Taceranno anche i passeri
von Gianni Mattencini
Ein kleiner Angestellter der Ferrovia dello Stato begeht Selbstmord. Weder hat er einen Grund hinterlassen noch gibt es Anzeichen für ein Verbrechen. Was spricht dagegen, den Fall ad acta zu legen? Doch einige Privat- und Amtspersonen haben Gründe, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen – und sie entdecken ein weites Feld.
Ein verborgenes Leben
Gaetano Innamorato ist ein unauffälliger, akkurater Mensch, dem die Respektierung der Privatsphäre wichtig ist. Seinen beiden Arbeitskollegen im anonymen Büro der Eisenbahnverwaltung in Bari ist er ein Fremder geblieben. Dort ordnet der Angestellte untergeordneten Ranges jeden Abend pedantisch seine Schreibtischutensilien oder schließt sie in die Schublade. Ebenso sorgsam und einsam wägt er Ort, Zeit und Umstände seines letzten Aktes ab: sich aufzuhängen. In was für eine ausweglose Notlage muss er geraten sein? Eine Nachricht zu hinterlassen erscheint ihm unangemessen, ist er sich doch keiner emotionalen Bindungen an Verwandte oder Freunde bewusst. Alle Rechnungen seien ausgeglichen, befindet er. Selbst um das rechte Maß an Schnur, das er für seinen privaten Zweck abschneidet, macht er sich Gedanken, denn das Gebinde ist Eigentum der Staatsbahnen. Bedacht auf Korrektheit in allem – seiner Erscheinung, seiner Zweizimmerwohnung, seiner Arbeit, seiner Schrift und folgerichtig auch auf einen makellosen Eindruck post mortem – beendet der Dreiundvierzigjährige am 27. April 1926 (einem Dienstag) um 17 Uhr 25 sein Leben.
So stellt uns Gianni Mattencini, Richter und Schriftsteller aus Bari, im ersten Kapitel seines neuen Romans dessen zentrale Figur vor (die danach nur noch in Rückblenden auftritt). Wieder zeigt sich Mattencinis Meisterschaft in mehreren Registern, wie sie mich im Vorgängerroman »L’onore e il silenzio« überzeugt hat [› Rezension]. Der Erzähler formuliert mit reichem Wortschatz, treffsicherer Präzision und ausgefeilter Differenziertheit aus Innamoratos Perspektive und wahrt doch eine eigenartige Distanz, die bisweilen nach Ironie schmeckt. Die Mischung entsteht durch den Wechsel zwischen Innamoratos nüchterner Gedankenwelt und lebhaft-anschaulicher Beschreibung des Geschehens ›draußen‹ (Abendstimmung in den Straßen der Stadt), Kaskaden der Metaphorik und punktueller poetischer Überhöhung (traumähnliche oder delirierende Sequenzen) und natürlich durch Verrätselung (dies ist schließlich ein Kriminalroman). Insgesamt finden wir uns in einer abgekühlten Stimmung der Verlorenheit, die an Kafka erinnert, andererseits spielt der Erzähler mit einer übersteigerten Sensibilität des Selbstmörders in seinen letzten Stunden, wie sie Edgar Alan Poe (»The Tell-Tale Heart«) oder Ambrose Bierce (»An Occurrence at Owl Creek Bridge«) als tragendes Motiv ausgestaltet haben.
Wie geht es weiter? Nichts an Gaetano Innamorato ist auffällig, nichts an seinem Suizid, und schon gleich nichts von juristischer Relevanz. Er war drei Jahre zuvor aus den Marken, seiner Heimat, nach Bari abgeschoben worden, weil er mit der Gattin seines Vorgesetzten angebandelt haben soll, und lebte seither als Mann ohne Eigenschaften und ohne soziale Beziehungen, ein winziges Rädchen im System der Materialbeschaffung für den Bau neuer Eisenbahnstrecken.
