Ohne Kompromisse
Dies ist ein kraftvoller, stimmig und dicht konstruierter, sprachlich faszinierender und sehr sardischer Roman, den der Bankangestellte Cristian Mannu (geboren 1977 in Cagliari) als Erstling verfasst hat. Er wurde dafür mit dem Premio Italo Calvino 2015 geehrt, einem Preis für noch unveröffentlichte literarische Debüts. Im April 2016 erschien das Buch bei dem großen Traditionsverlag Giunti (gegründet 1497).
Mannu zeichnet die komplexen Porträts einer außerordentlichen, eindrucksvollen Frau, Maria Piga aus dem Städtchen Ísili (etwa 70 km nördlich von Cagliari gelegen), und des Mannes, der ihr Leben prägte, Antonio Lorrài. Die Liebe, die die beiden wie ein Sturm dahinreißt, ist von einer Urgewalt jenseits aller Vernunft, lässt keinen Raum für Kompromisse, bündelt zerstörerische statt aufbauende Kräfte und zehrt nicht nur das Leben der beiden Liebenden auf, sondern beeinträchtigt auch das von weiteren betroffenen Personen.
Über die individuellen Schicksale hinaus stellt Mannu seine Protagonisten in innerfamiliäre und regionale sardische Entwicklungsstrukturen. Marias Mutter Rosalia, von einem ähnlichen Drang, ihre wahre Liebe gegen alle Konventionen auszuleben, musste sich noch dem straffen Rollensystem ihrer Zeit unterwerfen; Maria aber wählt mit Antonio selbstbewusst einen skandalös eigenwilligen Weg, nimmt alle drohenden Sanktionen und Konsequenzen in Kauf und geht letzten Endes unglücklich zugrunde; erst Marias Enkelin ist es vergönnt, zu sich zu finden und eine selbstbestimmte Existenz aufzubauen. Mit diesen drei beeindruckenden Gestalten hat Mannu das traditionelle Bild der sardischen Frau, die in einer archaischen, maskulin dominierten Hirtengesellschaft kaum ein Profil entwickeln konnte, um ganz neue Varianten bereichert, die sich auch von den feinsinnigen Romanheldinnen der Nobelpreisträgerin Grazia Deledda abheben.
Demgemäß fesselt den Leser vor allem, was die Charaktere in ihrem Innersten umtreibt. Die äußere Handlung hält zwar bestürzende Details und tragische Entwicklungen bereit, ist jedoch relativ unkompliziert und nicht der eigentliche Spannungsträger. Ihr Kern trägt sich zu zwischen Ísili, gezeichnet als ländlich-idyllischer Ort relativer Unschuld, und der Hafenstadt Cagliari, die ebenso für wirtschaftlichen Aufschwung wie für Armut und Perspektivlosigkeit des modernen Proletariats steht.
Die erzählte Zeit umfasst in etwa die letzten hundert Jahre und vier bis fünf Generationen. Doch mit präziser Chronologie will Mannu seine Geschichten nicht einzäunen. Konkrete Zeiträume werden der realen Historie allenfalls vage beigeordnet. Statt spitzer Jahreszahlen breitet der Autor als Zeitkolorit hinter den Episoden atmosphärisch intensive Szenerie- und Motivteppiche aus, die vor allem die Tragik der Handlung in mythische Allgemeingültigkeit abzuheben scheinen. Umso präziser wird der Handlungsfortschritt auf der Insel verortet: Zahlreiche sardische Dörfer, Berge, Seen sind als Schauplätze beschrieben, lokale Dialekte werden unterschieden, evokative Naturphänomene erfüllen leitmotivische Funktionen (un vento possente e intrigante; un albero con le radici, anche se storte; l’aquila rossa con il dorso bianco; papaveri viola; avena selvatica).
Die Familienchronik beginnt mit Michele Piga aus Macomer, der (in den Zwanzigerjahren?) mit seinem Freund Pietro Uggias in Sizilien Arbeit sucht. Das Mädchen Rosaria Granata verliebt sich unsterblich in Pietro, doch der ist schon vergeben. Um ihm nahe zu bleiben, heiratet sie Michele und kehrt mit beiden in deren Heimat zurück. Mit größten Anstrengungen gelingt es Michele, sich trotz seiner problembeladenen Persönlichkeit eine anerkannte bürgerliche Existenz aufzubauen. Doch als Pietro Selbstmord begeht, kann er nicht abwenden, dass Rosaria nur noch Verachtung und Hass für ihn aufbringt und in tiefe Depression versinkt. An ihrer Stelle zieht die Hebamme des Dorfes, Salvatorica Carboni (genannt Zia Borìca), die beiden Töchter auf. Während Evelina Erfüllung in der Religion findet, entfaltet die etwas jüngere Maria dank Zia Borìcas vielfältiger Anregungen all ihre außergewöhnlichen Talente und entwickelt sich zu einer gebildeten, fantasievollen, kreativen und sensiblen jungen Frau. Besonders virtuos erstellt sie am Webstuhl der Zia Wandteppiche mit kühnen Designs aus Woll- und Kupferfäden.
Auftritt Antonio Lorrài, allseits berüchtigter Abenteurer und Frauenheld, der, desinteressiert am reichen Landbesitz seiner Familie, lieber als Kupferschmied und Kesselflicker durchs Land zigeunert. Er verführt und schwängert Evelina, wird überredet, sie zu heiraten, doch gleichzeitig verfällt ihm Maria und er ihr: »Fui io a portarlo alle vigne. Fu lui a insegnarmi l’amore. Fummo in due a rubarci il destino.« Die beiden entfliehen Hals über Kopf nach Cagliari – ein unerhörter Skandal, der Mutter Rosaria in den Selbstmord treibt und Vater Michele aus der mühsam gehaltenen Bahn wirft.
