Der Spiderman der Sanità
Sanità – das ist ein unscheinbarer rione in Neapel. Touristen sehen keine Veranlassung, in diesem Stadtviertel herumzustromern. Dabei geschehen hier, wo die einfachen Leute unter sich bleiben, Dinge, die weltweit Aufsehen erregen.
Einem einzelnen Mann, der sich Pulcinella nennt und seine wahre Identität verbirgt, ist es gelungen (das erzählt der erste Band der Romanserie), den Camorra-Boss Clemente Sparaco der Lächerlichkeit preiszugeben, dann zu töten und seiner Compagneria das menschenverachtende Handwerk zu legen. Damit hat der Unbekannte die ganze Stadt aus Angst und Lethargie befreit und den Einwohnern Hoffnung, Freiheit und Würde zurückgegeben. Mit dem Frieden wächst ihr Stolz auf das Erreichte und ihr Mut, gegen neue Übergriffe, Gewalt und Kriminalität aufzustehen. Auf einer Webseite können sie sowohl weitere Mafia-Aktivitäten als auch Korruption und Versäumnisse staatlicher Institutionen bei der Verbrechensbekämpfung anprangern. Freiwillige Experten unterstützen Pulcinellas Feldzug für die Gerechtigkeit. Heiterkeit zieht wieder ein, die Lebensqualität steigt, unternehmerische Initiativen blühen auf.
Aber Pulcinella hat sich mit einem übermächtigen Feind angelegt. Im zweiten Band erfahren wir, wie sich die bislang rivalisierenden Camorra-Clans zusammenschließen, um ihn aufzuspüren und zu beseitigen. Doch sie sind selbst nur Werkzeuge einiger weniger Familien, die seit Jahrhunderten im Verborgenen die Fäden ziehen, um skrupellos Macht und Reichtum zu mehren. Sie haben sich international in einem uralten, erzkonservativen Club zusammengeschlossen, wo ein nationaler Primo Responsabile den Ton angibt. In einem spektakulären blutigen Akt hat Pulcinella, der sich mittlerweile im weitläufigen Labyrinth des neapolitanischen Untergrunds (Napoli sotterranea) eingenistet hat, den amtierenden Vorsitzenden gerichtet.
Im Prolog des dritten Bandes wird diese Vorgeschichte des Spaßmachers, Rächers und Beschützers sehr dicht rekapituliert, ehe klar wird, dass für Pulcinella noch viel zu tun bleibt. Denn der Hydra des Verbrechens wachsen viele Köpfe nach. Der junge Ciro Sparaco, soeben aus der Hölle des Gefängnisses entkommen, ist begierig darauf, das Erbe seines Vaters anzutreten. Die machtgierige Rossella Spina, die sich gerade an die Spitze des Clans der Arrevotati durchgekämpft hat, wittert ihre Chance, nach ganz oben durchzustarten. Costanzo Filangieri de Candida, Bischof von Neapel, will unbedingt die Nachfolge seines ermordeten Cousins als Primo Responsabile del Club in Italien antreten. Und schließlich macht ein weiterer Unbekannter, der sich »Il Muto di Portici« nennt, Karriere als Serienmörder. Er tötet immer im Doppelpack, zerlegt die beiden Leichen, arrangiert ihre Teile zu einem geheimnisvollen Symbol und deklariert sie als »agnelli sacrificati al dio Pulcinella«.
Damit befindet sich Pulcinella – gefeierter Wohltäter und gesuchter Schwerkrimineller – mitten auf einem explosiven Schachbrett voller Mitspieler mit undurchsichtigen Ambitionen. Manch vorgeblicher Sympathisant sinnt in Wahrheit auf Rache. Mancher Politiker und hohe Polizeibeamte gibt sich als Mitstreiter für die Gerechtigkeit, will aber insgeheim nicht kampflos von Karriere und Pfründen lassen. Selbst der italienische Staat ist ein eifersüchtiger Gegner, will er doch in den Augen der europäischen Partner nicht als unfähig und hilflos dastehen. Im Grunde kämpft jeder gegen jeden. Im Chaos dieser undurchsichtigen Beziehungen voller tödlicher Gefahren liegt einer der Reize dieses Krimis.
Vor allem aber fasziniert der ungewöhnliche Protagonist der Serie, ein komplexer literarischer Hybrid. Einerseits ist er eine Art Spiderman nach amerikanischem Comic-Muster, doch vollbringt er seine Superheldentaten ganz ohne Zauberkräfte nur dank eigener Kompetenzen: ein begnadeter Programmierer und Hacker, ein gerissener Stratege und überdies ein durchtrainierter Kampfsportler und Akrobat, der mühelos über die Dächer der palazzi rennt, Fassaden erklimmt und fremde Wohnungen gern durchs offene Fenster betritt. Nicht einmal die geheimsten Archive des Vatikans bleiben ihm verschlossen.
