Die Botschaft des Opfers
Die Handlung
Auf mysteriöse Weise wirft der kommende Fall einen Schatten voraus. Ein Albtraum beunruhigt den commissario Montalbano. Er torkelt, eine Petroleumlampe in der Hand, durch einen finsteren Tunnel, der jeden Moment einzustürzen droht. Hinter sich hört er das Keuchen und Stöhnen eines Verletzten, der klagt, wegen seiner Blutverluste nicht mehr Schritt halten zu können; dann fällt er vornüber zu Boden. Aus dem Rücken des Toten ragt ein großes Küchenmesser. Ein gewaltiger Windstoß bläst Salvos Licht aus, und der Stollen kracht zusammen ...
Die Realität von Vigàta erweist sich als nicht weniger feindselig als Salvos Traumland. Heftiger Regen hat die ganze Gegend unter Wasser gesetzt, Sturzbäche haben Erdrutsche verursacht, Straßen, Gärten, Felder und Olivenhaine versinken in graubraunem Schlamm. Während der gesamten Romanhandlung wird es kein besseres Wetter geben.
Auf einer Baustelle wurde eine Leiche gefunden. Giugiù (Gerlando) Nicotra heißt der Tote, und er arbeitete für eine große Baufirma, die gerade mit dem umfänglichen öffentlichen Auftrag einer Wasserleitung befasst war. Mannshohe Betonrohre werden im Erdreich verlegt; in einem frisch angelegten Tunnel werden sie einen Hügel unterqueren. Nach der Sintflut der vergangenen Nacht ist die Baustelle eine fahle, bodenlose Schlammlandschaft, aus der skurrile Riesenmaschinen wie Saurierskelette herausragen.
Was man an Indizien vorfindet, verweist auf einen eigenartigen Hergang. Demnach wurde Nicotra in der Nacht in den Rücken geschossen und floh dann schwer verletzt im strömenden Regen und nur mit Unterwäsche bekleidet auf dem Fahrrad seiner Frau bis zur Baustelle. Dort verkroch er sich mit letzter Kraft in dem Tunnel, wo er starb. Montalbano interpretiert diese mühselige letzte Flucht als Versuch, den Ermittlern eine Botschaft zu hinterlassen: Der Schlüssel zur Aufklärung meines Todes ist im Umfeld der Bauarbeiten zu suchen.
Auch Nicotras privates Umfeld hält einige Rätsel bereit. Denn nicht nur seine deutsche Ehefrau Inge – alles andere als eine treue Gemahlin – ist spurlos verschwunden, sondern auch ein geheimnisvoller Mitbewohner ihres Hauses, der sechs Monate zuvor eingezogen war – angeblich ein pflegebedürftiger alter Onkel. Niemand kennt seinen Namen, niemand hat ihn je gesehen, und es gibt im Haus nicht einen Fingerabdruck von ihm.
Wie die villetta erst im Verlauf mehrerer Durchsuchungen überraschende Geheimnisse preisgeben wird, eröffnen auch die Nachforschungen zu Nicotras beruflichen Aktivitäten und Verbindungen Einsichten in eine Parallelwelt. Gesteuert von wenigen Akteuren, bestimmt ein Geflecht von Firmen das gesamte öffentliche Auftragswesen. Ausschreibungen werden manipuliert, vereinbarte Leistungen unterlassen, Materialvorgaben ignoriert, die Ausführung um Jahre hinausgezögert, Kosten in die Höhe getrieben. Möglich ist dies alles nur, weil einflussreiche Politiker, Gefälligkeitsgutachter, Anwälte und Behördenmitarbeiter mitspielen.
Doch damit nicht genug. Der seit Langem im Stillen reibungslos ablaufende Geschäftsbetrieb kommt aus dem Tritt, als ambitionierte Bosse eine Ausweitung ihres Einflussbereiches ankurbeln und ungeahnte Geldwäsche-Modelle realisieren möchten. Das ruft rivalisierende Mafia-Clans und das Establishment auf den Plan. Um das Erreichte zu verteidigen, sind alle Mittel recht: falsche Beschuldigungen und falsche Geständnisse, Einschüchterung und Erpressung, Einbrüche und Auftragsmorde. Auch Behörden mischen mit, indem sie beispielsweise Baustellen stilllegen.
