Se vuoi vivere felice
von Fortunato Cerlino
Im Camorra-Städtchen Pianura bei Neapel bedeutet Glück, Arbeit zu haben und zu behalten, um Armut und Ödnis nicht ganz so chancenlos ausgeliefert zu bleiben wie viele Nachbarn. Fortunato (»der Glückliche«) Cerlino erzählt mit leichter Feder amüsante, traurige und nachdenklich stimmende Episoden aus der Realität seiner Kindheit in den Achtzigerjahren.
Was heißt hier Glück?
Fortunato hat Glück gehabt. Er ist raus aus Neapel. Mit siebzehn hat er sich abgesetzt und sich in der Ferne einen Namen als Schauspieler erarbeitet. Der internationale Durchbruch kam mit der Serie »Gomorrha«, wo er den Mafia-Boss Don Pietro Savastano verkörpert (seit 2014). Drehort war das Städtchen Scampia, eine Camorra-Hochburg im Norden Neapels. Nur ein paar Kilometer westlich wurde Fortunato Cerlino 1971 geboren, in Pianura, dem »Wilden Westen« von Neapel.
Scampia und Pianura sind öde Wohnblock-Peripherie, in den Sechzigerjahren als Behausungen für Industriearbeiterfamilien aus dem Boden gestampft. Das Ländliche wurde verdrängt, Urbanität kam nie zustande. Die Arbeitsplätze sind längst weg, und mit ihnen die Perspektiven. Generationen junger Leute wachsen auf der Straße auf, wo ihnen nicht viel mehr bleibt, als sich durch Imponiergehabe und Statussymbole, mit Kleinkriminalität ergattert, einen fragilen Selbstwert aufzubauen. Die Strippen ziehen die camorristi. Welche Ehre, wenn man mit sechzehn eingeladen wird, ob man nicht ein paar kleine Jobs erledigen möchte. Als Lohn gibt es Sonnenbrille, motorino, Geld für Klamotten und die Spielhölle, und die Aussicht auf eine Karriere.
Fortunato hat Glück gehabt, denn ihm hat eine zwar arme, aber intakte und ehrliche Familie den Rücken gestärkt und bessere Werte vorgelebt. Seine Mutter Annamaria stammt aus Bagnoli, also fast Napoli, was fast einem Adelstitel gleichkommt. Je weiter weg von diesem Nabel der Welt einer geboren wurde, so die Volksmeinung, desto unkultivierter ist er. Schon sein Dialekt markiert so einen als »cafone«. Das trifft (um 1960) auch Salvatore Cerlino, der aus Monteruscello nahe Pozzuoli, also vom Lande kommt und um Annamarì wirbt. Eine schlechte Wahl ist er nicht, schon wegen seines Großvaters, der beim Rasieren Opernarien schmetterte und ihm ein Feld vererbte, für das man einmal dankbar sein würde.
Annamarì und Salvatò, stolzer Kranführer bei einer großen Baufirma, beziehen mit Oma Matilde eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Pianura, bekommen vier Jungs und kommen einigermaßen über die Runden. Die sieben Personen schlafen auf einer (1) Schlafcouch und in einem (1) Doppelbett. An allen Ecken und Enden muss gespart werden. Nur die Lokalsender »Radio Duemila« und »Canale 21« sorgen im Haus für Unterhaltung, Kultur und Klatsch – die »RAI« darf nicht ins Haus, kostet sie doch Gebühren und ist im Übrigen aus Italia, sozusagen aus einer anderen Welt. Denn »qui parlano quasi tutti in dialetto, e quando incontrano qualcuno che si rivolge a loro in italiano s’insospettiscono«.
Dementsprechend sind etwa zehn Prozent des Textes in neapolitanischem Dialekt formuliert, und um die zu genießen, sollte man im Italienischen sattelfest und flexibel sein. Wenn man sich beim Lesen auf den Klang einlässt, hat man nach ein paar Seiten die wichtigsten Grundregeln der Normabweichungen durchschaut und kann unbeschwert zuhören.
Andererseits darf Gaetano, Junge aus bürgerlichem Hause, nur mit Kindern spielen, die ordentliches Italienisch sprechen. Fortunato ist einer der Auserwählten. Wenn er sich (nach den Hausaufgaben) auf den Weg zu ihm macht, ermahnt ihn Annamarì sicherheitshalber noch einmal, bloß keine Spielsachen zu klauen.
