Francesco schliddert ins Verderben
Francesco schwant nichts Gutes. Die Fahrt über enge Sträßchen durch die liebliche Landschaft in flirrender Sommerhitze strengt ihn an. Lieber würde er die wohltuende Leere der Stadt genießen. Aber Giulia, mit der er seit einem halben Jahr zusammenlebt, war begeistert, als zia Ester und zio Franco sie für ein paar Tage auf ihr Anwesen einluden. Seit Jahren hatte sie das kinderlose Ehepaar nicht mehr gesehen, und sie schwärmte von dem großen Gutshof, umgeben von Feldern,Wäldern und unberührter Natur. Francesco fügte sich: »Godiamoci al meglio questa settimana.«
Während er so grübelt, gleitet sein Blick zur schlafenden Beifahrerin hinüber, deren nackte Füße auf dem Armaturenbrett ruhen. Nie zuvor ist ihm aufgefallen, dass ihr großer Zeh hässlich verunstaltet ist: »prorompe sopra la morbidezza affusolata di quei piedini come un urlo barbarico quanto tutto intorno è silenzio. È un alluce enorme, gonfio, tozzo, quasi brutale ... sproporzionato, inappropriato, fuorviante ... Mi venne la nausea.«
Brechreiz wird ihn noch öfters überkommen. Denn fortan ist nichts, wie es einmal war. Francesco mag Giulia nicht mehr anschauen, fürchtet weitere Entstellungen entdecken zu müssen. Ihr unansehnlicher dicker Zeh erscheint ihm wie »un tuono in lontananza prima del temporale in arrivo«, und was sich anbahnt, kann nur disgrazia, sventura, catastrofe, sciagura sein. Leider hat er Recht.
Als die beiden endlich ankommen, begrüßt ihn die knochige zia Ester kühl, und schnell erweist sich das weitläufige Herrenhaus als Hort emotionaler Leere, falscher Würde, erstarrter Rituale und unnahbaren Hochmuts.
Giulia, bei ihren Angehörigen vollkommen a suo agio, demonstriert eine ungewohnte Leichtigkeit des Seins, parliert gar nonchalant über (niemals besprochene) Heiratspläne. Ihre Show verwundert Francesco nicht mehr, als er entdeckt, dass die beiden Frauen nicht nur ihr oberflächliches Wesen, sondern auch die Missbildung ihrer großen Zehen teilen: »disgusto, nausea, sbalordimento«!
Bei Spaziergängen in bukolischer Idylle, bei gepflegter Konversation und bei nächtlichen Observierungen wird Francesco klar, dass jeder auf diesem Landgut etwas zu verbergen hat. Selbst die feine Dame des Hauses schleicht nächtens durchs Gelände und trägt überraschenderweise Reizwäsche. Zio Franco, ihr massiger Gemahl mit ausgeprägtem Silberblick, gibt im Salon den aristokratischen Gutsherrn, ertränkt jedoch seine ehelichen Probleme im Alkohol. Die graue Eminenz im Haus ist Mario, der undurchsichtige Verwalter mit dem verstümmelten Finger, stark, ungehobelt und gewalttätig; ein Frauenmörder, munkelt man. Nicht weniger rätselhaft ist Clara, la domestica; mal erscheint sie als sensible poetessa, dann als von der bösen Ester malträtiertes Aschenputtel – oder wird sie von einem der Männer im Hause (oder beiden?) missbraucht, geliebt, versklavt? Schließlich treffen weitere Besucher ein: cugina Marta mit Ehemann Carlo, einem platten Immobilienkaufmann, und Marco, den Klein-Giulia einst als ersten küsste und der das nie vergessen hat ...
Auf diesem Mehr-Fronten-Schlachtfeld bekommt Francesco kein Bein auf den Boden. Was ist Sein, was Schein? Unser Ich-Erzähler, ohnehin egozentrisch, übersensibel und von Vorahnungen geplagt, beobachtet die Vorgänge um ihn herum wie durch ein Vergrößerungsglas. Kein Laut, keine Geste, kein Blick entgeht ihm (»Fu un attimo, un'occhiata, niente di più.«). Gespräche analysiert er wie Schachpartien, Begegnungen wie Boxkämpfe. Wie die anderen durch die Flure schreiten, seine Hand schütteln, bei Tisch die Gabel ablegen, Wein einschenken, tortellini in brodo löffeln, ohne zu kleckern, wer als erster durch die Tür treten darf, nein: muss (»›Prego‹ ... ›Sicuro?‹ ... ›Sicurissimo, dopo di te.‹«) – hinter all dem könnte eine geheime Strategie stecken, eine Verschwörung – nur wessen gegen wen? Mit welchem Ziel?
»Una cupa sensazione di impotenza e irreversibilità« gewinnt die Oberhand in Francescos Gemüt, »come se stessi scivolando su un piano inclinato, come se stessi attraversando un confine ed ecco, lo avessi attraversato già.«
Und wie soll Francesco sich in diesem Spiel verhalten? Seine wachsende Unsicherheit treibt ihn in einen Teufelskreis: Im Bemühen, sich bloß unauffällig einzufügen, antizipiert er die Aktionen der anderen, prescht vor, blamiert sich umso tolpatschiger und zieht erneut befremdete Blicke auf sich. Kaum verlässt jemand den Raum, fragt sich Francesco: Wo geht er hin? Was sucht er? Was hat er zu verbergen? Was führt er im Schilde? Dabei wird er selbst zum geradezu zwanghaften Schnüffler, der anderen hinterher spioniert (»sbirciare« ist ein Lieblingsverb). Clara ist die Schlüsselfigur, die ihn durch das Labyrinth geleitet – oder in die Irre?
