Rezension zu »Taceranno anche i passeri« von Gianni Mattencini

Taceranno anche i passeri

von


Ein kleiner Angestellter der Ferrovia dello Stato begeht Selbstmord. Weder hat er einen Grund hinterlassen noch gibt es Anzeichen für ein Verbrechen. Was spricht dagegen, den Fall ad acta zu legen? Doch einige Privat- und Amtspersonen haben Gründe, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen – und sie entdecken ein weites Feld.
Kriminalroman · Les Flaneurs Edizioni · · 224 S. · ISBN 9791254510810
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Apulien

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Ein verborgenes Leben

Rezension vom 19.08.2022 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Gaetano Innamorato ist ein unauffälliger, akkurater Mensch, dem die Respek­tierung der Privat­sphäre wichtig ist. Seinen beiden Arbeits­kollegen im anonymen Büro der Eisen­bahn­verwal­tung in Bari ist er ein Fremder geblieben. Dort ordnet der Ange­stellte unter­geord­neten Ranges jeden Abend pedan­tisch seine Schreib­tisch­utensi­lien oder schließt sie in die Schublade. Ebenso sorgsam und einsam wägt er Ort, Zeit und Umstände seines letzten Aktes ab: sich aufzu­hängen. In was für eine ausweg­lose Notlage muss er geraten sein? Eine Nachricht zu hinter­lassen erscheint ihm unan­gemes­sen, ist er sich doch keiner emotio­nalen Bindungen an Verwandte oder Freunde bewusst. Alle Rech­nungen seien ausge­glichen, befindet er. Selbst um das rechte Maß an Schnur, das er für seinen privaten Zweck abschnei­det, macht er sich Gedanken, denn das Gebinde ist Eigentum der Staats­bahnen. Bedacht auf Korrekt­heit in allem – seiner Erschei­nung, seiner Zwei­zimmer­wohnung, seiner Arbeit, seiner Schrift und folge­richtig auch auf einen makel­losen Eindruck post mortem – beendet der Dreiund­vierzig­jährige am 27. April 1926 (einem Dienstag) um 17 Uhr 25 sein Leben.

So stellt uns Gianni Mattencini, Richter und Schrift­steller aus Bari, im ersten Kapitel seines neuen Romans dessen zentrale Figur vor (die danach nur noch in Rück­blenden auftritt). Wieder zeigt sich Matten­cinis Meister­schaft in mehreren Registern, wie sie mich im Vor­gänger­roman »L’onore e il silenzio« überzeugt hat [› Rezension]. Der Erzähler formu­liert mit reichem Wort­schatz, treff­sicherer Präzision und ausge­feilter Differen­ziertheit aus Innamo­ratos Perspek­tive und wahrt doch eine eigen­artige Distanz, die bisweilen nach Ironie schmeckt. Die Mischung entsteht durch den Wechsel zwischen Innamo­ratos nüch­terner Gedanken­welt und lebhaft-anschau­licher Beschrei­bung des Gesche­hens ›draußen‹ (Abend­stimmung in den Straßen der Stadt), Kaskaden der Meta­phorik und punk­tueller poeti­scher Über­höhung (traum­ähnliche oder delirie­rende Sequenzen) und natürlich durch Verrät­selung (dies ist schließ­lich ein Kriminal­roman). Insgesamt finden wir uns in einer abge­kühlten Stimmung der Verloren­heit, die an Kafka erinnert, anderer­seits spielt der Erzähler mit einer über­steiger­ten Sensi­bilität des Selbst­mörders in seinen letzten Stunden, wie sie Edgar Alan Poe (»The Tell-Tale Heart«) oder Ambrose Bierce (»An Occur­rence at Owl Creek Bridge«) als tragendes Motiv ausge­staltet haben.

Wie geht es weiter? Nichts an Gaetano Innamo­rato ist auffällig, nichts an seinem Suizid, und schon gleich nichts von juristi­scher Relevanz. Er war drei Jahre zuvor aus den Marken, seiner Heimat, nach Bari abge­schoben worden, weil er mit der Gattin seines Vorge­setzten ange­bandelt haben soll, und lebte seither als Mann ohne Eigen­schaften und ohne soziale Bezie­hungen, ein winziges Rädchen im System der Material­beschaf­fung für den Bau neuer Eisenbahn­strecken.

