Ein ordentlicher Thriller
Ein ganz schön blutrünstiger Killer treibt sein Unwesen in Bologna. Er misshandelt und tötet seine Opfer nicht einfach, sondern zerfetzt geradezu ihren Oberkörper, um ihr Herz herauszureißen. Was für ein Mensch mag das sein, der sich wie ein Raubtier verhält, dazu geschickt, klug und technisch versiert ist? Er betreibt einen Blog, der eine wachsende Schar von followers auf sich zieht, und es scheint keine Hindernisse zu geben, die er nicht zu überwinden wüsste.
Deutschsprachige
Ausgabe:
»Bestie« (2014)
Was treibt ihn an? In seinem Blog ergeht er sich in wüsten Beschimpfungen, Flüchen und Drohungen, die aber keine konkrete Zielgruppe umreißen: »stronzi bastardi … maledetti teste di cazzo … figli di puttana« usw. usw., und auch seine Mordopfer haben keine gemeinsamen Merkmale. Handelt es sich um einen persönlichen Rachefeldzug? Führt er einen Kampf gegen – wenn auch noch so vage definierte – Ungerechtigkeiten dieser Welt oder dieser Gesellschaft? Ist er ein Betrogener? Ein Opfer? Ein Irrer?
Was auch immer: Seine Hasstiraden im Internet kulminieren immer wieder in der gleichen furchtbaren Drohsequenz: »Vi vengo a prendere uno per uno e vi mangerò il cuore!«
Angesichts der offenkundigen Gefahr für die Öffentlichkeit und um Hysterie gar nicht erst aufkommen zu lassen, müssen effiziente Ermittlungen rasche Ergebnisse produzieren. Doch wie, wenn Spuren und Motive fehlen? Die gesamte Elite des Polizeiapparates wird auf dieses eine Ziel angesetzt.
›Polizeiapparat‹? Der Singular ist angesichts italienischer Verhältnisse natürlich fehl am Platz. Bereits auf Seite 26 haben wir einen groben Überblick, wer da alles involviert ist an Gruppen und Graden: »la sezione omicidi«, »la scientifica«, »i carabinieri«, »la Digos« (= Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali); »l’ispettore capo Matera«, »l’ispettore capo Sarrina«, »l’ispettore superiore Grazia Negro«, dann »gli ufficiali« in prachtvollen Uniformen oder edlem Zivil: »un capitano«, »il colonnello De Zan, che comandava il reparto operativo«, »il sostituto procuratore Deianna, della Direzione distrettuale antimafia«, und weitere werden folgen.
Die Rivalitäten zwischen diesen Abteilungen, Institutionen, Hierarchieebenen und Einzelpersonen treten mehr oder weniger unverblümt zutage (»la guardava con disappunto«), erschweren die Arbeit, führen gar zu Tränen. Da das erste Mordopfer mit einer Mafia-Familie verwandt ist, reklamiert die antimafia-Abteilung ihre Zuständigkeit; oder sollte man sich vielleicht doch lieber auf eine »collaborazione interforze e … un ufficiale di collegamento« verständigen? Am Ende lautet die salomonisch-diplomatische Devise des Chefs: »Non voglio casini, cercate tutti la stessa cosa, anche se per strade diverse.«
Intern weiß ohnehin jeder in der Fußtruppe, wer der fähigste Killerjäger ist: Grazia Negro soll sich das inzwischen il Cane benannte Monster holen, so wie sie vor etlichen Jahren schon l’Iguana und il Pit Bull gegriffen hat (Protagonisten aus Lucarellis früheren Thrillern »Almost Blue« und »Un giorno dopo l’altro« – 2013 in einem Einaudi-Sammelband neu herausgegeben: »L’ispettore Grazia Negro« ): »Grazia, … ti avevo detto di prendermelo, ’u Cane!« Doch ihr ist gar nicht danach. Einerseits ist sie noch immer tief geprägt durch die damaligen Erlebnisse – bloß nicht noch einmal einem Serienkiller nachstellen müssen (»cazzo … cazzo«)! –, andererseits steckt sie gerade in einer schwierigen Phase ihres Privatlebens. Am Ende bleibt ihr keine Wahl: Sie kann sich der Aufgabe einfach nicht verweigern, und ehe sie es sich versieht, steckt sie mittendrin …
Wir verfolgen detailliert die Arbeit der Ermittler, wie sie ab und an ein Mosaiksteinchen finden, ohne dass sich ein Gesamtbild ergeben will. Indessen beißt il Cane weiter zu. In der allgemeinen Frustration gehen die Polizisten schon mal eigene Wege, recherchieren ohne offiziellen Auftrag, wo sie eine Spur erhoffen. Die Vorgesetzten reagieren gereizt; es rollen Köpfe, und es droht der worst case für einen Bologneser Polizisten: die Strafversetzung ins sardische Nuoro.
