Eine offene Schatztruhe
Dieses Buch ist vielseitig. Auf fast 400 Seiten stellt es 64 Autoren und fünf Autorinnen aus neun Jahrhunderten mit mindestens einem Werkauszug vor. Lyrik dürfte überwiegen, von Prosa dicht gefolgt, auch Dramenauszüge, essayistische und Sachtexte sind vertreten. Die Sammlung ist ein Gewinn für jeden, der neugierig ist zu erfahren, wie sich die italienische Literatur und Sprache entwickelt haben, dafür aber kein Grundstudium absolvieren, sondern einfach nur komfortabel schnuppern möchte.
Jedem Text sind ein bis zwei Seiten vorangestellt, die ihn einordnen in Werk und Biografie des Autors, in seine Zeit und in den literarischen und gesellschaftlichen Fortgang. Dadurch erhält man einen anschaulichen Abriss über die Entwicklung so bedeutender italienischer Phänomene wie der commedia dell'arte oder des Sonetts durch die Jahrhunderte, über die Verknüpfungen mit literarischen Tendenzen auch in Deutschland und Frankreich (z.B. Romantik, Naturalismus ...) und mit politischen Strömungen (»Risorgimento«, italienische Einigung, Nationalismus ...).
Die wissenschaftlich solide Aufbereitung (einschließlich akademischer Diktion) ist eine Seite des Konzepts dieser Anthologie; gleichzeitig, so erklärt Herausgeber Ludger Scherer im Vorwort, soll »bewusst ein breites Lesepublikum angesprochen werden«, und zwar »alle, die ihr Interesse an der Kultur Italiens auf literarischem Gebiet vertiefen möchten«. Vor allem diesen letztgenannten ›Amateuren‹, die Italienisch einigermaßen zügig, aber nicht problemfrei lesen können, hilft die bewährte Machart von Reclams wundervoller ›Roter Reihe‹ mühelos über sprachliche Hindernisse hinweg. Denn für jeden Text sind alle Wörter, die nicht in Kletts »Thematischem Grund- und Aufbauwortschatz Italienisch« enthalten sind, am Seitenende mit ihrer deutschen Übersetzung angegeben; darüber hinaus werden schwierige Formen erklärt und bisweilen Interpretationshilfen gegeben.
Eine sympathisch unaufdringliche, freundliche Hilfestellung, die belegt, dass man nicht nur ›Profis‹, sondern Lernende im Blick hat, ist die Markierung unerwartet betonter Silben durch einen Punkt unter dem Vokal, selbst im Fließtext – z.B. im Kommentar zum Gedichtband »Oboe sommerso« des Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo (1901-1968).
Studierenden gibt das Buch hilfreiche Orientierung, Fans italienischer Literatur stellt es einen Korb voller Anregungen für den Leseappetit bereit. Darin zu schmökern verschafft nicht nur den Genuss literaturgeschichtlicher Erkenntnis, sondern weckt vielleicht auch die Lust, sich einmal an einen älteren Originaltext heranzuwagen. Dabei stößt man bisweilen auf erstaunliche Bezüge bis in unsere Zeit – man lese etwa die Legende des »Veglio de la Montagna«, des Anführers der Sekte der Assassinen, aus Marco Polos Reisebericht (»Milione«) von 1299 oder Cesare Beccarias Überlegungen zur Todesstrafe in seinem Traktat »Dei delitti e delle pene« von 1764.
Akademische Kreise mögen erörtern, welche Autoren und Texte hätten aufgenommen oder weggelassen werden sollen und ob die Schwerpunkte ›richtig‹ gesetzt sind. Die ›Gegenwart‹ (seit dem 2. Weltkrieg) ist mit dreizehn Autoren und zwei Autorinnen angemessen vertreten, wenngleich viele Leser gerade hier Orientierung über ein weiteres Spektrum suchen mögen. Doch welche jüngeren Autoren haben Zeichen gesetzt, werden die italienische Literatur nachhaltig beeinflussen? Dass Ludger Scherer als Vertreter des 21. Jahrhunderts Niccolò Ammaniti (»Io non ho paura«), Ermanno Cavazzoni (»Gli scrittori inutili«) und Paolo Giordano (»La solitudine dei numeri primi«) für würdig befunden hat, ist ja bereits eine mutige Entscheidung.
All dessen ungeachtet finde ich das Konzept ansprechend und überzeugend umgesetzt: »repräsentative Werke in charakteristischen Auszügen vorzustellen«, dabei »ein möglichst ausgewogenes Bild zu bieten« und für die Textauswahl »das Echo des Werkes in der literarischen Öffentlichkeit« zu berücksichtigen. Da mir der Unterhaltungswert nicht unwichtig ist, gefällt mir die thematische und regionale Breite ebenso wie das Spektrum der Textsorten. Und nebenbei gilt es ein Rätsel zu lösen: Nach welchem Algorithmus sind die Autoren angeordnet? (Es ist nicht ihr Geburtsjahr ...)
Wie viele Sterne verdienen die Texte dieses Buches, wenn nicht alle fünfe? Kein Einzelwerk kann konkurrieren gegen dieses Best of aus den Meisterwerken von Francesco d'Assisi, Dante, Petrarca, Boccaccio, Machiavelli, Ariosto, Tasso, Goldoni, Manzoni, Leopardi, Carducci, D'Annunzio, Pirandello, Deledda, Morante, Tomasi di Lampedusa, Fo, Eco, Tabucchi, Calvino, Benni, Maraini, Ammaniti und Giordano. Deshalb sollen die Texte aus Gründen der Fairness außer Konkurrenz und unbewertet laufen. Fünf Sterne verdient jedoch die einladende Aufbereitung dieser Schätze für »ein breites Lesepublikum«, dem ein bequemer Zugang zur »Kultur Italiens auf literarischem Gebiet« ermöglicht wird, und das obendrein für wenig Geld.