu können, suggeriert ihm Stichworte, die auf ein Motiv des Täters hinweisen könnten, aber um den zu stellen, muss er erst einmal Verdächtige ermitteln.
Erminia war eine attraktive Frau mittleren Alters, lebensfroh, eigenständig. Ihr Lebenswandel, so stellt sich schnell heraus, war unkonventionell. Seit Jahren war sie die Geliebte eines siebzigjährigen Staranwalts mit Frau und vier Kindern, der sie und ihre Mutter überaus großzügig unterstützte. Natürlich gerät er als Erster in Verdacht, kann aber die Aufrichtigkeit der ungewöhnlichen Liebesbeziehung und seine Unschuld beweisen. Ricciardi und Maione durchforsten daraufhin die wenigen Freundschaften, die die Ermordete unterhalten hatte, finden darunter einen jüngeren Bewunderer, hören Auskünfte und Gerüchte von Nachbarn, die in der Wohnung ein und aus gingen, um Angelina zu pflegen und zu versorgen, während Erminia unterwegs war, um teuer einzukaufen oder sich zu amüsieren, aber nirgendwo erhärtet sich ein konkreter Verdacht.
Die Struktur des Romans bewirkt ein eher geruhsames Tempo. Es gibt mindestens ein halbes Dutzend Handlungsstränge, die einander mehr oder weniger berühren und in den 44 Kapiteln alternierend fortgeführt werden. Eine ganze Reihe davon dient vornehmlich dazu, die Atmosphäre der konkret wachsenden Bedrohung im Faschismus, der bemühten Fröhlichkeit der Weihnachtszeit, der Sorgen im Privatleben Maiones um den Zusammenhalt seiner Familie, von Ricciardis Dasein als Witwer und Vater zu schildern. Das Leitmotiv all dieser Szenen ist die Einsamkeit der Menschen, die sich in der jeweiligen Lage verloren, verlassen, isoliert und trostlos fühlen: Während Ricciardi Halt in Selbstgesprächen mit seiner verstorbenen Frau sucht, gibt es für Menschen, die anders sind als die Norm, die anders denken als von der Regierung erwünscht, die von neu erlassenen Gesetzen ausgegrenzt, verfolgt, vertrieben und vernichtet werden sollen, keine Solidarität und keine Hoffnung.
Einsamkeit stellt den Titel des Romans und wird in einem Tango von 1934 musikalisch interpretiert (»Soledad«, Komposition Carlos Gardel, Text Alfredo Le Pera). Für eine nach Argentinien geflohene italienische Sängerin verdichtet dieses Lied ihre triste, sehnsuchtsvolle Situation im Exil. In diesen Szenen erweist sich ganz besonders überzeugend de Giovannis Meisterschaft, tief in die Seelen seiner Figuren einzudringen und jeder einzelnen eine individuelle, differenzierte Gestalt zu geben. Seine Reihe um »Commissario Ricciardi« – die er nach Folge 12 offiziell für abgeschlossen erklärt hatte – gewinnt von Band zu Band an Tiefe und historischer Relevanz.
P.S.: »Soledad« ist der 14. Roman der Reihe, wird aber als »Vol. 17« der »indagini del commissario Ricciardi« betitelt. Dies rechnet die Erzählungsbände mit ein.
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