Rezension zu »Il nome del padre« von Flavio Villani

Il nome del padre

von


Kriminalroman · Neri Pozza · · 315 S. · ISBN 9788854515383
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Lombardei

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Gerechtigkeit verjährt nicht

Rezension vom 24.08.2017 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die Großstadt ist wie ausgestorben. Die Geschäfte der Boule­vards sind mit eisernen Roll­läden verram­melt, die weiten Plätze menschen­leer. Selbst die Hallen des Haupt­bahn­hofs wirken verlassen. Wie jedes Jahr sind zu Ferragosto alle ans Meer geflohen. Dieser Sommer – 1972 – ist besonders unerträg­lich. Die stickige, heiße Luft steht Tag und Nacht still, das Atmen fällt schwer. Der gespens­tischste Ort ist die Gepäck­aufbe­wah­rung der Stazione Centrale. Fahles Neon­licht erhellt den leeren Saal, es riecht nach Moder und Fäulnis. Ein bleicher Ange­stellter döst hinter dem Schalter, bis der Ekel erregende Geruch ihn auf die Suche nach der Quelle treibt. Es ist ein Koffer im Regal, prall aufge­bläht, aus dem eine un­definier­bare Flüssig­keit heraus­tropft. Wie sich heraus­stellt, enthält das Gepäck­stück eine zerteilte Leiche im Zustand fort­geschrit­tener Verwesung. Ihr Kopf fehlt.

Diensthabender Beamter im Morddezernat in der via Fate­bene­fratelli ist Rocco Cavallo. Der junge vice­ispettore, bislang nur Zuschauer und Assistent, wenn seine erfahre­nen Kollegen ermit­telten, ist plötzlich allein mit seinem ersten großen Fall. Entweder kann er sich jetzt goldene Sporen verdienen oder, wenn er versagt, ein für allemal zum Innen­dienst abmelden. Gewillt, alles richtig zu machen, folgt er besonnen und selbst­bewusst seiner Überzeu­gung, dass »l'unico modo per affron­tare il caos di quella mattina fosse di contrap­porgli una ferrea razionalità. Ogni cosa sarebbe andata al proprio posto solo con uno sforzo dell'intel­letto [...]. Il mio compito era cercare la verità«.

Das sieht der »Poirot dei poveri« freilich zu idealistisch. Sein Chef, commis­sario capo Italo Naldini, will nur eins: rasche Ergeb­nisse, um »il popolino« zu beruhigen Unge­halten, weil aus dem Familien­urlaub gerissen, zaubert der alte Hase dem Frisch­ling eine Theorie aus dem Hut, wie's wohl gewesen sein wird: eine Abrech­nung in Zuhälter­kreisen, die osten­tative Hinrich­tung einer aufmüp­figen Prostitu­ierten. Mit dem einschlägig vorbe­straf­ten Totò il Guercio und einem kürzlich spurlos verschwun­denen Straßen­mädchen namens Ingrid liefert er auch gleich das Personal, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Also: »Agisce, perdio.«

Cavallo wird behandelt wie ein dummer Schuljunge. Demüti­gende Kommen­tare zehren an seinem Selbst­wert­gefühl, aber unter­kriegen lässt er sich nicht. Als er zu beden­ken gibt, dass zuerst die Iden­tität des Opfers geklärt werden sollte, entzieht ihm Naldini kurzer­hand den Fall und über­nimmt selbst das Kommando, zusam­men mit ispettore Mirco Ferretti von der Buoncostume. Der Einzige, der Cavallos Skepsis unter der Hand zu teilen scheint, ist commissario Antonio Vice­domini, ein Kollege und Freund Naldinis. Er weist Cavallo auf Ähnlich­keiten mit einem Fall aus den Vier­zigern hin, als zwei Frauen auf ähnliche Weise ermordet wurden, ohne dass der Täter je gefasst wurde. Hat er jetzt nach langer Pause erneut zuge­schlagen? Oder imitiert ihn jemand, mit welcher Absicht auch immer?

Weder dem brachialen Gespann Naldini/Ferretti noch Cavallo gelingt es, die Rätsel um die Koffer­leiche zu ergründen. So verstaubt die Akte in den Regalen, die Bluttat wird zum »cold case«. Weil ein Mörder frei davon­kam, weil Cavallo keine Gerechtig­keit herstellen konnte und weil er schmerz­liche Ernied­rigun­gen einstecken musste, nagt der Fall weiter an der Seele des commis­sario. Tätig werden darf und kann er nicht mehr, aber er schreibt den gesamten Hergang nieder wie einen Roman. Als ihm gegen Ende seiner Dienst­jahre die junge vice­ispett­rice Valeria Salemi zur Seite gestellt wird und er ihr dem seinen ähnliches Berufs­ethos erkennt, gibt er ihr das Manu­skript zu lesen, und sie moti­viert ihn, die Recher­chen wieder aufzu­nehmen.