In wenigen Jahren des Glücks werden die Tochter Rosaria und drei weitere Kinder geboren, aber Antonio ist zu unstet, vernachlässigt Geschäft und Familie, verwahrlost bei Glücksspiel und Alkohol, setzt sich ab. (Jahre später wird er unter unklaren Umständen umgebracht, womöglich vom eigenen Vater veranlasst.)
Für den Rest ihres Lebens hält Maria sich und ihre Familie mit einfachen Hilfsarbeiten kärglich über Wasser. Der politische Aktivist (und begeisterte Deledda-Leser) Sergio Desogus zieht zu der noch immer attraktiven, kultivierten Frau und heiratet sie nicht nur um des gemeinsamen Kindes Anna willen. Aber wieder scheitern alle Bemühungen, eine gesicherte bürgerliche Existenz aufzubauen, an charakterlichen und sozialen Unzulänglichkeiten. Die Kinder werden im kirchlichen collegio der suore erzogen, Sergios Bewunderung für Maria, die niemals aufgibt, schlägt in Hass um, schließlich wird die Familie in ein trostloses soziales Brennpunktviertel umgesiedelt. Alle überlebenden Kinder suchen ihr Glück auf dem Kontinent, Maria verliert an Kraft und stirbt, während ihre Schwester Evelina, Antonio Lorràis Witwe und Erbin, dessen Vermögen für Marias Kinder bewahrt. Davon profitiert insbesondere Marias Enkelin, die am Ende aus Mailand in Evelinas Haus zieht, sich als Künstlerin verwirklicht und mit Mann und Kindern eine optimistische Perspektive eröffnet. Mit dieser zweiten »Maria di Ísili« schließt der Autor den Kreis versöhnlich; sein persönliches Anliegen ist nach eigenem Bekunden, seine sardische Heimat zu einer zukunftsgewandten Erneuerung zu ermutigen.
Um die schillernde Vielschichtigkeit der Beziehungen und Vorgänge zu erfassen, legt Mannu seinen Roman multiperspektiv an. Zehn Personen sprechen (oder schreiben) nacheinander wie in einer Art Zeugenstand, schildern ihre Erlebnisse mit den anderen, fällen deutliche Urteile oder halten sich, wenn sie nicht genug wissen oder erfahren haben, lieber zurück. Zu Wort kommen Maria, ihre Mutter Rosaria, ihr Vater Michele, ihr Geliebter Antonio, dessen Freund Giovannino, Marias Ehemann Sergio, ihre cagliaresische Freundin Teresina, ihre Schwester Evelina und ihre Enkelin, die andere Maria di Ísili. Den Anfang aber macht die umfassende, engagiert parteiische Erzählung (mit durchgehend paraphrasierten dialektalen Einsprengseln) der Hebamme Salvatorica Carboni, die mit der Familie eng verbunden war und der über Jahrzehnte kein Geheimnis im Dorf verborgen blieb. Hat man ihre Geschichte gelesen, überrascht, ja schockiert oft genug, wie sich die Charaktere, Beziehungen und Ereignisse aus der Sicht der teils heftig geschmähten und verachteten anderen Beteiligten darstellen, und selbst Marias starkes Selbstbild, so differenziert und feinfühlig vorgetragen, gerät ins Wanken. War sie nicht doch einfach zu naiv und ignorant?
Das Verfahren erinnert rein äußerlich an den Roman »Il figlio di Bakunin« des Sarden Sergio Atzeni, 1991 erschienen und 1997 von Gianfranco Cabiddu verfilmt, und mehr noch an den japanischen Filmklassiker »Rashomon« (1950). Während dieser aber kriminologische, psychologische, moralische, philosophische und sogar politisch-historische Dimensionen vereint, beschränkt sich Mannus Roman auf die Herausarbeitung der psychologischen Unterschiede zwischen den Personen, ihrer Beurteilung und Präsentation.
Beeindruckend und begeisternd ist die Vielfalt der Stile, mit denen Mannu seine Figuren zu zeichnen vermag. Nach eigener Aussage inspiriert von den Autoren der erfolgreichen »Nuova letteratura sarda« (insbesondere Sergio Atzeni und Michela Murgia), der Lyrikerin Maria Chessa (aus Alghero) und dem cantautore Fabrizio De André, gelingen Mannu hinreißend eindringliche Seiten, die den intensiven Ton von Gebeten, formelhaften Beschwörungen, dann wieder von leichten Volksweisen erklingen lassen oder durch zarte Poesie bezaubern können, stets von stimmigen Bildkonzepten durchdrungen und gleichzeitig ganz auf den Charakter ihres Sprechers zugeschnitten.
In seinem fesselnden Roman verwebt Mannu einen Katalog spannender Themen (Liebe und Hass, Freundschaft und Verrat, unsägliche Geheimnisse, tödliche Tragik, bitterer Überlebenskampf …) mit keineswegs neuen, aber neu interpretierten Motiven sardischer Literatur (archaische Wertsysteme, Rollenzwänge, unterdrückte Andersartigkeiten …), der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft (etwa Spekulation und Korruption in Cagliari) und einem ebenfalls an den Traditionen orientierten, dennoch innovativen Stil – frischer Wind also für die sardische Literatur.
Überfrachtet der Autor seinen literarischen Einstieg nicht mit diesem prallen Konzept? Nein. Er bietet einfach ein pralles Lesevergnügen. Man muss gespannt sein, wie Cristian Mannu seine Schriftstellerlaufbahn fortsetzen wird.