Rezension zu »L'altro capo del filo« von Andrea Camilleri

L'altro capo del filo

von


Kriminalroman · Teil der Serie »Il commissario Montalbano« · Sellerio · · Taschenbuch · 320 S. · ISBN 9788838935169
Sprache: it · Herkunft: it

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Aktuell und traditionell

Rezension vom 31.07.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Einhundert Bücher in siebenundfünfzig Jahren, nahezu zwei pro Jahr – welcher Autor hat jemals eine solch un­glaub­liche Produk­tivitäts­rate erreicht – und als Ein­und­neunzig­jähriger fortge­führt? Soeben erschien als Andrea Camilleris Opus 100 der neueste Band seines Best­seller-Abonne­ments, der Serie um den com­missario Salvo Mont­albano. Wegen seines schwin­denden Sehver­mögens hat Camilleri den Text gemein­sam mit seiner lang­jährigen persön­lichen Assis­tentin Valen­tina Alferj fertig­gestellt.

Erstaunlicherweise bringt dieser Krimi – Nummer 24 der Roman­serie [› Übersicht] – eine beacht­liche Neuerung: Er rückt ein tages­politi­sches Thema aus­führ­lich in den Vorder­grund. Abgehoben von der Realität waren auch seine Vor­gänger keines­wegs, aber die Fälle hatten doch meist mit allge­meinen Grund­übeln der sizilia­nischen (bzw. italie­nischen) Gesell­schaft zu tun (Korruption, Filz, Mafia, Drogen, Entführung, Menschen­handel, Mord, Bau­sünden, Umwelt­zerstö­rung, illegale Abfall­entsor­gung …) und endeten in der Regel eher besinn­lich, wenn nicht pes­si­mistisch, da Mont­albano seine (bis­weilen eigen­willige) Vor­stellung von Gerech­tigkeit zwar in seinem kleinen Vigàta einiger­maßen etab­lieren konnte, im Grund­sätzlichen aber nichts zu bessern ver­mochte.

Jetzt taucht der Autor ein ins pralle triste Leben unserer Tage und schildert auf ergrei­fende Weise, wie das ›Flücht­lings­drama‹ auch das (fiktive) sizilia­nische Hafen­städt­chen Vigàta über­rollt. Auf den ersten hundert (!) Seiten breitet Camilleri das Elend aus, das mit jedem über­füllten Seelen­ver­käufer übers Meer kommt. Wie Mont­albanos nord­italie­nische Lang­zeit­ver­lobte Livia kennen wir die Bilder aus der Bericht­erstat­tung in den Medien. Aber Salvo erklärt ihr:

»Sai, forse da Boccadasse non puoi avere chiara la situazione drammatica che c’è qui. Gli sbarchi sulle coste oramai sono più puntuali della corriera di Montelusa. Arrivano a centinaia, ogni notte, tutte le notti. Con qualsiasi condizione di tempo. Uomini, donne, bam­bini, vecchi. Arrivano assiderati, affamati, assetati, impauriti. Hanno bisogno di tutto. Tutti noi del com­missariato siamo impegnati ventiquattr’ore su ventiquattro nel gestire gli sbarchi. E in paese si sono costi­tuiti diversi comitati di volontari che raccolgono generi di prima necessità, preparano pasti caldi, forniscono abiti, scarpe, coperte

Und ein erfahrener Fischer spitzt die traurige Lage so zu: »Sapi, dottori, è inutile in questi giorni annare a piscari. Si pigliano cchiù morti che pisci

Camilleri spielt seine literarischen Gestaltungs­techniken aus. Er persona­lisiert, individua­lisiert die bitteren Schick­sale von Männern, Frauen und Kindern, die die Meeres­strömun­gen hierher getrieben haben. Wir lesen die Ge­schich­ten eines Fünf­zehn­jährigen, eines verge­waltig­ten Mädchens und etlicher anderer Men­schen, die sich und ihre Sorgen, Ängste und Schmer­zen den Helfern anver­trauen. Weder wir Leser noch die vielen zu­packen­den Frei­willigen im Ort bleiben davon unbe­rührt. Beson­ders enga­gieren sich Beba, Mimì Augellos Frau, und der tunesisch­stämmige Zahn­arzt dottor Osman, der schon seit Jahren hier hei­misch ist und jetzt neben medi­zini­schen auch wert­volle Dol­met­scher­dienste leistet.

Den Sizilianern ist bewusster als uns, wie nahe die Ankömmlinge ihnen stehen. Seit Urzeiten teilen sie die Reich­tümer und Wege des »Mare Nostrum« und treiben Handel mit­einander. Salvo weiß, dass einst »tutti i piscatori del Mediterraneo parlavano ‘na lingua comuni, il ›sabir‹. Va a sapiri com’era nasciuta e va a sapiri come aviva fatto a moriri, ora che sarebbe stata accussì utili per tutti.« Nun erkennt er betrüb­liche neu­zeit­liche Gemein­sam­keiten: »loro sono costretti, nel 2016, per sopravvivere a lasciare le loro case, la loro terra, la loro famiglia così come devono fare i nostri giovani per trovare un lavoro

Natürlich malt Camilleri kein naiv-einseitiges Bild der Lage. Das Kommissariat von Vigàta hat alle Hände voll zu tun, um die Ordnung auf­recht­zuer­halten, den Schlepper­banden beizu­kommen, der Terro­rismus­gefahr bei­zukom­men. Als auf einem der Flücht­lings­schiffe einer der Passa­giere fehlt, sucht Poli­zei­prä­si­dent Bonetti-Alde­righi seinen dick­schäde­ligen commissario sogleich einzu­norden:

