Verkaufte Kinder
Kaum vorstellbar ist die Armut, die in weiten Landstrichen Italiens nach dem Krieg herrschte, ehe der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte. Mutige junge Menschen verließen ihre Heimat, um in der Poebene oder jenseits der Alpen in Landwirtschaft und Industrie auszuhelfen und ihre Familien zu Hause mit dem verdienten Geld zu unterstützen. Die Geschichte dieser »Gastarbeiter« im In- und Ausland ist gut erforscht und mehrfach erzählt (zuletzt von Marco Balzano, Gewinner des Premio Campiello 2015 [› Rezension]).
Kaum bekannt ist jedoch, dass viele verelendete Familien in ihrer Not keinen anderen Ausweg wussten, als ihre eigenen Söhne und Töchter wegzugeben. Weil sie sie selbst nicht mehr ernähren konnten, vertrauten sie sie katholischen Ordensschwestern an. Doch fanden die Kinder in den Konventen oft keineswegs die erhoffte Fürsorge und fromme Nächstenliebe, sondern noch erbärmlichere Lebensbedingungen als in den Familien, dazu Herzenskälte und strenge Disziplinierung.
Der junge Autor Francesco Formaggi (1980 in der Provinz Frosinone geboren) hat in seinem Roman »Il cortile di pietra« ein solches Kinderschicksal gestaltet – anrührend, aber ohne jede Rührseligkeit. Im Mittelpunkt der Handlung, die sich nur über ein paar Monate erstreckt, steht der sechsjährige Pietro, ein freundliches, aufgewecktes, neugieriges Kerlchen. Seine blühende, manchmal makabre Fantasie kann ihm zur Belastung werden, wenn ihn bei seinen Streifzügen durch enge Gassen und vorbei an halboffenen Toreingängen die Schauergeschichten heimsuchen, die man sich über die Ungeheuer in Menschengestalt hinter den Mauern und finsteren Öffnungen erzählt. Jegliches Dunkel ist für ihn von Ängsten besetzt.
Die Geschichte beginnt mit einigen Szenen aus Pietros kindlichem Alltag mit seiner bitterarmen Familie (eine schwer kranke Mutter, ein strenger, leicht zu erzürnender Vater), den Freunden (Spielkameraden und ältere Bullies) und der nachbarschaftlichen Umgebung. Vollkommen unerwartet und unerklärlich fängt ihn eines Tages ein emotionsloser Mann (»l'ispettore«) ein wie einen streunenden Hund und bringt ihn, ohne dass er seine Eltern noch einmal zu Gesicht bekäme, auf seinem Pferdewagen fort. In seinem Haus kümmert sich seine Frau zärtlich und einfühlsam um das Kind, und dies wird für längere Zeit die einzige warmherzige Fürsorge bleiben, die Pietro zuteil wird. Wenig später bringt l'ispettore den Jungen zu einem Kloster (»collegio«), wo er ihn wie eine bestellte Ware abliefert und seinen Lohn einstreicht.
Der Hauptteil des Romans erzählt nun, wie Pietro in das eiserne Reglement dieses Instituts eingepasst wird. Es geht dabei einzig und allein um Unterwerfung, die Brechung jeglichen individuellen Willens, die Einhaltung starrer Routinen vom morgendlichen Toilettengang über die Arbeiten in Haus und Garten und die rituellen Gebete bis zum Schlafengehen. Durch Einschüchterung und körperliche Züchtigung (Nahrungsentzug, Peitschenhiebe, Wegsperren) disziplinieren die Nonnen die ihnen anvertrauten Kinder. »Se le suore lo scoprivano erano guai,« lautet eine Standardformel in deren Unterhaltungen.
Die meisten Jungen ertragen widerstandslos die Isolation, die Demütigungen, die im eisigen Winter unzureichende Einheitskleidung (»una casacca bianca di tela sfilacciata«), den zugigen Schlafsaal, den Schmutz, die ekligen hygienischen Zustände, die schlechte Ernährung, Krankheiten und Sterben in ihrer Mitte. Ein paar Größere verschaffen sich Vorteile, indem sie mit ihren Cliquen die Schwächeren unter Druck setzen. An Flucht denkt kaum einer, denn die wenigen Versuche haben den schnell wieder eingefangenen Jungen nichts als grausame Strafen eingehandelt.
