Gerechtigkeit verjährt nicht
Die Großstadt ist wie ausgestorben. Die Geschäfte der Boulevards sind mit eisernen Rollläden verrammelt, die weiten Plätze menschenleer. Selbst die Hallen des Hauptbahnhofs wirken verlassen. Wie jedes Jahr sind zu Ferragosto alle ans Meer geflohen. Dieser Sommer – 1972 – ist besonders unerträglich. Die stickige, heiße Luft steht Tag und Nacht still, das Atmen fällt schwer. Der gespenstischste Ort ist die Gepäckaufbewahrung der Stazione Centrale. Fahles Neonlicht erhellt den leeren Saal, es riecht nach Moder und Fäulnis. Ein bleicher Angestellter döst hinter dem Schalter, bis der Ekel erregende Geruch ihn auf die Suche nach der Quelle treibt. Es ist ein Koffer im Regal, prall aufgebläht, aus dem eine undefinierbare Flüssigkeit heraustropft. Wie sich herausstellt, enthält das Gepäckstück eine zerteilte Leiche im Zustand fortgeschrittener Verwesung. Ihr Kopf fehlt.
Diensthabender Beamter im Morddezernat in der via Fatebenefratelli ist Rocco Cavallo. Der junge viceispettore, bislang nur Zuschauer und Assistent, wenn seine erfahrenen Kollegen ermittelten, ist plötzlich allein mit seinem ersten großen Fall. Entweder kann er sich jetzt goldene Sporen verdienen oder, wenn er versagt, ein für allemal zum Innendienst abmelden. Gewillt, alles richtig zu machen, folgt er besonnen und selbstbewusst seiner Überzeugung, dass »l'unico modo per affrontare il caos di quella mattina fosse di contrapporgli una ferrea razionalità. Ogni cosa sarebbe andata al proprio posto solo con uno sforzo dell'intelletto [...]. Il mio compito era cercare la verità«.
Das sieht der »Poirot dei poveri« freilich zu idealistisch. Sein Chef, commissario capo Italo Naldini, will nur eins: rasche Ergebnisse, um »il popolino« zu beruhigen Ungehalten, weil aus dem Familienurlaub gerissen, zaubert der alte Hase dem Frischling eine Theorie aus dem Hut, wie's wohl gewesen sein wird: eine Abrechnung in Zuhälterkreisen, die ostentative Hinrichtung einer aufmüpfigen Prostituierten. Mit dem einschlägig vorbestraften Totò il Guercio und einem kürzlich spurlos verschwundenen Straßenmädchen namens Ingrid liefert er auch gleich das Personal, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Also: »Agisce, perdio.«
Cavallo wird behandelt wie ein dummer Schuljunge. Demütigende Kommentare zehren an seinem Selbstwertgefühl, aber unterkriegen lässt er sich nicht. Als er zu bedenken gibt, dass zuerst die Identität des Opfers geklärt werden sollte, entzieht ihm Naldini kurzerhand den Fall und übernimmt selbst das Kommando, zusammen mit ispettore Mirco Ferretti von der Buoncostume. Der Einzige, der Cavallos Skepsis unter der Hand zu teilen scheint, ist commissario Antonio Vicedomini, ein Kollege und Freund Naldinis. Er weist Cavallo auf Ähnlichkeiten mit einem Fall aus den Vierzigern hin, als zwei Frauen auf ähnliche Weise ermordet wurden, ohne dass der Täter je gefasst wurde. Hat er jetzt nach langer Pause erneut zugeschlagen? Oder imitiert ihn jemand, mit welcher Absicht auch immer?
Weder dem brachialen Gespann Naldini/Ferretti noch Cavallo gelingt es, die Rätsel um die Kofferleiche zu ergründen. So verstaubt die Akte in den Regalen, die Bluttat wird zum »cold case«. Weil ein Mörder frei davonkam, weil Cavallo keine Gerechtigkeit herstellen konnte und weil er schmerzliche Erniedrigungen einstecken musste, nagt der Fall weiter an der Seele des commissario. Tätig werden darf und kann er nicht mehr, aber er schreibt den gesamten Hergang nieder wie einen Roman. Als ihm gegen Ende seiner Dienstjahre die junge viceispettrice Valeria Salemi zur Seite gestellt wird und er ihr dem seinen ähnliches Berufsethos erkennt, gibt er ihr das Manuskript zu lesen, und sie motiviert ihn, die Recherchen wieder aufzunehmen.