In diesem Sumpf müssen die Polizisten ihren Weg finden. Etwa zur Halbzeit gelangt Montalbano zu der schönen Metapher, dass man ihnen, um sie in die Irre zu führen, »un gran tiatro« in mehreren Akten vorspielt. Selbstverständlich ist es ihm ein intellektuelles Vergnügen, sich auf diese Ebene einzulassen: »sugno uno spettatori che però, a un certo punto, avi tutto il diritto di diri come la pensa, se approva o disapprova.« Am Ende wird er als Autor, Regisseur und Schauspieler beherzt eingreifen und auch vor hemmungslosem und riskantem Bluff (»sfunnapedi«, »trainello«) nicht zurückschrecken.
Die Charaktere
Die ewige Beziehung zwischen Salvo und Livia war kürzlich schwer belastet worden, als der Nordafrikaner François bei einer Polizeiaktion ums Leben kam. Als Kind war er nach Sizilien geflüchtet, und als seine Mutter erschossen wurde, hatten Livio und Salvo mit dem Gedanken gespielt, den aufgeweckten, freundlichen Jungen zu adoptieren. Dazu kam es zwar nicht, aber sie verfolgten und unterstützten François' Lebensweg, als wäre er ihr Sohn. Sein früher und tragischer Tod entzog beiden den Boden unter den Füßen; Livia verfiel in Depressionen. Jetzt aber findet sie einen kleinen Tröster in Gestalt der Hündin Selene, und Salvo ist glücklich, dass sie wieder auf dem Weg zu ihrem früheren Wesen zu sein scheint. Nach Abschluss des Falls Nicotra wird er ins ligurische Boccadasse reisen, um sie zu besuchen, und er hat auch ein Geschenk für Selene im Gepäck.
Salvo selbst sorgt sich, wie schon gewohnt, wegen seines Alters und der nachlassenden Schärfe seiner Sinnesorgane. Dabei lassen ihn weder Geisteskraft noch Appetit im Stich. Auch mit seinen Kollegen, die ihm treu ergeben sind, hadert er gern. Sein Stellvertreter Mimì Augello bekommt schon mal eine Breitseite Ironie ab (»Biati l'occhi che ti vidino!«). Dagegen echauffiert er sich über Fazio lieber nur im Stillen, denn dessen Gewissenhaftigkeit und vorauseilende Pflichterfüllung sind, ohne dass er es je zugeben würde, die Grundlage für den Erfolg seiner eigenen gewagten Methoden (»›Già fatto‹ dissi. Al commissario il sangue acchianò alla testa e vitti russo. Quanno Fazio diciva 'sti dù mallitte paroli, a malappena arrinisciva a controllarisi.«).
Das Salz in der Suppe sind die auch in den Verfilmungen [› aktuelle Übersicht] immer authentisch besetzten Nebenfiguren ›aus dem Volk‹. Hier brillieren eine grantig-resolute Alte und ihr Sohn, die in ihrem Haus eine inoffizielle osteria betreiben. Über ihre Kochkünste überwinden Salvo und sie ihr gegenseitiges Misstrauen.
Botschaften und tiefere Bedeutung
Von den ersten Zeilen an betont der Autor die gesellschaftskritische Relevanz des Falles: »La sira avanti, 'n tilevisioni, il commissario aviva sintuto a 'no scinziato diri che tutta l'Italia era a rischio di un gigantisco disastro geologico pirchì non c'era mai stato un governo che si fusse seriamenti occupato del mantenimento del territorio. 'Nzumma, era come se il propietario di 'na casa non si fusse mai dato il pinsero di fari arriparari il tetto romputo o le fondamenta lesionate. E po' s'ammaravigliava e si lamintiava se un jorno la casa finiva per crollarigli 'n testa. ›Forsi è la giusta fini che nni meritamo‹ aviva commintato amaro Montalbano.«
Das trübe Setting des Romans – der Dauerregen, der Schlamm, die groteske Baustelle – ist von Symbolik durchtränkt. Die Verflechtungen, die Salvo enthüllt, haben Vigàta, die Provinz Montelusa, Sizilien und, wie Montalbano selber spekuliert, ganz Italien wie ein Pilzgewebe durchzogen, und das Motiv des Morasts, der die ganze Gegend versinken lässt, ist auf allen Bildebenen perfekt gestaltet: »Il fango della corruzione, delle mazzette, dei finti rimborsi, dell'evasione delle tasse, delle truffe, dei falsi in bilancio, dei fondi neri, dei paradisi fiscali, del bunga bunga ... Forsi, arriflittì Montalbano, quello era il simbolo della situazioni nella quali s'attrovava il paìsi 'ntero.«
Selbst Catarellas eigenwillige Phonetik trägt zur Interpretation bei, indem er es schafft, »fango« und »sangue« zusammenzubringen ...
