Rezension zu »Morire per una notte« von Giorgio Todde

Morire per una notte

von


Historischer Roman · Maestrale · · Taschenbuch · 234 S. · ISBN 9788864291635
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Die Moderne vor den Toren

Rezension vom 08.07.2016 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Im Januar 1793 nähert sich eine Flotte französischer Kriegs­schiffe der sardischen Haupt­stadt Cagliari und geht außer­halb des Hafens ab­war­tend vor Anker. Was den Caglia­resi jetzt droht, ist allen klar: Belage­rung, Beschuss (bom­barda­mento), Er­obe­rung, eine neue Herr­schaft.

So ein Ereignis war für die Sarden nichts Neues. Seit vielen Jahr­hun­der­ten kamen Schiffe aus allen Him­mels­richtun­gen übers Meer. Etwas Gutes brachten sie den Ein­woh­nern nie, sondern nur eine Fort­set­zung des Be­ste­hen­den: Verdruss, Leid und Unter­jochung. An dem Wenigen, das auf der Insel zu holen war (Salz, Mine­ralien, Metalle, Kohle), bedienten sich die Er­oberer gern, aber ihr Interesse trug nicht so weit, dass sie sich um die Verbes­serung der uralten struktu­rellen und kultu­rellen Ge­geben­heiten bemüht hätten.

Nach Jahrhunderten unter spanischer Herrschaft wurde die Insel Anfang des acht­zehn­ten Jahr­hunderts zum Tausch­objekt. 1714 trat Spanien sie an die Öster­reicher ab, die reichten sie 1720 an den Herzog von Sa­voyen weiter und er­hielten dafür Sizilien. Inter­essant an diesem Geschäft war für die Savoyer einzig und allein, dass es sie zu Königen eines unab­hängi­gen König­reiches beförderte. Deshalb benannten sie ihr Reich nun zwar um in »König­reich Sar­dinien« (oder auch »König­reich Sar­dinien-Piemont«), resi­dierten aber weiter­hin in ihrer Haupt­stadt Turin und kümmer­ten sich in erster Linie um ihre Stamm­lande auf dem Fest­land. (Ein Jahr­hundert später würden sie eine ent­schei­dende Rolle im italie­nischen Einigungs­prozess über­nehmen, 1861 die alten italie­nischen Staaten in das »König­reich Sar­dinien« ein­gliedern und das neue Gebilde »König­reich Italien« taufen.)

Keiner der sardischen Könige ließ sich auf der Insel nieder. Man instal­lierte lediglich einen Vize­könig – zur Zeit der franzö­sischen Belage­rung der ein­äugige Viceré Balbiano – mit ein paar ein­heimi­schen Ver­wal­tungs­beam­ten und einer kleinen Dragoner­truppe.

Was tun angesichts der neuen Bedrohung draußen vor den Hafenmolen? Aus Jahr­hun­der­ten schlechter Er­fah­rungen haben die Sarden Unter­schied­liches gelernt. Seit Urzeiten bestand für die Be­völke­rung eine grund­sätz­liche Lehre darin, sich in die un­weg­samen Berg­regio­nen zurück­zu­ziehen, wohin vor­zu­dringen die Feinde keine Lust ver­spürten. Ange­sichts einer kon­kreten Gefahr wie der fran­zösi­schen Flotte setzen die einen auf ent­schlosse­nen Wider­stand mit den beschei­denen Mitteln ein­heimi­scher Milizio­näre, die rasch aus der Um­gebung zu­sam­men­geru­fen werden können. Die anderen halten es für klüger, sich einer Über­macht einfach zu ergeben und sich in die neuen Herr­schafts­ver­hält­nisse zu fügen, wo diese ja doch nur nomi­nelle Ver­ände­rungen zu zei­tigen pfleg­ten. Diese Taktik hat schon ein paar Mal grö­ßeres Leid erspart (»Un po' di canno­nate, un po' di scoppi e alla porta del molo ave­vano sven­tolato un grande telo bianco ...Poi, dieci anni dopo, ... il gover­natore inglese era scap­pato protetto da una ban­diera bianca. L'unica ban­diera della città ...«).