Mehr zum Plot sei hier nicht verraten (nicht zuletzt wegen der gruseligen Drohung, die Lucarelli in seinem netten Nachwort für Rezensenten bereithält, die in dieser Hinsicht zu weit gehen!). Des Autors eigene Einschätzung seiner Handlungsgestaltung klingt bescheiden: »Ci sono alcune piccole sorprese nel mio racconto ….«
Und in der Tat ist es nicht unbedingt der thrill, der den Reiz der Lektüre ausmacht. Auch mitzuraten, wer der geheimnisvolle Mörder sein mag, fällt wegen der Indizienkargheit schwer. Vielmehr ist es Lucarellis einzigartiger multiperspektivischer Stil, der fasziniert und für ständigen Wandel und Überraschungen sorgt.
Da wechseln Passagen, die direkt aus dem Hirn des Killers heraussprudeln, mit formelhaft-steif formulierten Protokollauszügen, Lexikon-Definitionen, unter die Haut gehenden letzten Minuten der Opfer (ebenfalls aus deren Innensicht mitzuerleben), dann wieder ›konventionell‹ erzählten Szenen im Kommissariat, ärztlichen Beratungen, Mitfahrten in Grazia Negros Auto, stillen Überlegungen und intensiven Begegnungen in ihrer Wohnung.
Die zentralen Personen stammen aus verschiedenen Regionen und werden durch ihre dialektalen Ausspracheeigenheiten hübsch charakterisiert (eine Spezialität Lucarellis, die er auch in seinen anderen Büchern pflegt): Wenn etwa die Sardin Deianna »Colonnello« sagt, dann mit »due l anche all’inizio e la e stretta«.
Den größten Anteil am ›soundtrack‹ bilden Zitate aus etwa einem Dutzend Popsongs zum Thema rabbia (die meisten bei Youtube anzuhören). Sie stammen von cantautori wie Luca Carboni und Peppe Voltarelli und so unterschiedlichen Gruppen wie Ricchi e Poveri, Mattanza und Rammstein (»Benzin«).
Aus all diesen Elementen entsteht ein komplexes Gesamtkunstwerk. Lucarelli zeichnet mehrere subtile, vielschichtige Charaktere (etwa die zwischen beruflichem Ehrgeiz und ihren persönlichen Bedürfnissen und Wünschen, zwischen Agieren und Zaudern hin und her gerissene Protagonistin Grazia Negro), er spielt mit Perspektiven und Stilen, stellt Bezüge zu Musik und Internetkultur her, und er lässt soziale Fehlentwicklungen durchschimmern: lebensgefährliche Zustände auf Baustellen, Ausbeutung der Arbeitskraft, miserable Lebensbedingungen der Flüchtlinge, organisierte Kriminalität, der Verfall der Städte, die Offenheit des Internets selbst für absurdeste Vorstellungen, dazu sein ewiges Gedächtnis (Auch wenn das Monster am Ende dingfest gemacht und sein unsäglicher Blog von der polizia postale (!) stillgelegt ist, wirkt seine Botschaft weiter.). Dieses brisante Klima, so scheint der Autor vermitteln zu wollen, kann Wut schüren, die grenzenlos und glühend, fehlgeleitet und pervertiert wachsen kann.
Zuviel der guten Absicht, scheint mir. In der Vielfalt der Aspekte bleiben für jeden einzelnen nur ein paar oberflächliche Schlagwörter, deren Relevanz für die Thriller-Handlung sich in bescheidenen Grenzen hält.
Schon der Buchtitel ist überspannt und führt damit in die Irre: »Il sogno di volare« heißt ein Lied des cantautore Andrea Buffa, das von dem zerstörten Jugendtraum eines illegalen Immigranten handelt. Lucarelli verknüpft es atmosphärisch mit der Romanhandlung, ohne aber das Bildkonzept selbst zu übernehmen. Wenn er nun den Songtitel eins zu eins als Buchtitel verwendet, obwohl niemand in diesem Roman fliegt oder auch nur metaphorisch vom Fliegen träumt, klaffen geweckte Erwartungen und Lesestoff unnötig weit auseinander.
Nichtsdestoweniger hat Lucarelli sein Handwerk ordentlich ausgeführt, so wie er es in seinem Nachwort sympathisch schlicht charakterisiert: »Io sono un romanziere … di gialli, thriller, noir … Noi inventiamo, con l’unico obbligo di essere il più verosimili e il più sinceri possibile.« Dass er auch Anspruchsvolleres und Komplexeres zustandezubringen vermag als einen soliden Thriller, beweist sein historischer Roman »L’ottava vibrazione« (Lesen Sie hier meine Rezension auf Bücher Rezensionen).