Andererseits nimmt er die Gestalt einer traditionsreichen, in ganz Süditalien äußerst populären Figur an. Seit dem 16. Jahrhundert treibt Pulcinella (neapolitanisch: Pulecenella), häufig mit dem Beinamen Cetrulo (neapolitanisch für cetriolo (Gurke), etwa »Einfaltspinsel, Hohlkopf«) versehen, sein amüsant verwirrendes Unwesen in der Commedia dell’arte, auf Wanderbühnen und im Puppentheater. Was ihn so beliebt macht – auch Goethe bewunderte ihn –, ist sein schillernder, widersprüchlicher Charakter, die heitere Dreistigkeit, mit der er die Mächtigen bloßstellt, und sein Geschick, sich allem Schlamassel lächelnd zu entwinden. Seit eh und je sieht sich auch der Neapolitaner gern als genau solch ein vitaler Lebenskünstler. Massimo Torre hat diese Figur (deren Name übrigens aus dem eines extravaganten Bauern oder Schauspielers des 17. Jahrhunderts namens Puccio D’Aniello abgeleitet sein mag) neu belebt und zeitgemäß profiliert.
Wie die amerikanischen Superheroen führt Torres Protagonist ein Doppelleben. Wenn er undercover in seiner Mission unterwegs ist, agiert er unter seinem Künstlernamen, trägt dessen charakteristische Kleidung und die schwarze Halbmaske mit spitzer Vogelnase, umtänzelt sein Gegenüber, um sie oder ihn zu verwirren, schlägt Saltos, springt herum, als gäbe es keine Schwerkraft, spricht neapolitanischen Dialekt und ergeht sich gern in spontan erfundenen filastrocche, reimreichen sprachakrobatischen Wortspielereien, die an Rap erinnern und in denen sich Sinn und Sinnlosigkeit auf irritierende Weise die Waage halten.
Als ›normaler‹ Bürger betreibt er unter seinem richtigen Namen Puccio D’Aniello (!) mitten im rione einen Laden, wo er als »tuttaio« alles, was ihm die Nachbarn vorbeibringen, gegen kleines Geld repariert, vom Regenschirm über das alte Kofferradio bis zum Handy. Sein junger Gehilfe Diego Armando und der Pastor Don Andrea sind die einzigen, denen er anvertraut hat, dass er Pulcinella ist.
Puccio-Pulcinella wäre kein Neapolitaner, wenn er nicht auch voller Emotionen steckte. Er ist unsterblich verliebt in die bildschöne Rosa Bellella, deren Familie von der Camorra ruiniert wurde. Leider ist er nicht der Einzige. Ciro würde sie gern in seinen Besitz bringen, und selbst der obskure stumme Serienschlächter hat ein Auge auf sie geworfen. Versteht sich, dass sie in große Gefahr gerät …
Wie es sich für das Superhelden-Genre gehört, spart der Autor nicht an grausamen Morden, Drastik und Unglaublichem: Einfachste Jobs übernimmt ein gelehriger Gorilla, Pulcinella installiert ein riesiges Netz aus Kameras und Trojanern sowie ein unterirdisches HiTech-Hauptquartier. Das Weltbild kommt dagegen mit den Grundfarben Schwarz und Weiß aus, und dass das mit der »Gerechtigkeit« und den Methoden, sie durchzusetzen, ein weites Feld ist, wird immerhin angedeutet.
Ein allwissender Erzähler bereitet all dies solide, ziemlich trocken und ohne Umschweife auf. Da er beizeiten alles selbst erklärt, was man wissen muss, bleibt die Spannungskurve flach, aber die Ereignisse selbst sorgen reichlich für amüsiertes Staunen, Überraschung und Schaudern. Das parthenopeische Lokalkolorit ist mit allen Sinnen gestaltet (z.B. »la pasta fritta … un’invenzione di nonna Pina«). Kurzum: ein reizvolles, unterhaltsames Crossover zwischen klassischem Schocker-Comic und bewährten neapolitanischen Literaturtraditionen.
Massimo Torre, 1958 in Neapel geboren und Drehbuchautor für Film und Fernsehen, hat bislang drei »Pulcinella«-Romane veröffentlicht, und mit Sicherheit lässt er weitere folgen.
• »Chi ha paura di Pulcinella?« (2014)
• »Uccidete Pulcinella« (2015)
• »La giustizia di Pulcinella« (2017)