Dienstliche Aufgaben hatten ihn zuletzt in die Werk­stätten der Ferrovia dello Stato geführt, wo er hoch­offiziell ein Knäuel stabilen Seils auslieh. Das unge­wöhn­liche Ansinnen an einem Ort, wo Schwellen, Weichen, Schienen und gewaltige Stahl­träger bereit­gestellt werden, erregte die Verwun­derung einiger Arbeiter. Es sind ehrliche, tüchtige Männer, der eine eher ängstlich, der andere mutig, wieder ein anderer etwas schwer­fällig von Begriff, und jeder hat seine persön­lichen Sorgen mit der Familie, mit der Gesund­heit, mit dem Geld. In Kürze soll das einge­spielte Team unter Leitung ihres souve­ränen und klugen capo­squadra Gennaro Loiacono zu einer neuen monate­langen Brücken­bau-Mission ins Landes­innere auf­brechen. Dem capo­reparto, dem fähigen ingegner Leonardo Spagnolo, kann es nicht schnell genug gehen, einen Verzug kann er nicht zulassen. Ihnen allen liegt im Übrigen noch der Krimi­nalfall auf der Seele, der sich zwei Jahre zuvor mitten unter ihnen ereignet hatte und in »L’onore e il silenzio« erzählt wird. Diese fatti di Borgo­divalle werden in diesem Band nur ange­deutet, um verständ­lich zu machen, welch viel­fältige Sorgen die Männer bedrücken, als sie hinsicht­lich Innamo­ratos Arbeit und wegen des Seils von den Polizei­behörden verhört werden.

Selbstverständlich müssen Polizei und Staats­anwalt­schaft pflicht­gemäß den Tatort und das Leben des Toten unter­suchen. Da ihnen nichts auffällt, womit sie sich Lorbeeren verdienen könnten, rät der zustän­dige sostituto procu­ratore del re seinem vorge­setzten Behörden­leiter kurz und bündig, die Akten zu schließen. Aber »i cara­binieri domandano e sospet­tano, i magis­trati leggono verbali e sospet­tano, i colleghi nel corridoio parluc­chiano fra loro e sospet­tano, i benpen­santi leggono i quoti­diani e sospet­tano. Fanno tutti il loro mestiere«, und so muss man immer wieder neu aufkom­menden Fragen nachgehen. Die Erörte­rungen über das sinnvolle weitere Vorgehen nehmen bei den Arbeitern und in den Behörden einen breiten Raum ein. Stehen bei Ersteren private Anliegen und Hemmnisse im Vorder­grund, werden die Argumente und Motive der Beamten unter präziser Berück­sichti­gung der Hierar­chien und persön­lichen Motive mit feiner Ironie serviert, so dass auch diese Personen zu differen­zierten Charak­teren werden.

Jedenfalls entdecken die verschiedenen Gruppen ganz uner­wartete Seiten des Innamo­rato – und auch in ihren Kreisen (hier Näheres zu enthüllen wäre unfair). Von Anfang an versteckt der Autor fein­sinnige Voraus­deutun­gen, die erst beim zweiten Lesen der ersten Seiten ins Auge fallen. Danach häufen sich Indizien und Stich­wörter, die ab der Mitte des Buches nahelegen, wo der Schlüssel der Auflösung zu suchen sein wird. Bis dahin sind jedoch so viele Hand­lungs­stränge aufge­spannt, dass sich das Interesse des Lesers in der zweiten Hälfte vor allem auf die Charak­tere, ihre Weiter­entwick­lung und ihre Bezie­hungen richtet. Das macht den Roman insgesamt eher zu einer psycho­logi­schen Studie als zu einem span­nenden krimi­nalisti­schen Rätsel.

Auf der überindividuellen Ebene stehen die erzählten Verstri­ckungen, Ver­irrungen und illegalen Praktiken in sinn­geben­dem Bezug zu den Verhei­ßungen des neuen politi­schen Regimes. Benito Mussolini, seit 1922 Minister­präsi­dent des König­reichs Italien, hat binnen vier Jahren eine faschis­tische Diktatur etabliert, die alle Ebenen des Landes im Griff zu haben glaubt. Dazu diente auch die Einfüh­rung neuer Aufgaben und Instanzen der Gerichts­barkeit. Kein Wunder, dass der ehrgeizig taktie­rende sostituto procu­ratore del re seine Gegenwart als chancen­reiche Zeit des Umbruchs begreift: »Aprire le strade, le porte, le finestre. Fare entrare aria nuova!«. Das Regime beschwört Sauber­keit und Trans­parenz in allen zwischen­mensch­lichen Bezie­hungen, sowohl im öffent­lichen als auch im privaten Bereich. Was die Handlung des Romans offen­bart, ist, dass indes uralte mensch­liche Schwächen und Bräuche über­leben: Habgier, die Ausbeu­tung Schwä­cherer, Untreue, man­gelndes Mitgefühl, Scharla­tanerie, Eifer­sucht, Zügel­losig­keit ...


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