Engel im Inferno
Nica ist ein sympathisches Mädchen, umgänglich, vernünftig, offen und herzlich mit ihren Eltern; in der Schule bringt sie nur gute Noten. Doch ihre Mama Lidia di Fiore macht sich fortwährend Sorgen um ihre Fünfzehnjährige. Ihre Kleidung ist ihr gleichgültig, sie schminkt sich nicht, will nicht ausgehen, hat keine Freunde, fühlt sich am wohlsten in ihrem Zimmer zu Hause in Neapel und am geborgensten bei ihrer Oma Giovanna. Kurz: Sie ist nicht socializzata.
In der Tat ist sie ein eigenartiger Charakter. Schon ehe sie in die Schule kam, konnte sie mit zweistelligen Zahlen kopfrechnen, jetzt jongliert sie locker mit Eulerschen Formeln und Exponenzialgleichungen. Auch Menschen sind für das überdurchschnittlich intelligente Mädchen nur Zahlenrelationen, Gleichungen. Alles um sie herum möchte sie systematisieren, in eine rationale Ordnung bringen.
In der scuola media der Ordensbrüder kommt das nicht gut an. Da lässt man sie bestenfalls unbeachtet am Rande stehen, öfter aber wird sie von den Tonangebern übel gedemütigt. Ihr Spitzname Casio, la calcolatrice infallibile würdigt ihre Stärke, aber ein Ehrentitel ist er nicht. Auch die prof fühlen sich bisweilen an der Nase herumgeführt, wenn Nica an der Tafel etwas besser erklärt als sie selbst oder in einer Klassenarbeit nach ein paar Minuten perfekt erläuterte Lösungen abgibt. Gut, dass Pater Giorgio da ist – der Schulleiter versteht, schätzt und fördert Nica, und sie sieht in ihm einen Seelenverwandten: Ist nicht auch er ein emarginato in fuga dalla vita? Wieso wäre er sonst Priester geworden, wenn er nicht seinen Glauben hätte ausleben wollen?
Nica ist eher die Tochter ihres Vaters als ihrer Mutter. Giacomo ist ingegnere elettronico, ein unaufgeregter Mann, der in sich selbst und seiner Arbeit ruht. Mama dagegen – sie katalogisiert die Sammlungen im museo Nazionale – ist sein glattes Gegenteil. Sie ist lebhaft, bewegt sich elegant (eine Schwimmerin), schminkt sich gern, schließt leicht Kontakte und teilt ihre Freuden und Ängste mit jedem. Aber sie ist es auch, die sich mit dem leicht autistischen Wesen ihrer Tochter nicht einfach abfinden kann. Sie macht sich nicht nur permanent übertriebene Sorgen, verfolgt jede von Nicas Bewegungen, sondern meint immer wieder, sie in eine bestimmte Richtung schubsen zu müssen: Geh doch mal ... Besuch doch mal ... magari diventate amici. Nica macht meist gute Miene, aber verbiegen lässt sie sich nicht.
Den großen Umbruch bringt die Familie de Rossi aus Milano, die ebenfalls im Feriendorf im Salento Urlaub macht. Wie Lidia ist auch Diana eine überbesorgte Mutter, denn ihr Sohn Sandro, 16, ist mit einer Krankheit geschlagen, die ihn zwingt, im Haus zu bleiben. Sie schlägt vor, dass Nica ihn doch mal besuchen könnte. Sandro erweist sich als sonniges Gemüt, als delfino – ganz anders als Nica, die sich als scheue lucertola sieht. Schnell nähern sich die beiden einander an und werden zu einem verschworenen Paar, das gemeinsam erkennt, was ihnen gut tut, und erprobt, wie sie ihren Bedrängnissen vielleicht entkommen können.
Was sie während ihrer Sommerwochen am Meer erleben, legt das Fundament für das, was danach folgt. Und das sind dramatische Veränderungen, die drastische Aktionen auslösen. Am Ende gewinnt die Handlung gewaltig an Tempo und Spannung, aber auch an Pathos, und die Gefühle bekommen noch mehr Gewicht als schon im villaggio turistico.
»Noi due oltre le nuvole« ist ein schönes Buch über eine intelligente Heranwachsende, die sich selbst und ihre Umgebung anzunehmen lernt. Dass uns eine leicht kitschige Liebesgeschichte unter Jugendlichen erwartet, lassen schon Buchtitel und Covergestaltung erahnen. In der Tat gibt es zarte Szenen der Zweisamkeit (mit Jovanotti-Texten), kühne Metaphern, große Worte, affektvolle Taten. Keine hohe Literatur (v.a. bleibt die Gestaltung aller Charaktere recht oberflächlich und schematisch), aber nette Unterhaltung für heiße Sommertage, und das trotz eines sehr ernsten Anliegens, das Cacciapuoti mit seinem Roman verfolgt und die Handlung am Ende dominiert.
Der Roman bietet weder thematische noch sprachliche Schwierigkeiten – Alltagsvokabular, einfacher Satzbau, häufige Reihungen und Wiederholungen – und ist deshalb als Einstieg in italienische Literatur bestens geeignet. Jugendliche ab etwa fünfzehn Jahren und Junggebliebene mit Grundkenntnissen des Italienischen werden das Buch gern lesen.