Einer von denen, die den Ausbruch versucht haben (sogar mehrfach), ist Mario, ein Jahr älter, aber fragiler als Pietro. Trotz der durchlittenen brutalen Sanktionen will er sich weder beugen noch von seinen Fluchtplänen lassen. Der rebellische Geist, von den Schwestern als »la peste« gehasst, erkennt im Neuankömmling Pietro verwandte Züge und wird zu seinem Beschützer und Freund. Der Jüngere vertraut ihm seinerseits an, was ihn bewegt und was er bei seinen Expeditionen im Klostergelände Geheimnisvolles entdeckt. Gemeinsam wagen sie sich auf riskante nächtliche Unternehmungen, bei denen Pietro seine Ängste nur mit Mühe im Zaum hält, und entwickeln schließlich einen tollkühnen Fluchtplan.
All dies wird im Wesentlichen aus Pietros kindlicher, sensibler, nur behutsam literarisch-poetisch gestalteter Sicht erzählt. Für kurze Passagen wechselt die Perspektive, um das Innenleben anderer Figuren offenzulegen, insbesondere diverser Nonnen. Denn die Schwesternschaft ist kein homogener Block. Unter ihnen sind gleichgültige, missgünstige, herrschsüchtige und sadistische Frauen, aber auch solche, die unter den Zuständen nicht weniger leiden als die Kinder, jedoch ebenso wie diese gefangen sind. So wird Pietro in heimtückische Fallen gelockt, erfährt aber auch heimliche Zuwendung und erstaunliche Hilfe.
Das letzte Drittel des Romans führt neue Personen ein. Leo, ein verwitweter Bauer und Hirte, und sein Sohn Tommaso (einige Jahre älter als Pietro) sind die wichtigsten Gegenpole zum ispettore und den Nonnen. Ihr mitfühlendes Wesen, ihr freies Denken, die Entscheidungen, die sie treffen müssen, und ihr Tun verleihen der Problematik tiefere, komplexere Dimensionen. Die Handlung nimmt bis zum erschütternden Schluss spannende Wendungen (»Stia attento agli uomini che non hanno più niente da perdere.«), und sogar der symbolträchtige Titelbegriff erhält neue Bedeutung.
Nach »Il casale« [› Rezension] ist dies Francesco Formaggis zweiter Roman. Er hat nur noch wenig von der etwas gesuchten, morbiden Exzentrizität des Erstlings, wohl aber dessen literarische Qualitäten. Ihnen ist es zu verdanken, dass uns die geradlinige, auf weite Strecken unspektakuläre Handlung im begrenzten Raum und mit wenig Personal keineswegs unberührt lässt. Formaggis Kunst der Figurenzeichnung hat mit Pietro und Mario zwei Protagonisten geschaffen, die Kindlichkeit und starke Charakterzüge vereinen und die durch ihre Abenteuer mit unterschiedlichen Menschen zu runden, verantwortungsvollen Persönlichkeiten reifen. Die meisten Erwachsenen werden hingegen in nur wenigen Eigenschaften beleuchtet, soweit es ihre Funktionalität im Plot erfordert.
Diese Selbstbeschränkung gilt übrigens auch für die Gestaltung des Settings. Es ist Winter, wohl kurz nach dem Krieg, wohl in den nördlichen Regionen Italiens. Genauere Anhaltspunkte zu Ort und Zeit gibt es nicht. Die Landschaftsbeschreibungen bieten kaum mehr als Topoi: die hohe Umfassungsmauer, die leeren Bienenstöcke, der Olivenbaum mit dem eingeritzten Pferdchen, die liebliche Wiese, die Schäferhütte, die sich windende strada bianca, das verbrannte Land, ein Graben ...
Der Vergleich mit Romanen und Filmen über ähnliche Zustände in Irland liegt nahe, doch beschränkt sich die Schnittmenge auf Äußerlichkeiten und Herrschaftsmethoden in solchen Instituten. Formaggis Interesse ist, zu verstehen, was in den Menschen vorgeht, die solch ein System betreiben oder ihm ausgeliefert sind. Bei seinen Recherchen musste er feststellen, dass das Phänomen, so verbreitet es in ganz Italien war, kaum dokumentiert ist. Weil es nur die Ärmsten der Armen betraf? Weil die Kinder wie auch ihre Eltern ganz andere Sorgen hatten, als ihr Leiden zu formulieren? Weil niemand Interesse daran hatte, Licht in das Treiben in den Klöstern zu bringen? Dabei hat Tommaso von seinem Vater gelernt, dass »non c'era cosa peggiore della viltà, e della paura che immobilizza, e non c'era uomo peggiore di chi chiude gli occhi davanti alle nefandezze«.