La scatola di cuoio
von Gianni Spinelli
Als der mysteriöse ›Heilige‹ Don Pantaleo ums Leben kommt, erbt seine Haushälterin, die angeheiratete Nichte Marta, all seine Güter. Jetzt hat sie ein Problem: Wem soll sie ihren Reichtum vermachen? Ihre vielgliedrige Familie und das ganze Dorf fiebert mit. Auch der Polizei stellen sich Fragen.
Das Glück ist mit den Dreisten
Kaum jemand hat ihn jemals zu Gesicht bekommen, aber jeder in San Clemente weiß etwas zu seiner Fama beizutragen. Don Pantaleo, so heißt es, sei ein hohes Tier (»Provinciale« «) im Kapuzinerorden. So residiert er (der als Einziger die Wahrheit kennt) am Rand des Dorfes in dem weitläufigen Anwesen, das ihm eine wohlhabende fromme Gönnerin vermacht hat, auf dass er (»il santo«) für ihr Seelenheil bete, und das seither als »il convento di don Pantaleo« firmiert. »Convento«? Abgesehen von don Pantaleo hat es nur ein einziges Mal einen Mitbruder beherbergt, und das nur für ein paar Tage, und das ist lange her.
Die anderen vier Hausbewohner sind sein Neffe Giuseppe und dessen Frau Marta sowie Lina, die Jüngste und Lebhafteste, und ihr Mann Onofrio. Die beiden verrichten die niederen Arbeiten und nutzen die wenigen ihnen verbleibenden Spielräume, so gut sie können. Marta, von üppigem Format und Haarwuchs (selbst im Gesicht), ist die eigentliche Herrin im Haus. Die »campionessa della finzione« hält alle Fäden in der Hand. Don Pantaleos Aura bedingungslos ergeben, preist sie ihn unentwegt, dabei stets die Festigung ihres eigenen Status in Haus und Dorf im Hinterkopf. Kritische Nachfragen erstickt sie im Ansatz. Ihr schläfriger Ehemann Giuseppe hält sich die meiste Zeit schweigend zurück, denn er hat ohnehin rein gar nichts zu sagen. Don Pantaleo hatte die Partie einst eingefädelt, und Giuseppe hatte aus Bequemlichkeit und Schwäche eingewilligt.
Zugang zum exklusiven Inneren genießen allein die Honoratioren und Akademiker der Umgebung, wenn sie in schöner Regelmäßigkeit zusammenkommen, um sich an festen und flüssigen Köstlichkeiten zu ergötzen und Don Pantaleos salbungsvollen Ausführungen zu huldigen.
In Gang kommt die Handlung mit dem Tod des Provinciale. Lina findet ihn am Morgen des 5. Februar 1959 an seinem Schreibtisch, gebeugt über einen geöffneten Kasten, außen mit Leder bezogen und innen mit rotem Tuch ausgekleidet. Was es mit dieser »scatola di cuoio« auf sich hat, ist ein wasserdicht gehütetes Geheimnis und wird erst kurz vor Schluss aufgedeckt. Bis dahin müssen wir uns mit Martas so stimulierender wie nebulöser Andeutung zufriedengeben: »In quella scatola c’è un aggeggio … Si accende e appaiono cose strane«.
Nicht besser als uns ergeht es Antonio, dem Ehemann von Martas Nichte Margherita. Seit er den Kasten erstmals erblickt hat, ist das schlichte Gemüt besessen von dem Wunsch, ihn zu besitzen. In greifbare Nähe rückt die Erfüllung nach Martas Tod genau zehn Jahre nach dem von don Pantaleo, der seine treueste Unterstützerin zu seiner Alleinerbin gemacht hatte. Während nun Martas Hinterbliebene auf Häuser, Ländereien und Finanzen geiern, stürzt sich Antonio auf »la scatola« und ist fortan zufrieden. Dass er mit seiner naiven Wahl Margheritas letztes bisschen Respekt verspielt hat, schert den »povero deficiente« nicht.
Thema der heiteren Geschichte um das Kästchen und andere Geheimnisse ist, wie das Klima in dieser scheinheiligen Sippe durch Geiz, Habsucht, Verblendung und Intrigen über zwei Jahrzehnte vergiftet wird. Auch die beiden Dorfpolizisten, ein sensationsgieriger Zeitungs-Schreiberling und natürlich die tratschsüchtigen Einwohner von San Clemente, einem vergessenen Örtchen »a quasi trenta chilometri da Matera«, mischen kräftig mit.
Es gibt eine ganze Reihe von Handlungssträngen, die teils aufeinander folgen, teils miteinander verflochten sind: Das von Legenden umwobene Leben des undurchsichtigen don Pantaleo in seiner abgeschotteten Residenz und die Machenschaften seines Personals, die Rätsel seines Todes, die verbissene Suche seiner Alleinerbin Marta nach der richtigen Erbin ihres gewaltigen Reichtums und die fiesen Tricks der Kandidatinnen, schließlich, nach ihrem Tod, das unwürdige, hartnäckige Gerangel um ihr Testament. Das ist eine Menge Stoff, der leider ziemlich zerfasert.
Die Vielfalt der Themen und Elemente unterhält gut, aber wer auch einen gestalterischen Gesamteindruck wünscht, wird enttäuscht. Denn auch literarisch-stilistisch agiert der Autor auf mehreren Klaviaturen. Der Grundton ist die leichte Ironie, mit der er seine Figuren begleitet. Das passt, denn kaum eine von ihnen ist sympathisch oder wenigstens nett und aufrichtig oder fügt sich sonst irgendwie in ein Konzept mit relevanter Aussage. Über weite Strecken ist man an die traditionelle Erzählweise von Schwänken oder Schelmenromanen erinnert, dann wiederum folgen nüchtern zusammenfassende Berichte, Zitate (aus welcher Quelle bleibt offen) und Protokollpassagen. Etliche Male streicht Spinelli die Spannungssaite: Er wirft Krimifragen auf, will es ein bisschen unheimlich werden lassen, doch all diese Kurven schwingen nicht hoch. Für eine schwarze Komödie fehlen Witz und Drastik. Insgesamt bleibt die Erzähltechnik distanziert: Der Erzähler »sagt« alles (so dass wir es zur Kenntnis nehmen), stellt es aber nicht szenisch dar (so dass wir mitfiebern können).
Gianni Spinelli ist ein vielseitiger Journalist und hat bereits eine Handvoll Bücher verfasst. Seine »Scatola di cuoio« ist durchaus nette, leichte Urlaubsunterhaltung mit Sechzigerjahre-Flair, die den Leser am Strand immer wieder schmunzeln lässt (»la leggerezza di un elefante«, »una sofferenza ostentata a 360 gradi« …). Was die Verlagsankündigung an Vielseitigkeit, Tiefe und Gehalt erhoffen lässt, löst sie leider nicht ganz ein.