Nichts ist so, wie es scheint
Unglaublich, welch unverminderte Schaffenskraft Andrea Camilleri beflügelt, der am 6. September 2015 neunzig Jahre alt wird. Jedes Jahr erfreut er die weltweite Gemeinde treuer Fans seines commissario Salvo Montalbano mit einem neuen Band der Serie – und daneben noch mit weiteren Werken der unterschiedlichsten Genres. 2014 erschienen in Italien sage und schreibe vier neue Bücher von ihm: »Inseguendo un'ombra« (ein erzählerisches Experiment über die komplexe Persönlichkeit eines jüdischen Universalgelehrten des 15. Jahrhunderts), »Donne« (39 Porträts von realen und fiktiven Frauen, die das Leben des Autors geprägt haben), »La piramide di fango« (Band 22 der Montalbano-Serie [› Rezension]) und »Morte in mare aperto e altre indagini del giovane Montalbano« (acht Kriminalgeschichten aus den frühen Jahren von Montalbanos Karriere [› Rezension]). Am 30. April 2015 folgte nun »La giostra degli scambi« als dreiundzwanzigster Montalbano-Band. Es wird nicht lange dauern, bis die drei letzteren auch für das Fernsehen verfilmt sind [› aktuelle Übersicht], denn ihr Protagonist ist der beliebteste Kommissar des Landes und Garant für Bestseller und Quotenspitzen.
Verglichen mit der gewaltigen Bandbreite an Sujets (zwischen Mythologie, Geschichte, Erotik, Soziologie, Psychologie und Biografie), die Camilleri in seinen ›freien‹ Romanen bearbeitet, erscheint die Krimiserie um Montalbano thematisch eng. Sie lebt gleichermaßen von der Persönlichkeitsentwicklung des allseits vertrauten Protagonisten, von der Konstanz seines verlässlichen Teams, vom unterhaltsamen Spiel mit sizilianischen Charakteren und Schauplätzen wie von den Kriminalfällen, die ihrerseits die ganze Spannbreite zwischen Kleinkriminalität, aus unterschiedlichsten Nöten geboren, und Abgründen von Immoralität, Menschenverachtung, Gier und Grausamkeit abdecken. Sensationelle Novitäten sind wohl nicht mehr zu erwarten (es sei denn, Camilleri entdeckt noch die Cyberkriminalität). Vielmehr begegnen uns immer wieder aufs Neue die Grundphänomene italienischer und spezifisch sizilianischer Beschäftigungen abseits der Gesetze: die Mafia, Korruption, Drogenhandel, Bauskandale, Prostitution ... Ist es nicht weise, dass Camilleri sich darauf beschränkt, nur diesen regional definierten Rahmen auszuloten?
»La giostra degli scambi«, die neueste Variation über die Montalbano-Themen, ist in diesem Umfeld ein konventioneller Krimi. Hier geht es um Männer und Frauen, um Liebe, Eifersucht, Besitzstreben, um einen Mord aus rein persönlichen Gründen und die raffinierten Versuche des Täters, sein Verbrechen zu verschleiern. Nach dem gesellschaftskritischen Rundumschlag von »La piramide di fango« empfand ich diesen giallo als wohltuend entspannend, zumal er auch unterhaltsam und abwechslungsreich erzählt ist.
Das titelgebende Motiv der Vortäuschungen und Vertauschungen, der Verwechslungen und Wechselspiele wird am Anfang witzig und weidlich ausgereizt, verflacht aber im weiteren Verlauf zur schlichten Erkenntnis »Il problema è che c'è vero e vero«. Jedenfalls reicht die schlichte Tatsache, dass der Mörder die Öffentlichkeit und die Polizei in die Irre zu führen sucht, nicht aus, um eine solch evokative Metapher als Leitmotiv des gesamten Romans tragen zu können.
Montalbano wird diesmal weder von einem Anruf Catarellas noch von einem Albtraum geweckt, sondern von einer lästigen Fliege. Der commissario urteilt hier gleich zum ersten Mal falsch, denn es stellt sich heraus, dass es zwei waren, die ihm auf der Nase herum getanzt waren. Am Strand erwartet ihn die nächste Täuschung: Da prügeln sich zwei Männer, er greift ein, um das vermeintliche Opfer zu schützen – und gerät selbst mitten hinein in den chaotischen Wirbel aus Beißen, Schlagen, Treten, Schuld und Unschuld ... Am Ende nimmt – Schande über Schande für einen poliziotto – eine Carabinieri-Streife alle Beteiligten fest. Derweil wird selbst Angelina, Salvos brave Haushälterin und Köchin, Opfer einer Täuschung: Sie zieht einem vermeintlichen Einbrecher im Haus am Strand von Marinella derart eins mit ihrer Pfanne über, dass sich ihm noch lange der Kopf dreht. Dabei wollte der brave Mann doch nur den commissario sprechen, und die Tür stand offen ... Das alles wirkt ein bisschen konstruiert, aber Montalbano ist vorgewarnt für das, was folgt: »Mai fidarsi delle apparenze.«
Dann wird es sozusagen ernst. Da entführt einer binnen weniger Tage drei junge Frauen – alle bei Banken angestellt –, aber nicht so richtig: Er tut ihnen nichts Schlimmes an und lässt sie gleich wieder frei. Was in aller Welt soll das? Als ein feiner Elektronikladen ausbrennt, spitzt sich die Lage zu, und die Polizisten von Vigàta stehen vor einer Menge Rätsel. Wo steckt der Inhaber, Marcello Di Carlo? Hat ihn die Mafia aus dem Verkehr gezogen, weil er ostentativ sein Schutzgeld nicht bezahlen will? Oder hat er sich in ein Liebesnest zurückgezogen, nachdem er sich soeben im Urlaub unsterblich verliebt hat? Oder ist er einfach nur vor seinen nicht wenigen Gläubigern abgehauen? Schließlich geht auch sein teures Auto in Flammen auf, und man entdeckt eine blutbesudelte »càmmara della morti«, wo sich eine schauderhafte Mordtat abgespielt haben muss.
Die Aufdeckung der komplizierten Abläufe, denen ein schlichtes Motiv zugrunde liegt, vollzieht sich wie üblich im Verlauf zahlreicher scharfsinniger Gesprächsrunden zwischen dem Chef Montalbano und seinen Mitarbeitern Fazio und Mimì Augello, aber wir dürfen mit den Polizisten auch etliche reizvoll erzählte Ausflüge in die Umgebung unternehmen, so dass sich dieser Roman wieder wesentlich abwechslungsreicher liest als »La piramide di fango«. Dazu tragen etliche witzige »battute« bei, beispielsweise vom notorisch grantigen Pathologen dottor Pasquano: »Il commissario stava per accomodarisi supra a 'na seggia ma Pasquano lo firmò. ›No, resti in piedi, così si sbriga prima e si leva al più presto dai cabasisi. Che vuole?‹«