Carabinieri d’Africa – Spannung, Exotik, Sprachgenuss
Das neue »Albergo Italia« in Asmara (Eritrea) soll Größe und Kultur der Kolonialmacht verkörpern, deren stolzen Namen es trägt. An nichts wurde gespart, damit seine illustren Gäste ihren Tätigkeiten in exklusiver Umgebung nachgehen können. Doch schon am Tag der offiziellen Eröffnung fällt – neben einem heftigen Hagelschauer – ein Schatten auf den modernen Prachtbau: Von der Decke seines Zimmers baumelt die nackte Leiche von Antonio Farandola, Buchdrucker aus Turin. Dass der Selbstmord nur vorgetäuscht ist, wird dem kundigen Auge schnell klar, und auch, dass der Mörder noch im Raum gewesen sein muss, als die Polizei die von innen verschlossene Tür aufbrach. Deshalb kommen als Tatverdächtige nur vier Personen in Frage.
Die Untersuchung leitet capitano Colaprico von den königlichen carabinieri mit seinem Assistenten Ogbà, einem einheimischen Hilfspolizisten (zaptiè). Die beiden sind ein perfektes Gespann. Colaprico war zuvor in der Maremma und in Sizilien stationiert, wo er das Brigantentum bekämpfte, kam dann in Palermo dem auf die Spur, was man dort »maffia« nannte. Kaum glaubte er das Phänomen besser zu durchschauen und Verbindungen in immer höhere Kreise zu erkennen – etwa zum marchese Emanuele Notarbartolo, dem presidente del Banco di Sicilia –, da wurde er flugs befördert und in die ostafrikanische colonia abgeordnet.
Ogbà diente als Soldat, als man ihn für die anspruchsvolle Aufgabe bei den carabinieri reali di Asmara ins Auge fasste. Auf die Frage, was »la migliore qualità per uno zaptiè« sei, dachte er nicht, wie seine Mitbewerber, ans Schießen, sondern antwortete: »Osservare.« Dann, auf Nachfrage: »Anche ascoltare.« Schließlich: »Conoscere.« Damit hatte er seine eigenen Qualitäten umschrieben, zu denen noch messerscharfe Logik, Eigenständigkeit, unbedingte Loyalität und feine Diplomatie gehören. Denn er weiß, wie die Herren gestrickt sind: »L’aveva capito subito che lo sgabello era troppo basso per impiccarsi, ma sapeva anche che ai t’liàn piaceva credere di averle fatte loro, le cose. Cullu ba’l è, so tutto io.« Wenn er etwas beizutragen hat, dann nur »con tutto il rispetto, signore«. Den capitano macht Ogbàs feine Zurückhaltung jedoch nur ungeduldig, denn er respektiert seinen »Sherlock Holmes abissino« und vertraut ihm uneingeschränkt.
Ein zweites Verbrechen, nicht minder bemerkenswert, müssen die beiden aufklären. Unbekannte brachen in ein Militärlager ein. Mit den raumhoch gestapelten Kisten darin konnten sie nichts anfangen, denn sie sind voller Skier mit dem Wappen der königlichen Gebirgsjäger Corpo degli alpini ... Wie kommen Skier ans Horn von Afrika? Ladungen zu verschieben wie bei einem gioco delle tre carte (dem »Hütchenspiel«), bis sie endlich verschwinden, war schon vor hundert Jahren eine beliebte Methode der Bereicherung – doch das ist eine andere Geschichte ... Die Einbrecher fanden auch einen kleinen Tresor, mit dessen Vermietung einer der Wachsoldaten seinen Sold aufbesserte, und den schleppten sie als einzige Beute davon. Bald findet man den Safe an einer Lagerstelle irgendwo im felsigen Hinterland, geöffnet, leer, und darauf die verstümmelten Reste des abgetrennten Kopfes von Lallai, einem Bandenführer ...
Die beiden Fälle, so stellt sich heraus, haben miteinander zu tun, aber die Frage, wer den Mord im »Albergo Italia« begangen hat, wird erst am Schluss gelöst. Bis dahin verhören die beiden vorbildlichen Polizisten diverse Persönlichkeiten, verfolgen Spuren ins heiße Nirgendwo, erörtern ihre Theorien. Das Mord-Kammerspiel und der Diebstahl einiger Kleinigkeiten sind Folgen einer unglaublichen (realhistorischen) Affäre, die aus den höchsten Kreisen des Mutterlandes ins exotische Ostafrika herüberschwappt ...
Neben dem spannenden Krimiplot hat dieses Buch noch weitere Seiten, die es absolut lesenswert machen.
Wie in Lucarellis anderen Romanen dürfen wir feine Charakterzeichnungen genießen, beider Protagonisten ebenso wie vieler Nebenpersonen, etwa der jungen Ualla, die den wachhabenden Soldaten ablenken soll. Wie immer ein Genuss ist der perlende Stil dieses Autors, der mit den Wörtern spielt, ihre Bedeutungsnuancen abklopft, ihren Klang ausprobiert, und dies nicht nur im Italienischen, sondern auch in tigrigna, einer der Sprachen der Kolonie.
Am interessantesten aber ist, wie Lucarelli Italiens Kolonialgeschichte aufbereitet. Mehr noch: Allein dass er dies tut, ist ungewöhnlich. Denn bislang ist die wenig ruhmreiche Periode (die immerhin sechs Jahrzehnte währte) literarisch unbeachtet geblieben. Drei Jahrzehnte nach der Erlangung der nationalstaatlichen Einheit wollte das Land mitmischen bei der Aufteilung Afrikas unter den Großmächten. Man erhoffte sich Ackerland, billige Rohstoffe und internationalen Machtgewinn. Seit 1882 setzten sich die Italiener in Eritrea am Roten Meer fest und richteten neben militärischer Infrastruktur auch Versuchsplantagen ein. Die Auseinandersetzungen mit dem bedrängten und hintergangenen abessinischen Kaiser (»Negus«) Menelik II. eskalierten zu einem Krieg, der am 1.3.1896 mit der vernichtenden Niederlage der Italiener bei Adua endete.
