Von Sternen und Menschen
Lucina ist »un capolavoro del creato« – bildhübsch, klug, geschickt und stark. Schon als Kind erkennt sie ihr natürliches Talent; ihre Tante Lena schult es behutsam zu einem Beruf: Sie wird Hebamme, eine »mammana«.
Frauen, die ein ungeborenes Leben zur Welt bringen, aber auch nehmen können, standen im engstirnigen Volksglauben leicht mit einem Bein im Reich der Magie, und es bedurfte nur eines kleinen Fehltritts – oder missgünstigen Fingerzeigs –, um sie aus der Gemeinschaft auszugrenzen. Lucina, die wir von ihrem zehnten bis vierzigsten Lebensjahr begleiten (sie wurde 1817 geboren), ist überdies kein Charakter, der sich leicht einfügt. Vor allem aber ist sie geprägt von einer seltenen Andersartigkeit, die es ihr schon schwer genug macht, sich selbst zu finden. Vor der Öffentlichkeit aber muss sie ihr Geheimnis um jeden Preis schützen, wenn sie in Ruhe leben will.
Eigene Kinder wird sie nicht bekommen. Aber als Ende Februar 1843 drei Nächte lang ein Komet seine Bahn über den Himmel zieht und die ängstlichen Menschen in böse Vorahnungen stürzt, ergreift sie ihre Chance. Seit vier Jahren arbeitet sie schon in Marzanello, hat 27 Geburten begleitet. Geschätzt wird sie nicht; die einen neiden ihr ihre Schönheit, andere finden sie hochmütig, manchen ist sie unheimlich. Nur einer im Dorf steht über den kleinmütigen Munkeleien: der wohlhabende und gut aussehende Bartolomeo Campopiano. Seit Lucina seinen florierenden Dorfladen zum ersten Mal betrat, ist er hoffnungslos verliebt, so zugeknöpft sie sich auch gibt.
In der dritten Kometennacht verhilft Lucina bei einer schweren Geburt in einem abgelegenen Weiler einem Mädchen ins Leben, das unter den himmlischen Vorzeichen nur mit einem Fluch belegt sein kann, eine »capa janca« (ein Albino) obendrein. Die Mutter verleugnet den Säugling, hält ihn für ein Teufelsgeschöpf des Sterns, verfällt dem Wahnsinn; auch der Vater wäre das fünfte Mädchen in seiner Familie am liebsten wieder los. Lucina aber hat es gleich liebgewonnen. Sie nimmt es einfach mit, gibt ihm den passenden Namen Stella und zieht es auf, großzügig und vorbehaltlos unterstützt vom treuen Bartolomeo.
Doch ihrem Schicksal kann Lucina nicht entfliehen. Ein Marktbesucher aus Grazzanise am Volturno, dem Dorf ihrer Kindheit, erkennt sie wieder, gefährdet ihr Geheimnis, und sie flieht mit Bartolomeos Hilfe nach Neapel. Im brodelnden Getriebe der Großstadt hofft sie, dass man ihr ihre Geschichte, ihr Mann sei gleich nach der Hochzeit und noch vor der Geburt ihres Kindes verstorben, abnimmt und sie und Stella in Frieden leben lässt.
In Neapel, »accogliente e minacciosa insieme«, warten freilich neue Bedrohungen. Missgunst und Aberglauben gedeihen in dieser Gerüchteküche noch abenteuerlicher, und Lucina trägt selbst dazu bei, wieder in eine Außenseiterrolle zu geraten. Stolz, starrköpfig und eigensinnig ist sie ganz auf Stella fixiert, vergöttert und verwöhnt sie, schließt sich mit dem blassen Kind ein, um es vor der Sonne zu schützen, aber auch, um kein Aufsehen zu erregen, und sie brüskiert Menschen, die ihr vielleicht behilflich sein könnten, darunter sogar der standhafte Bartolomeo.
So enden alle drei Hauptphasen von Lucinas erzähltem Leben in Fluchten: Die erste führte 1834 aus Grazzanise hinauf in die gottverlassenen Berge der Provinz Caserta, die zweite aus Marzanello hinab ins Zentrum von Neapel, wo sie nie heimisch wird; erst die Osterfeier im idyllischen Garten einer befreundeten Familie hoch oben über der Stadt öffnet ihr Gemüt dafür, dass das Leben auch für sie und ihr Mädchen Schönes bereithalten könnte, und so ziehen die beiden hinauf nach Capodimonte, wo sie den Sternen am nächsten sein können.
Die Beziehung zwischen Lucina und Bartolomeo bleibt kompliziert. Sie lieben und begehren einander, in seltenen Momenten der ›Schwäche‹ kommen sie einander sehr nahe. Doch Lucina fürchtet, dass ihr Geheimnis alles, was sie gewinnt und jemals erhoffen darf, unwiederbringlich zerstören werde. Um nur ja keine falschen Hoffnungen keimen zu lassen, hält sie ihn emotional und räumlich auf Distanz, gewährt ihm nur Besuche und Briefe. Ohne also auf Erfüllung hoffen zu dürfen, schenkt ihr Bartolomeo seine Liebe – selbstlos, bedingungslos, unumstößlich.