Manchmal packt ihn in seiner Machtlosigkeit die kalte Wut und er markiert den starken Max, aber nur in seinen Gedanken: »Mi venne voglia di schiaffeggiarli.«; »Che vuoi, tu? Vuoi andare con la mia ragazza a fare che? ... Te lo scordi, bello, tu resti qua e ti fai i cazzi tuoi, capito?« Dann wieder malt er sich filmreif übertriebene, klischeevolle Dialoge und Szenen aus, wie sich die anderen auf seine Kosten amüsieren, oder er entwickelt niedliche Fluchtfantasien (»sarei andato via, lontano, avrei cambiato nome, mi sarei fatto un'altra identità, in Messico, in Brasile: avrei aperto una gelateria e mi sarei messo a vendere granite sulla spiaggia.«).
Als Franco plötzlich nicht mehr aufzufinden ist und keinerlei Spuren hinterlassen hat, erreicht das Spiel ein neues Level. Ist er verunglückt, ausgebüxt oder ermordet worden? Die Idylle ist endgültig nur noch schöner Schein, und ein düsterer Krimi entfaltet sich, je tiefer Francesco in die grauenvollen Niederungen des casale hinuntergezogen wird, ob er will oder nicht ...
Francesco Formaggi, 1980 in der Provinz Frosinone geboren, ist ein weiterer hoffnungsvoller junger Autor aus Süditalien, wie der sieben Jahre jüngere Paolo Piccirillo [Lesen Sie hier meine Rezension zu Paolo Piccirillo: »La terra del sacerdote«.] bei Neri Pozza verlegt und bereits mit einem Kreativitätspreis geehrt. Sein Erstlingsroman »Il casale« überzeugt rundum auf verschiedenen Ebenen:
Er schafft eine stringente, kräftige Bildlichkeit, die nicht dekorativ, sondern sinnstiftend ist. Die körperlichen Missbildungen – Giulias und Esters Zehen, Marios Finger – sind Symbole moralischer Verformung. Ein widerlich zugerichteter Schafskadaver, strangulierte, enthauptete und verbrannte Hühner sind beunruhigende Vorboten jener Realität, die sich unter der augenscheinlich friedlichen und idyllischen Umgebung verbirgt (»Gli uccelli cinguettavano, un cuculo cantava, l'odore del bosco saliva alle narici, l'odore di terra e corteccia.«), ebenso wie plötzliche Sturzregen und Gewitter die sommerliche Glut hinwegfegen, den Boden schlüpfrig machen, einen Hain in eine Hölle verwandeln. Wenn sich die dünne Fassadenhaftigkeit des Gebäudes wie der Umgangsformen darin peu à peu auflöst und verborgene Abgründe und gut gehütete Geheimnisse zum Vorschein kommen, wird auch der Leser empfänglich für das aggressive Potenzial in einem Händedruck und in den due chiacchiere bei Tisch.
Beeindruckend ist Formaggis Präzision und Variabilität in der sprachlichen Gestaltung. Die ausgefeilten Dialoge bringen Fragilität und Unwägbarkeiten der Beziehungen sensibel zum Ausdruck. Neben den psychologischen Analysen seines Erzählers erfreut uns der Autor mit dem Grusel der guten alten Gothic novel (»Il verso improvviso di un gufo ci fece trasalire.«), Logeleien à la Sherlock Holmes sowie erotischen Intermezzi. Farcehafte Einlagen (eine fette Kröte im Schlafzimmer der feinen Tante), Versteckspielchen, Intrigen, Missverständnisse und unglückliche Zufälle (Ausrutschen am Hang, plötzliche Gewitterschauer ...) lassen gar an klassische Komödien denken. Gerne gesteht der Autor seinem Erzähler eine gesunde Portion Selbstironie zu, wie etwa in diesem Schlussbild: »Ogni cosa aveva trovato il suo posto ...; tutto era tornato in equilibrio ... come se non ci fosse mai stata nessuna sciagura, ma solo le mura di un casale, e fuori la campagna, e dentro una famiglia felice.«
Und schließlich überzeugt, wie Formaggi über die Struktur seines Romans unser Lesevergnügen steuert. Was von den ersten Seiten an in winzigen Spuren angelegt wurde (»È andata così« lautet der erste Satz, und das zielt auf den allerletzten Absatz 230 Seiten später.), wird im Handlungsverlauf immer wieder aufgegriffen und vertieft; Vorausverweise und cliffhanger machen es dem Leser schwer, eine Pause einzulegen, erst recht, wenn der Autor im letzten Drittel des Romans die Spannungsschraube gehörig anzieht, Francescos Schicksal unausweichlich seine finale Bestimmung erfährt und wir mit ihm verstehen: »La verità è che non esistono incidenti: nessun male si compie di proposito, finché non ti ritrovi a farlo.«