Die Lage verschlechtert sich dramatisch, als Salvató seine Arbeit verliert und obendrein das fünfte Kind unterwegs ist. Fortunato muss jetzt jeden Nachmittag mit einem Karren durch die Straßen laufen und Gemüse verkaufen, das der Vater frisch vom Feld in Monteruscello holt. Die neue Verantwortung, der Geldstrom und seine Verlockungen verändern den Jungen.
Fortunato Cerlino erzählt diese entscheidenden zwei oder drei Jahre, in denen seine Kindheit zu Ende geht, auf wunderbare Weise. Inmitten von Not, Tristesse, Verfall und Scheitern hat der Zehnjährige eine erstaunliche Widerstandskraft. Obwohl er es wegen seines Übergewichts und seiner Eigenwilligkeit nicht einfach hat, helfen ihm Wille, Neugier, Gedankenschärfe, Tapferkeit und eine blühende Fantasie, einen eigenen Weg zu gehen. In seinen Träumen ist er Fußballprofi, Drachentöter, Schlagersänger. Er will weit weg, Schriftsteller werden. Oder Schauspieler. Oder Astronaut. In der Familie nennt man ihn halb bewundernd, halb genervt »‘o strologo«, den Alleswisser.
Im Laufe der vielen Episoden aus dem Alltag, der Träume und fiktiven Gespräche mit einem Bruder oder der Madonna von Lourdes (der man in Pianura einen Nachbau ihrer Grotte nebst Kopie ihrer Statue errichtet hat) lernen wir eine Vielzahl repräsentativer Charaktere kennen – von den Familienmitgliedern aus vier Generationen über Kinder und Jugendliche aller Couleur, darunter Enzo »’o Lión« und Tonino »Naso ‘e cane«, der Sohn des camorrista »’o Bulldog«, über »Spaidermàn«, den Einbrecher, der beim Balkonklettern zu Tode gestürzt ist, die frömmelnden Nachbarinnen, den Herrn Pastor bis zur geradlinigen Grundschullehrerin, die Intelligenz und Talent ihres Schülers erkennt und nach Kräften fördert – eine kleine Sozialanalyse einer typischen Vorstadt von Neapel.
Ton und Atmosphäre wechseln zwischen Ernst, Fantastik, Mitgefühl, köstlichem Witz und feiner Ironie. Etwa wenn die gesamte Familie alle paar Wochen im Fiat 850 zum Einkaufen in den riesigen Euromercato zieht: Alle tun ihr Bestes, um einen gutbürgerlichen Eindruck zu machen, und die Kinder geben sich als wahre angioletti. Was sie dann zwischen den Regalreihen veranstalten, verschlägt einem freilich den Atem. Ein Engel ist Furtunà wahrlich nicht, aber er hat Glück, dass er in entscheidenden Situationen das Richtige tut. Aus Intuition, weil er intelligent ist, weil er einen guten Kern hat, weil er kritisch ist? Jedenfalls entkommt er um Haaresbreite dem deprimierenden Einbahn-Schicksal vieler seiner Altersgenossen.
Im letzten Teil vermischen sich Melancholie und Nostalgie, Magie, Traum und Selbstfindung. »Se vuoi vivere felice devi vivere quaggiù« – stimmt das womöglich? Allein kehrt der Promi (»Savastà! Ce facimme nu selfie?«) aus Rom zurück nach Pianura, um sein kleines Selbst aufzuspüren, das er mit all seinen Frustrationen zurückgelassen hatte, um die Kladde wiederzufinden, in der Furtunà seine Gedanken und Beobachtungen notiert hatte, um wieder anzuknüpfen an seine Wurzeln.
»Il destino è una calamita«, schreibt Cerlino, und eine Redensart der Gegend sagt: »Chi è nato tondo nun può murí quadrato.« Ciruzzo, il figlio della zingara, Tonino »Naso ‘e cane« und sein großer Bruder Patrizio und viele andere können sich ihrem Schicksal offenkundig nicht entziehen. Auch die Hände von Salvatò Cerlino sind noch braun vom Acker seiner Vorfahren, und auch Fortunato hat den Geruch frisch aufgebrochener Erde in der Nase. Aber er konnte selbst bestimmen, ob er bleibt oder nicht.
Dieser autobiografische Debütroman eines vielseitig talentierten Künstlers bietet dank seiner Warmherzigkeit, Authentizität, köstlicher Dialoge und eines lebhaften, bildstarken Sprachstils ein beeindruckendes Leseerlebnis.