In Toddes literarischer Darstellung jener Belagerung werden die Details der gut belegten poli­tisch-histo­ri­schen Ereig­nisse nicht ausge­führt. Er beschreibt viel­mehr aus meh­reren Per­spek­tiven, wie maß­gebliche Einzel­personen auf die An­kömm­linge und ihre noch nicht ganz klaren Ab­sichten rea­gieren. Dabei ist Mo­der­nität der Leit­begriff, unter dem die Aus­ein­ander­setzun­gen betrachtet werden. Drei Jahre zuvor hatte die fran­zösi­sche Revo­lution europa­weit eine neue Zeit einge­läutet, und über­all hatten die alten Adels­ge­schlech­ter berech­tigte Angst, dass ihre Herr­schaft bald vorüber sein und es leicht auch ihnen persön­lich an den Kragen gehen könnte. Die Schiffe der re­volu­tio­nären Flotte sig­nali­sier­ten Cagliari, dass »il mondo è arrivato anche qua«, und so lautet die ab­strak­tere Frage, ob man sich davor ver­schließt und weiter­hin seine Rück­stän­dig­keit ver­tei­digt (»Proteggervi dal mondo ...«) oder sich ihr öffnet.

Sind die Franzosen überhaupt Feinde? Der Vizekönig Balbiano weiß natürlich um »la ri­volu­zione, la ghigliot­tina e le teste che roto­lano nel cestino«, aber er spielt die Gefahr herunter. Waren Fran­zosen und Savoyer nicht bis vor kurzem be­freun­det? Wird nicht im ganzen König­reich Sardi­nien franzö­sisch kon­ver­siert, ge­lesen, ge­schnei­dert, kuriert, gekocht und Land­wirt­schaft be­trie­ben? In seinen Augen sind die Sar­den selbst ihre (und seine) größten Feinde: »Unirsi, coaliz­zarsi, confede­rarsi? Mai! L'inimi­cizia è la loro natura, gli dà l'energia e perfino il pane. Si inna­morano per inimi­cizia. Met­tono su famiglia e lavorano sostenuti dall'inimi­cizia.«

Für viele patriotische Sarden wie den gefürchteten und einfluss­reichen Anwalt cavalier Girolamo Pitzolo ist Balbiano nichts als ein Ver­räter (»Una male­dizione per il Viceré Bal­biano!«). Er propa­giert eine wehr­hafte Vertei­digung: »Solo i nostri miliziani abbiamo, solo di loro ci possiamo fi­dare.« Um die Stim­mung im Volk zu mani­pulieren, fädelt er indes noch ganz andere Maß­nah­men ein.

Dem geschickten Diplomaten Val­secchi, Segretario di Stato, obliegt es, zwischen dem Viceré und seinen Unter­tanen zu ver­mit­teln. Er trägt ihm zu, was gli Stamenti, das uralte Parla­ment, das erst­mals seit ein­hun­dert Jahren wieder ein­be­rufen wurde, erörtert haben. Vertreten durch den Arzt Jorge Rajon finden dort selbst die armen Bewohner der bassi Gehör.

Protasio Calebaza, conte di Fraus, hat in erster Linie das Wohl seiner vier ält­lichen Schwes­tern im Auge und will sie auf den Land­gütern der Familie in Sicher­heit bringen. Dafne, Clio, Ifi­genia und Pene­lope, un­ver­heira­tet ge­blieben, aber mit­nichten ohne Kenntnis der Lei­den­schaft, denken jedoch nicht daran, die An­nehm­lich­keiten der Haupt­stadt für »pane con lardo« auf­zu­geben. Lieber wollen sie den Gefahren ins Auge sehen.