Der zentrale Mordfall von 1972 ist zwar spektakulär, im Grunde aber un­kompli­ziert, die Zahl der invol­vierten Personen über­schau­bar. Autor Villani hat daraus ein kunst­volles Meister­stück geschaf­fen. Die Handlung spielt auf drei raffi­niert geschach­telten Zeit­ebenen (1940 bis 1945, 1972 und in der Jetzt­zeit), inner­halb derer aus verschie­denen Perspek­tiven erzählt wird. Cavallos Manu­skript und Vice­dominis ausführ­licher münd­licher Bericht, unter vier Augen in der gespens­tischen Schädel­kapelle der Kirche San Bernar­dino alle Ossa gegeben, bringen umfäng­liche Ich-Erzäh­lungen, während ansons­ten die szenische Darstel­lung in der dritten Person vorherrscht. Meist wird Cavallos Sicht von inten­siver innerer Handlung, genauer Beobach­tung und kühlem Überlegen begleitet. Die Recher­chen führen in unter­schied­lichste Kreise (Rotlicht-Milieu, Industrie­magna­ten alten Stils, Flücht­linge, Klerus ...) und lassen ihn die unter­schied­lichs­ten Menschen­typen treffen (Karrie­risten, Geschei­terte, Undurch­sichtige, Empathie­lose, Kranke, Des­illusio­nierte, Macht­menschen ...). Villani hat damit einen bedäch­tigen, litera­risch anprechen­den psycholo­gischen Kriminal­roman geschaffen, der den Leser ebenso durch die viel­schich­tigen Charak­tere wie durch die Rätsel der Kriminal­fälle fas­ziniert.

Mit Rocco Cavallo stellt Villani den gängigen gebroche­nen Helden seines Metiers einen rundum schätzens­werten Charak­ter gegen­über. Der Verstandes­mensch ist beherrscht, nach­denklich, bescheiden, kultiviert, empa­thisch, lässt sich bei Verhören ganz auf die Persön­lich­keit des anderen ein. Seine Methode ist die gründ­liche, kritische Deduk­tion. Seine Ideale und Prinzi­pien hält er trotz aller Anfech­tungen aufrecht. Noch nach drei Jahr­zehn­ten gibt ihm sein Gerech­tigkeits­sinn die Kraft, den Uralt-Fall wieder­zubele­ben, sich noch einmal den persön­lichen Frustra­tionen seiner Anfangs­jahre zu stellen. In Valeria Salemi findet er eine gleich­gesinnte Partnerin, die aller­dings Aktion bevorzugt.

Erzählton und Stil erinnern an Giorgio Scerbanenco (bei Garzanti neu aufgelegt) [› Rezension], und wer diesen aner­kann­ten Klassiker des Giallo mag, wird auch Villani mögen (und umge­kehrt). Wir verfolgen solide Ermitt­lungs­arbeit, wobei alter­native Theorien und Methoden (wie die 08/15-Rou­tinen der alten Hasen) ernst­genom­men und sorg­fältig diskutiert werden. Die äußere und die umfang­reiche innere Handlung werden in klarer, ruhiger, geschmei­diger Sprache erzählt, der Grundton ist ernst, leicht melan­cholisch.

Wie in Scerbanencos Krimis spielt der Schauplatz Mailand eine Haupt­rolle. Rocco Cavallo stammt von der Amalfi-Küste und fühlt sich fremd in der lombar­dischen Metro­pole, wo Italiens Industrie-Wirt­schafts­wunder boomt und entweder uner­trägliche Sommer­hitze oder düstere Nebel- und Regen­tage die Stimmung drücken. Über die Jahre erwandert er sich die Stadt und lernt sie schließlich schätzen (»Cammi­nare mi aiuta a con­centrar­mi [...]. È così che ho imparato a conoscere e ad amare Milano.«). Meister­lich erfasst Villani die Atmosphäre der unter­schied­lichen Groß­stadt-Szenerien (Boule­vards, Büros, Wohnun­gen, Villen, Kirchen, ein Kloster) und das Zeit­gefühl der histori­schen Epochen.

Flavio Villani, 1962 in Mailand geboren, ist im Hauptberuf Neuro­loge. In seinem ersten Rocco-Cavallo-Krimi hat er uns seinen sympa­thischen Protago­nisten am Anfang und am Ende seiner Polizis­tenlauf­bahn vorgestellt. Ein zweites Buch ist in Vorbe­reitung. Es ist in den Neunziger­jahren ange­siedelt, und der commis­sario, inzwischen um die fünfzig Jahre alt und gereift, wird sich mit den Mai­länder Schmier­geld­skan­dalen (»Tangentopoli«) befas­sen müssen.


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