Der Dreck verändert seine Erscheinung. An einer Stelle verkleidet er ein fünfzehn Meter hohes technisches Bauwerk zu einer Pyramide, dann fließt deren Spitze ab, und es verbleibt eine Art babylonischer Stufenbau. Bei seiner Betrachtung assoziiert Montalbano, wie es schon immer seine Spezialität war, geradezu physisch die Strukturen seines aktuellen Falles. »Sa che dentro alla piramide di Cheope nessuno per lungo tempo ci è potuto entrare perché non si riusciva a scoprire l'accesso? Poi qualcuno ha rotto gli indugi e ha praticato un foro nella parete ...« So findet er seine Strategie: »[fare] un buco nella parete della piramide«, »decapitando la piramide.« Ein winziges Detail illustriert auch, dass nicht alle Hoffnung vergebens ist: »Il fango sicco non era cchiù 'na copirtura compatta. Era travirsato da cintinara di spaccature simili a cicatrici raprute. E dintra a 'ste spaccature stava criscenno daccapo il virdi di l'erba. Era propio questo che voliva vidiri. Si nni sintì rassicurato ...«
Die Erzählkunst
Ein komplexer Fall, eine relevante Botschaft, ein überzeugendes Bildkonzept – warum nur hat mich dieser Roman zunehmend kalt gelassen, ja gelangweilt?
Leider gibt es in diesem Roman nur wenige erzählte Szenen, und nur bei zwei oder drei davon habe ich wirklich Spannung und dichte Atmosphäre erlebt. Der größte Teil ist reiner Dialog. (Der Anteil wörtlicher Rede am Gesamttext beträgt bei »La piramide di fango« 56,9% – zum Vergleich: »La rivoluzione della luna«: 28,8%, »Sulla faccia della terra«: 19,9%, »La ruga del cretino«: 9,8%.) Die Menge allein ist natürlich kein Qualitätskriterium, doch dienen die Dialoge hier fast ausschließlich der reinen Faktenvermittlung – Verhöre, Gespräche mit Zeugen, dem Staatsanwalt, Journalisten und insbesondere zwischen den Polizisten selber. In diesen Unterredungen, meist im Büro, vollzieht sich für den Leser der Erkenntnisfortschritt, aber emotional oder atmosphärisch involviert wird er nicht.
Das liegt an der immer gleichen Gestaltung der Gespräche. Fazio trägt vor, was für Details er herausgefunden hat, Mimì Augello berichtet von seinen Exkursionen; man diskutiert ein wenig, betrachtet die Informationen aus dieser und jener Perspektive, und der Höhepunkt wird erreicht, wenn der Chef die kühne Theorie mit Überraschungseffekt vorstellt, die er sich im Stillen ausgedacht hat (»addivintanno sempri cchiù chiaro dintra alla sò testa«). Fazio und Mimì lauschen andächtig, sind ganz baff, fragen schon mal verwundert nach wie devote Eleven zu Füßen ihres Meisters, und der ist sich der Überlegenheit seiner treffsicheren Intuition wohl bewusst (»Ora rapri bono l'oricchi.«). Wie Fazio und Mimì kann der Leser nur in Maßen mitraten und muss die nächste Zusammenfassung abwarten. Nicht etwa lebhaft erzählte Handlung, sondern die Serie dieser Vorträge rekonstruiert peu à peu den Fall Nicotra und das komplexe, staubtrockene kriminelle Geschäftsgeflecht.
Die Sprache
Ein Genuss besonderer Art ist immer wieder, Camilleris kunstvoll erfundenes Sizilianisch zu lesen. Was auf den ersten Blick als völlig unverständliches Kauderwelsch daherkommt, lässt nach einigen Seiten ein gefestigtes Regelwerk durchscheinen. Für amüsante Verwirrung sorgen Aussprachespezialitäten wie »un corpo di pistola«, »Lei era 'na biunna.«, »avemo 'n mano 'na bumma« und anderweitig kaum zu lesende Vokabeln wie »trasire«, »nèsciri«, »narrè«, »tanticchia« ...
Übrigens lehnt Andrea Camilleri es ab, ein Glossar zu erstellen; er glaubt (mit Recht), man könne die Bedeutung ›seiner‹ Wörter durchaus aus dem Kontext erschließen. Doch da auch seine Landsleute in Härtefällen gern zu Vokabellisten wie dieser und dieser greifen, wird er uns Nicht-Italienern das erst recht nachsehen ...