Die interessanteste Figur ist giudice Giovanni Angioy, ein aufgeklärter, aufge­schlosse­ner, vorurteils­loser Ratio­nalist, dessen noto­rische skep­tische Wider­spenstig­keit ihm den Bei­namen »l'uomo dei no, no, no« ein­ge­bracht hat. Seine Weit­sicht doku­mentiert sich nicht zuletzt in seinen wirt­schaft­lichen Aktivi­täten: Seine Familie handelt erfolg­reich mit Baum­wolle und Indigo. Was die Fran­zosen betrifft, stellt er der all­gemein vor­herr­schen­den konser­vativen Auf­fassung, sie seien primitive, derbe Um­stürzler (»Rivol­tosi, ri­belli sono!«), ent­gegen, dass sie »rivo­luzio­nari« seien, Boten einer neuen Zeit, Bringer der Moderne. Angioy wählt für sich einen unkon­ventio­nellen, durchaus nicht unum­stritte­nen Weg. Was objektiv Verrat ist, ist in seinen Augen ein Akt der Befrei­ung, der Öff­nung seines ver­kruste­ten, abge­legenen Insel­reichs, um dessen Wohl­ergehen sich nicht einmal seine eigene Herr­schaft kümmert.

Auf der anderen Seite des Wassers späht Admiral Laurent Truguet durch sein Fernrohr auf die Bastionen der Stadt, die er be­schießen und ein­nehmen soll. Im Herbst haben die Ge­brüder Joseph und Claude Niépce bei ihm ange­heuert. Die beiden jungen Zeichner und Maler aus dem Norden Frank­reichs haben ihre geruh­same länd­liche Heimat verlassen, um der Sache der »flotta rivolu­ziona­ria« als Bericht­er­statter zu dienen. Joseph Niépce (eine reale histo­rische Persön­lich­keit wie meh­rere andere der Roman­figuren) ist ein wei­te­rer Symbol­träger der Moderne, denn er experi­mentiert mit aller­lei Chemi­kalien, um flüchtige optische Ein­drücke zu ver­ewigen. Wenn er fünf Jahre nach seiner mili­täri­schen Mission als Privat­mann nach Cagliari zurück­kehrt, wird er große Fort­schritte in der jungen Kunst der Foto­grafie gemacht haben.

Die Abstraktion, unter der Todde die Ereig­nisse von 1793 betrachtet, als ›das Neue‹ und sehr alte Herr­schafts- und Gesell­schafts­struk­turen in exem­plari­scher Weise auf­ein­ander­treffen, wird durch eine Reihe von Neben­hand­lun­gen er­wei­tert und er­gänzt, in denen auch Frauen eine Rolle spielen, wie Gala­tea Ruju, Geliebte von Giro­lamo Pitzolo und – für eine ein­zige Nacht – von Joseph Niépce, oder die sech­zehn­jäh­rige Dienst­magd Bona­catta Murellu, die als Sünden­bock zum be­dauerns­werten Opfer einer üblen Intrige wird. In den zwischen­mensch­lichen Be­zie­hun­gen findet der Roman seine Erdung, sie ver­leihen ihm Farbe und Herz – aber nur in be­scheide­nem Maße Wärme.

Toddes Darstellungsweise ist eigenwillig und reizvoll. Selbst die militärischen Stra­tegien und kriege­ri­schen Aus­einander­setzun­gen werden nicht einfach dialo­gisch ent­wickelt, sach­lich referiert oder span­nungs­geladen erzählt, sondern vielfach poetisch verkleidet.

Giorgio Todde – im Brotberuf Augenarzt – ist kein Fabulierer der kon­ventio­nellen unter­halt­samen Art. Sein Stil ist knapp, auf den Punkt formu­liert. Oft genügen ihm Andeu­tungen. In diesem trocken an­muten­den Rahmen aber gelin­gen ihm poe­tische Glanz­stücke der Bild­lich­keit. Das Gesamt­konzept aus Symbo­lismen (Leben und Tod, Moder­nität und Rück­ständig­keit) und Poetik ist kon­sequent durch­konstruiert. Ein schönes Beispiel ist der para­bolische Flug einer schweren Geschoss­kugel, deren voraus­be­rech­nete Bahn bis in die höchsten Spitzen der steil auf­ragen­den Stadt Cagliari reicht und dort ent­schei­dende Schäden ver­ur­sacht.


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