Die Protagonisten sind recht moderne Individualisten, deren Denken und Handeln durchaus provoziert. Antonella Ossorio hat ihre Charaktere in einfühlsamer Innensicht differenziert gestaltet, ihr Lebensumfeld (historisch, sozial, sprachlich) sorgfältig aufbereitet und ihnen reichlich Personal zur Seite gestellt, um die Positionen zu kontextualisieren. Dazu begleiten Katzen, Hühner, Ziegen und vor allem treue Hunde Lucinas Weg. Doch trotz bewegter Handlung bleibt, da es keine einfachen Lösungen geben kann, die Grundstimmung eher düster. Freude und Glück wollen und können in Lucinas Leben nur selten aufflackern.
Antonella Ossorios »Mammana« kommt in sehr traditionellem (und sprachlich anspruchsvollem) Erzählstil daher; thematisch ist ihr Buch jedoch hochmodern. In ihrer Zeit, von Patriarchat, Religion und Aberglauben beherrscht, bleibt Lucina nur, sich zu verbiegen. Sie tarnt sich und ihr Familienglück unter einem Geflecht von Lügen: »C'era poco da fare: la regina di tutte le bugie, la voragine che inghiottiva ogni pretesa di normalità l'avrebbe sempre seguita come la sua ombra. Inutile farsi illusioni, lei non era e non sarebbe mai stata una donna come le altre. ... Mentire fino all'ultimo respiro: per conservarsi quello che s'era conquistata le toccava in sorte questo sacrificio. Ma in confronto ai benefici ottenuti, non era un prezzo troppo alto. Questi pensieri occupavano la mente della mammana, mentre rincasava.«
Ihr späteres Leben wird immerhin erleichtert und bereichert durch eine heute allgegenwärtige, damals noch unbenannte Erfahrung: »Quanti inutili rovelli si sarebbe risparmiata, se solo avessero coniato prima la parola ›sorellanza‹.« Doch um Anerkennung müssen Frauen wie Lucina – eine ›Randgruppe‹ – noch zwei Jahrhunderte später kämpfen.
»La mammana« übergreift die Genres: Dies ist ein Gesellschafts-, Frauen-, Liebes- und historischer Roman – ein deutlich feminines Buch, aber kein feministisches. Im Mittelpunkt stehen Lucinas vielfältige, komplexe Beziehungen – Vertrauen zwischen Tante und Nichte; Liebe zwischen Mann und Frau; Liebe zwischen Mutter und Tochter; Freundschaft und Solidarität zwischen Frauen.
Hingebungsvoll widmet sich die Autorin (gebürtige Neapolitanerin) dem bedeutsamen Schauplatz Neapel. Mit allen Sinnen erfassen wir Straßenzüge, Stadtviertel, Feste, Gebräuche, Dialekte, Lieder und Redensarten (»coi se e coi ma la Storia non si fa«), so dass wir die Stadt zwischen »la grande via Toledo dal lato opposto ai Quartieri Spagnoli« bis hinauf nach Moiariello zum »Reale Osservatorio Astronomico di Capodimonte« kennenlernen (und erwandern könnten).
Reizvoll sind die symbolischen Bezüge im Großen und im Kleinen. Das Bedeutungsspiel um die Sterne und den großen Kometen, nach dem das bleiche Kind benannt wird, vertieft um die Kategorien Dunkel und Licht, verquickt die Autorin kunstvoll in einer Handlung, in der eine »Stella« das Leben einer »Lucina« erhellt, welche Leben schenkt (»Lucina, ›colei che porta i bambini alla luce‹, era l'antica dea del parto.«).
Dass gleich zwei Kometen Anfang und Ende von Lucinas aufregendster Zeit markieren, symbolisiert, dass sich ihr individuelles Schicksal in bedeutsamerem Kontext vollzieht. Zwischen »la Grande Cometa di Marzo« (1843) und »la Grande Cometa Donati« (1858) wurde Europas politische Ordnung revolutionär erschüttert und die italienische Nation geboren. Dass irgendwo in weiter Ferne Menschen blutig aufbegehren, erreicht Lucinas Ohren freilich nur gerüchteweise (»contro quale autorità, e a favore di chi la faccenda si fosse conclusa, lei non lo sapeva«), bis schließlich auch in Neapel ein paar blutige Tage für (großartig beschriebenen!) Aufruhr sorgen.
Antonella Ossorio hat sich bereits als Kinderbuchautorin einen Namen gemacht. Nun reüssiert sie mit diesem äußerst vitalen Roman, der thematisch, emotional und ästhetisch gleichermaßen überzeugt.