Von dieser Phase handelt Lucarellis erster KolonialRoman, »L’ottava vibrazione« [› Rezension], eine breit angelegte Schilderung des vielschichtigen gesellschaftlichen Lebens in der Colonia Eritrea, wohin capitano Colaprico versetzt worden war. Im Zuge seiner Recherchen für diesen Roman hatte Lucarelli Eritrea mehrfach besucht (und dabei seine Frau kennengelernt, deren Großvater ihn zur Figur des Ogbà inspirierte). Seine Vertrautheit mit den Menschen, den Feinheiten ihrer Sprachen, den geographischen und klimatischen Gegebenheiten machen nun auch den Kolonial-Kriminalroman zu einem besonderen Leseerlebnis. Den Reiz vertieft noch, dass wir durch den zaptiè Ogbà Zugang zur Perspektive der kolonialisierten Einheimischen erhalten – wobei das, was er nicht ausspricht, oft am aufschlussreichsten ist: »Pensava t’liàn fetiunní ilkà aitiaguès, non sentirti felice se l’italiano ti ha detto che ti vuole bene, t’liàn tzelliunní ilkà ait’guai, non sentirti triste se l’italiano ha detto che ti odia. Cioè: mai prenderli troppo sul serio, comunque.«
Als das »Albergo Italia« eröffnet wird, hat sich das Leben in der Kolonie normalisiert. Glanz und Träume der Pionierzeit haben sich drei Jahre nach Adua, dessen Trauma noch allgegenwärtig ist, verflüchtigt; man hat sich aus der stickigen Hafenstadt Massaua ins angenehmere Hochland zurückgezogen und Asmara (2.300m ü.d.M.) als neues Zentrum erkoren. (Seit 1889 besetzt, wird Asmara 1900 Hauptstadt der Kolonie und bleibt es bis zum Einmarsch der Briten 1941.) Nicht verändert hat sich das Publikum: Da ist die feine Gesellschaft der Verwaltung und des Miltärs, da tummeln sich Wissenschaftler, Journalisten und vornehme Damen, dazwischen zwielichtige Geschäftemacher, Abenteurer, Hazardeure, Falschspieler, und die Grenzen der Ehrenhaftigkeit sind fließend. Die Kolonie erweist sich als Mikrokosmos, der Missstände des Mutterlandes spiegelt und zu spüren bekommt, die es leider bis heute nicht ablegen konnte, darunter Amtsmissbrauch, Bestechlichkeit, Betrug, Intrigen. Der historische Kriminalroman ist insofern ein aktueller Beitrag: »Corruzione, mafia, maneggi politici: ogni volta che indago il passato trovo corrispondenze con il presente«, sagt Lucarelli.
Der capitano Colaprico und sein Vertrauter Ogbà (ein Duo der Reverenz an Arthur Conan Doyle) sind in ihrem undurchsichtigen, quirligen Umfeld Fixpunkte unbestechlicher Aufrichtigkeit. Der Vorbildcharakter ist unaufdringlich, aber beabsichtigt. Denn die traditionsreiche und stolze Truppe der Arma dei Carabinieri feierte am 13. Juli 2014 den 200. Jahrestag ihrer Gründung durch König Vittorio Emanuele I., und da »la letteratura ... ha un potere ... di offrire carne e sangue alle idee«, wurden in Kooperation mit dem Verlag Einaudi vier Bücher von Autoren der ersten Liga aufgelegt, die den Ruhm der Zunft zu mehren vermögen. Eine Sonderausgabe wird nur an carabinieri abgegeben. Die vier Titel erzählen vom erfolgreichen Wirken der carabinieri in drei Phasen ihrer Geschichte:
• 1846–48: Giancarlo De Cataldo: »Nell’ombra e nella luce« [› Rezension] (Oktober 2014) – Der historische Kriminalroman spielt in Turin, mitten in den ideologischen Wirren der Gründungszeit des italienischen Nationalstaats und des Aufstands gegen Österreich. Zwischen Revolutionären und Vertretern der alten Ordnung, schönen Frauen, Freunden und Feinden jagen die carabinieri einen Serienmörder.
• 1899: Carlo Lucarelli: »Albergo Italia« [› Rezension] (Juni 2014) – Der meisterhafte historische Kriminalroman um den carabiniere Colaprico und seinen einheimischen Assistenten Ogbà schildert das Leben in der italienischen Kolonie Eritrea anno 1899. Hinter einem scheinbar belanglosen Diebstahl aus einem militärischen Warenlager und einem vorgetäuschten Selbstmord im repräsentativen Nobelhotel werden Missstände sichtbar, die das italienische Gemeinwesen noch heute belasten.
• 1980er Jahre: Gianrico Carofiglio: »Una mutevole verità« [› Rezension] (Juli 2014) – Der Mörder ist schnell gefasst und durch Indizien eindeutig überführt, doch maresciallo Fenoglio traut dieser Wahrheit nicht. Ein philosophisch angehauchter Krimi.
• 1980er Jahre: Valerio Massimo Manfredi: »Le inchieste del colonnello Reggiani« [› Rezension] (April 2015) – Die fünf Kriminalgeschichten erzählen von der Aufklärung spektakulärer Kunstdiebstähle. Die carabinieri agieren auf internationalem Parkett, um italienisches Kulturgut zu retten.