Dienstliche Aufgaben hatten ihn zuletzt in die Werkstätten der Ferrovia dello Stato geführt, wo er hochoffiziell ein Knäuel stabilen Seils auslieh. Das ungewöhnliche Ansinnen an einem Ort, wo Schwellen, Weichen, Schienen und gewaltige Stahlträger bereitgestellt werden, erregte die Verwunderung einiger Arbeiter. Es sind ehrliche, tüchtige Männer, der eine eher ängstlich, der andere mutig, wieder ein anderer etwas schwerfällig von Begriff, und jeder hat seine persönlichen Sorgen mit der Familie, mit der Gesundheit, mit dem Geld. In Kürze soll das eingespielte Team unter Leitung ihres souveränen und klugen caposquadra Gennaro Loiacono zu einer neuen monatelangen Brückenbau-Mission ins Landesinnere aufbrechen. Dem caporeparto, dem fähigen ingegner Leonardo Spagnolo, kann es nicht schnell genug gehen, einen Verzug kann er nicht zulassen. Ihnen allen liegt im Übrigen noch der Kriminalfall auf der Seele, der sich zwei Jahre zuvor mitten unter ihnen ereignet hatte und in »L’onore e il silenzio« erzählt wird. Diese fatti di Borgodivalle werden in diesem Band nur angedeutet, um verständlich zu machen, welch vielfältige Sorgen die Männer bedrücken, als sie hinsichtlich Innamoratos Arbeit und wegen des Seils von den Polizeibehörden verhört werden.
Selbstverständlich müssen Polizei und Staatsanwaltschaft pflichtgemäß den Tatort und das Leben des Toten untersuchen. Da ihnen nichts auffällt, womit sie sich Lorbeeren verdienen könnten, rät der zuständige sostituto procuratore del re seinem vorgesetzten Behördenleiter kurz und bündig, die Akten zu schließen. Aber »i carabinieri domandano e sospettano, i magistrati leggono verbali e sospettano, i colleghi nel corridoio parlucchiano fra loro e sospettano, i benpensanti leggono i quotidiani e sospettano. Fanno tutti il loro mestiere«, und so muss man immer wieder neu aufkommenden Fragen nachgehen. Die Erörterungen über das sinnvolle weitere Vorgehen nehmen bei den Arbeitern und in den Behörden einen breiten Raum ein. Stehen bei Ersteren private Anliegen und Hemmnisse im Vordergrund, werden die Argumente und Motive der Beamten unter präziser Berücksichtigung der Hierarchien und persönlichen Motive mit feiner Ironie serviert, so dass auch diese Personen zu differenzierten Charakteren werden.
Jedenfalls entdecken die verschiedenen Gruppen ganz unerwartete Seiten des Innamorato – und auch in ihren Kreisen (hier Näheres zu enthüllen wäre unfair). Von Anfang an versteckt der Autor feinsinnige Vorausdeutungen, die erst beim zweiten Lesen der ersten Seiten ins Auge fallen. Danach häufen sich Indizien und Stichwörter, die ab der Mitte des Buches nahelegen, wo der Schlüssel der Auflösung zu suchen sein wird. Bis dahin sind jedoch so viele Handlungsstränge aufgespannt, dass sich das Interesse des Lesers in der zweiten Hälfte vor allem auf die Charaktere, ihre Weiterentwicklung und ihre Beziehungen richtet. Das macht den Roman insgesamt eher zu einer psychologischen Studie als zu einem spannenden kriminalistischen Rätsel.
Auf der überindividuellen Ebene stehen die erzählten Verstrickungen, Verirrungen und illegalen Praktiken in sinngebendem Bezug zu den Verheißungen des neuen politischen Regimes. Benito Mussolini, seit 1922 Ministerpräsident des Königreichs Italien, hat binnen vier Jahren eine faschistische Diktatur etabliert, die alle Ebenen des Landes im Griff zu haben glaubt. Dazu diente auch die Einführung neuer Aufgaben und Instanzen der Gerichtsbarkeit. Kein Wunder, dass der ehrgeizig taktierende sostituto procuratore del re seine Gegenwart als chancenreiche Zeit des Umbruchs begreift: »Aprire le strade, le porte, le finestre. Fare entrare aria nuova!«. Das Regime beschwört Sauberkeit und Transparenz in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Was die Handlung des Romans offenbart, ist, dass indes uralte menschliche Schwächen und Bräuche überleben: Habgier, die Ausbeutung Schwächerer, Untreue, mangelndes Mitgefühl, Scharlatanerie, Eifersucht, Zügellosigkeit ...