Der zentrale Mordfall von 1972 ist zwar spektakulär, im Grunde aber unkompliziert, die Zahl der involvierten Personen überschaubar. Autor Villani hat daraus ein kunstvolles Meisterstück geschaffen. Die Handlung spielt auf drei raffiniert geschachtelten Zeitebenen (1940 bis 1945, 1972 und in der Jetztzeit), innerhalb derer aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Cavallos Manuskript und Vicedominis ausführlicher mündlicher Bericht, unter vier Augen in der gespenstischen Schädelkapelle der Kirche San Bernardino alle Ossa gegeben, bringen umfängliche Ich-Erzählungen, während ansonsten die szenische Darstellung in der dritten Person vorherrscht. Meist wird Cavallos Sicht von intensiver innerer Handlung, genauer Beobachtung und kühlem Überlegen begleitet. Die Recherchen führen in unterschiedlichste Kreise (Rotlicht-Milieu, Industriemagnaten alten Stils, Flüchtlinge, Klerus ...) und lassen ihn die unterschiedlichsten Menschentypen treffen (Karrieristen, Gescheiterte, Undurchsichtige, Empathielose, Kranke, Desillusionierte, Machtmenschen ...). Villani hat damit einen bedächtigen, literarisch anprechenden psychologischen Kriminalroman geschaffen, der den Leser ebenso durch die vielschichtigen Charaktere wie durch die Rätsel der Kriminalfälle fasziniert.
Mit Rocco Cavallo stellt Villani den gängigen gebrochenen Helden seines Metiers einen rundum schätzenswerten Charakter gegenüber. Der Verstandesmensch ist beherrscht, nachdenklich, bescheiden, kultiviert, empathisch, lässt sich bei Verhören ganz auf die Persönlichkeit des anderen ein. Seine Methode ist die gründliche, kritische Deduktion. Seine Ideale und Prinzipien hält er trotz aller Anfechtungen aufrecht. Noch nach drei Jahrzehnten gibt ihm sein Gerechtigkeitssinn die Kraft, den Uralt-Fall wiederzubeleben, sich noch einmal den persönlichen Frustrationen seiner Anfangsjahre zu stellen. In Valeria Salemi findet er eine gleichgesinnte Partnerin, die allerdings Aktion bevorzugt.
Erzählton und Stil erinnern an Giorgio Scerbanenco (bei Garzanti neu aufgelegt) [› Rezension], und wer diesen anerkannten Klassiker des Giallo mag, wird auch Villani mögen (und umgekehrt). Wir verfolgen solide Ermittlungsarbeit, wobei alternative Theorien und Methoden (wie die 08/15-Routinen der alten Hasen) ernstgenommen und sorgfältig diskutiert werden. Die äußere und die umfangreiche innere Handlung werden in klarer, ruhiger, geschmeidiger Sprache erzählt, der Grundton ist ernst, leicht melancholisch.
Wie in Scerbanencos Krimis spielt der Schauplatz Mailand eine Hauptrolle. Rocco Cavallo stammt von der Amalfi-Küste und fühlt sich fremd in der lombardischen Metropole, wo Italiens Industrie-Wirtschaftswunder boomt und entweder unerträgliche Sommerhitze oder düstere Nebel- und Regentage die Stimmung drücken. Über die Jahre erwandert er sich die Stadt und lernt sie schließlich schätzen (»Camminare mi aiuta a concentrarmi [...]. È così che ho imparato a conoscere e ad amare Milano.«). Meisterlich erfasst Villani die Atmosphäre der unterschiedlichen Großstadt-Szenerien (Boulevards, Büros, Wohnungen, Villen, Kirchen, ein Kloster) und das Zeitgefühl der historischen Epochen.
Flavio Villani, 1962 in Mailand geboren, ist im Hauptberuf Neurologe. In seinem ersten Rocco-Cavallo-Krimi hat er uns seinen sympathischen Protagonisten am Anfang und am Ende seiner Polizistenlaufbahn vorgestellt. Ein zweites Buch ist in Vorbereitung. Es ist in den Neunzigerjahren angesiedelt, und der commissario, inzwischen um die fünfzig Jahre alt und gereift, wird sich mit den Mailänder Schmiergeldskandalen (»Tangentopoli«) befassen müssen.