Räuber und Gendarm
Ach, auf welches Pferd soll sie nur setzen, die aufgeweckte Adelaide Pizzi? Im Rennen sind Alfredo Denti und Ernesto Tagliaferri (genannt »il Taglia«), und beide sind weit entfernt vom Ideal eines Mannes, dem eine junge Frau ihre Gunst schenken möchte.
Ernesto sieht besser aus und ist der kessere der beiden. Er hat ihr sogar schon einmal einen Kuss abgerungen – und bei der Gelegenheit gleich dreist noch etwas mehr mitgenommen. Seither übt er eine gewisse Faszination auf sie aus. Aber »il Taglia aveva una cert’aria da maledetto, a causa di un ciuffo ribelle che gli cadeva continuamente sulla fronte e della barbetta non fatta«, und ihr schwant, dass sein Einfluss kein guter ist …
Dagegen wäre Alfredo ein sichererer Hafen für eine Ehe. Der Achtundzwanzigjährige kommt aus gutbürgerlichem Hause, wohnt brav bei Mama Benvenuta, 68, mit der er Sonntags Arm in Arm zur Messe schreitet, und übt als Automechaniker einen ehrenwerten Beruf aus. Doch Alfredo ›im Rennen‹? Zwar trifft er sich schon seit einem Jahr mit ihr vor der Fabrik, wo sie arbeitet, oder seiner Werkstatt, aber es geht nicht voran mit ihrer Beziehung. Welches Thema Adelaide auch immer anschneidet – mehr als »non saprei«, »cioè …«, »magari …«, »vedremo …« und dazu »la faccia del broccolo« kann sie ihm nicht abringen. Nach Jahren mütterlicher Dominanz ist es nicht sein Ding, Stellung zu beziehen, gar Initiative zu entwickeln; »essere davanti a un fatto compiuto era il motivo conduttore della sua vita.«
Also vollenden andere die Tatsachen. Auf der einen Seite verteidigt Mama Benvenuta eifersüchtig den Status Quo, schon gleich gegen eine ordinäre Arbeiterin wie Adelaide (»,Chiuso il discorso‹, fece lei.«), auf der anderen wird Adelaide immer ungeduldiger (»Sputa il rospo Alfredo!«). Vielleicht kann sie ihn ja ein Stückchen weiter zu seinem Glück schubsen, indem sie ihm von Ernesto berichtet …
Da ist »il Taglia« schon aus anderem Holz geschnitzt. Er weiß nicht nur genau, was er will, sondern packt auch entschlossen zu. Wenn es darum geht, attraktive Frauen zu umgarnen, den Leuten Geld aus der Tasche zu ziehen, Betrügereien auszuhecken oder die Polizei zu täuschen, entwickelt er einen ungeahnten Reichtum an Einfällen. Leider greift er aber immer zu den falschen Mitteln. Welch ein grandioser Erfolg hätte beispielsweise die von ihm organisierte Lotterie werden können, wenn er nicht … Oder denken Sie an seine geniale Initiative, das große Radrennen journalistisch zu begleiten … Und wie überzeugend gab er den ehrbaren Fischer, der die caserma dei carabinieri alltäglich mit (fast) frischem Fisch belieferte …
Am Ende kommt ihm stets der maresciallo Pezzati auf die Schliche und zieht ihn in Kooperation mit dem gleichgesinnten Richter für ein paar Monate oder Jahre aus dem Verkehr, versehen mit Ermahnungen und guten Tipps für seine Besserung.
Schlauer wird Ernesto freilich nicht. Wenn er wie gewohnt für einige Zeit abtaucht, fragt sich jeder, was er wohl wieder anstellen mag. Einmal kehrt er in einem schnieken Alfa Romeo Spider zurück und spielt den großen Maxe – bis alle Reserven erneut derart ausgetrocknet sind, dass es Adelaides mütterliches Mitleid erweckt: »Povero Ernesto, solo come un cane, senza arte né parte, senza futuro« …
Sagen wir es ohne Umschweife: »Il Taglia era ancora più stupido di quanto il maresciallo Pezzati credesse … però, era convinto di essere il più furbo del creato.« Und die Kumpels, mit denen er sich zusammentut, spielen in keiner höheren Liga, denken wir zum Beispiel an »il Cereghèt«, der sich für »una raffinata mente criminale« hält …
So für sich betrachtet, scheinen Handlung und Weltbild geradewegs dem Volkstheater zu entstammen: Da ist die muntere Adelaide, die ihrem zögerlichen Alfredo nebst bärbeißiger Frau Mama Beine macht, sich in die Machenschaften des Kleinkriminellen Taglia hineinziehen lässt (was dem braven Vater, seines Zeichens ehrbarer Lokomotivführer, fast das Herz bricht), am Ende aber alles erreicht, was sie wollte. Räuber Taglia bekommt wiederholt die Leviten gelesen, lernt aber nichts dazu. Für Ordnung sorgt der unerschütterliche, gewitzte und etwas eitle Dorfpolizist Pezzati mit seinen Mannen und Helfern im Örtchen. Über allem schweben (so meinen sie jedenfalls) die ›feinen‹ Honoratioren wie »il professor Invitto Lodi« und Gemahlin Maria Cristina Berteggi in Lodi, Vorsitzende des gemeinnützigen und ungeheuer prestigeträchtigen Vereins »Avis«.
Aber wie hübsch, wie amüsant ist es, von diesen Typen und ihren Ränkespielen zu lesen, wenn ein begnadeter Erzähler wie Andrea Vitali sich ihrer annimmt! Seine sprachliche Gestaltung ist ganz und gar nicht simpel, sondern solides Kunsthandwerk, das beste Unterhaltung bietet. Detailreich, farbenfroh und einfallsreich entfaltet er die Ereignisse, und stets leicht ironisch bis süffisant zeichnet er seine diversen Charakterköpfe, von denen jeder, aber auch jeder einen markanten Namen, ein paar kauzige Eigenschaften und eine kleine Biografie erhält.
Vitalis Wortschatz ist reichhaltig (darin auch die eine oder andere Dialektpreziose, z.B. »slandra«, bisweilen volkstümlich-deftig, ohne ordinär zu werden), aber immer kontextuell eng verflochten, so dass man jederzeit zumindest ahnt, was gemeint ist. Dazu nette Redensarten, eine makellose Grammatik – alles zusammen macht Vitali-Bücher zur idealen Lektüre für jeden, der seine Italienischkenntnisse mit Genuss und wenig Mühe aufpolieren möchte.
Andrea Vitali, Arzt und produktiver Schriftsteller, stammt aus Bellano am Comer See, und dort siedelt er auch seine Romane an. Drüben das Schweizer Ufer, hier Italien, die Provinzhauptstadt Lecco und die vielen Dörfer der Umgebung liefern ein reizvolles Ambiente für die unterschiedlichsten Plots, und Vitalis Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten macht seine Geschichten dicht und authentisch. Die Atmosphäre ist meist etwas nostalgisch; »Un bel sogno d’amore« setzt 1973 ein und währt ein paar Jahre, die wie ›die gute alte Zeit‹ erscheinen.
Lassen Sie sich übrigens nicht durch Klappentext und Verlagswerbung in die Irre führen: Der Streit um die Vorführung des Films »Der letzte Tango«, der überall zitiert wird, als sei er das zentrale Motiv des Romans, dient nur als Einstieg für die ersten paar Seiten und ist für den Rest der zahlreichen Handlungsstränge belanglos.
Zum Abschluss noch ein paar Kostproben von Vitalis Erzählkunst:
Über la signora Benvenuta:
»Adelaide … la chiamò con il nomignolo che da tempo aveva appreso. ›Facia de can‹, faccia di cane: le stava bene, tra l’altro, con quell’espressione sempre altera, scontrosa, da cane incazzato.«
»I morti di famiglia aspettavano una sua visita.«
Über Carolina Tirelli, die neugierigste aller Nachbarinnen:
»Carolina Tirelli, due mariti sul groppone. Morti. Volati nell’aldilà, secondo alcuni, per libera scelta e allo scopo di non sentirla più parlare.«
»una veterana nelle tecniche di infiltrazione«
»Completavano un apparecchio ricetrasmittente di rara affidabilità occhi e orecchie sempre all’erta e al servizio di un’inestinguibile sete di sapere i fatti altrui.«
Über Ernesto Tagliaferri und maresciallo Pezzati:
»Bene maresciallo, grazie di tutto e arrivederci a mai più.« Al che il Pezzati aveva risposto: »Ma sei scemo davvero o fai finta?«
»Il Taglia non era che un piccolo pesce, forse il più piccolo di tutti.«
Redensarten und Sprichwörter:
»Chi va con lo zoppo impara a zoppicare!«
»Raglio d’asino non sale in cielo.«
»Chi non muore si rivede.«
»Lui le fette di salame sugli occhi non ce le aveva mica …«
»Balle belle e buone!«
»Occhio aperto e culo fermo.« (Devise für den carabinieri-Nachwuchs)