»… ho ricevuto un’informazione confidenziale dall’antiterrorismo. Pare che in quel barcone fosse nas­costo un pericolosissimo militante dell’Isis«.
»Pare o ne sono sicuri?«.
»Montalbano, non stia a sottilizzare, perdio. Noi abbiamo semplicemente il compito e il dovere di rin­tracciarlo e di portarlo e trattenerlo nel centro apposito«.
»Mi permetta di contraddirla, signor questore. Sottilizzare, come lei dice, è fondamentale. Questi barconi sono pieni di poveri migranti, sono per la maggior parte islamici e se noi non facciamo differenze tra musul­mani e militanti dell’Isis contribuiamo solo ad accrescere l’ignoranza scatenando ancor più panico e ostilità e facendo il gioco sporco proprio di quei terroristi«.
Bonetti-Alderighi si zittì. Ma solo per un attimo.
»Mi trovi quel terrorista, cazzo!« fici il questori chiuienno la conversazioni senza manco salutari

Montalbano (in dieser Hinsicht ganz sicherlich das Sprach­rohr seines Schöpfers) macht keinen Hehl aus seiner Ver­bitte­rung, wie einstige groß­artige Ideale verspielt wurden und nun die Angst vor Terroris­mus instru­menta­lisiert wird, um das zer­schla­gene Por­zellan unter den alten Teppich zu kehren:

»Io penso che doppo il granni sogno di ‘st’Europa unita, avemo fatto tutto il possibili e l’impossibili per distruggirinni le fondamenta stisse. Avemo mannato a catafottirisi la storia, la politica, l’economia ‘n comuni. L’unica cosa che forsi restava ‘ntatta era l’idea di paci. Pirchì doppo avirinni ammazzati per secoli l’uni con l’autri non nni potivamo cchiù. Ma ora ce lo semu scordati, epperciò stamo attrovanno la bella scusa di ‘sti migranti per rimittiri vecchi e novi confini coi fili spinati. Dicino che tra ‘sti migranti s’ammucciano i terroristi ‘nveci di diri che ‘sti povirazzi scappano propio dai terroristi

Keine Sorge, dass dieser Roman womöglich zum politischen Pamphlet statt zu einem unter­halt­samen Krimi miss­raten könnte. Auf Seite 101 wechseln Thema und Ton, als signora Elena, eine hoch­ge­schätzte Schnei­derin, brutal er­mordet aufge­funden wird. (Ein­hundert Seiten ohne einen einzi­gen Mord – welcher andere Krimi­autor dürfte sich so viel ›Leer­lauf‹ erlauben?)

Schon auf den ersten Seiten hatte Livia, wieder einmal zu Besuch in Vigàta, ihrem Salvo den einen oder anderen »colpo« verpasst. Dem­nächst steht in ihrem Wohnort Bocca­dasse eine roman­tische Festi­vität an, und zu diesem Anlass muss er sich endlich einmal einen ver­nünf­tigen Anzug anfer­tigen lassen. Sie hat ihm nicht nur sein Ein­ver­ständ­nis abge­luchst, sondern auch gleich die Meis­terin in der Via Roma 32 aufge­sucht und infor­miert, was sie erwartet. Doch ehe Salvos Anzug fertig ist, wird Elena umge­bracht.

Dass eine allseits verehrte und geachtete wahrhafte Dame wie sie, eine zurück­gezogen lebende Witwe in den besten Jahren, auf grau­same Weise dahin­ge­schlach­tet würde, ist ein Ver­brechen, das niemand begreift und jeden rührt – selbst den dick­felligen, bär­beißi­gen Patho­logen dottor Pasquano.

Lange tappt Montalbano in diesem wahrhaft vertrack­ten Fall im Dunkeln, und zahlreiche Wen­dungen über­raschen ihn und uns. Wenn er sich auch einge­stehen muss, dass gewisse Alters­er­schei­nun­gen seine gewohnte Spon­tanei­tät bremsen, so verhel­fen ihm doch längst bewährte Mittel zum Erfolg: genaues Zuhören, Einfüh­lungs­vermögen, Intui­tion und Fanta­sie, dazu die Erfah­rung vieler Jahre sowie rätsel­hafte Hin­weise in seinen berüch­tigten Träumen und – neu! – die Ein­flüste­rungen einer Haus­katze, der einzigen Tat­zeugin. So formuliert er Hypo­thesen, die seinen Kolle­gen oft allzu verwegen er­scheinen, bis er schließ­lich aus lauter Einzel­ein­drücken einen Film zu­sam­men­setzt, der den wahren Tat­ablauf wieder­gibt. (Wer im Rück­blick genau und kritisch nach­prüft, wird nicht ganz über­zeugt sein von der Lösung, die uns da verkauft wird. Aber man muss sich ja den Lese­genuss nicht im Nach­hinein ver­sauern.)

Im Übrigen bleibt alles beim Alten: Camilleris Erzählstil ist weiter­hin konven­tionell und ein wenig betulich, der Ton (abseits der Flücht­lings­szenen) heiter. Noch immer genießt Mont­albano sein Bad im Meer vor der Haus­tür (bzw. der Terrasse) – wenn er es nicht bei einem (alters­gemäßeren) Spazier­gang belässt – ebenso wie die delikaten Mahl­zeiten, die ihm Enzo in seiner Trattoria oder Adelina zu Hause zube­reitet, und am Ende findet er die Draht­zieher in nur vorgeb­lich ›feinen‹ Promi-Kreisen. Die Bezie­hung mit Livia trübt zwar noch immer manches Miss­ver­ständ­nis und manche beid­seitige Biestig­keit, doch insge­samt scheint eine Art nach­sichtige Alters­gelas­senheit einzukehren. Salvo entdeckt gar eine lyrische Ader in sich … (Ob Camilleri womög­lich ein Happy End der end­losen Love Story anbahnt?)

Wie so oft sind es Nebenfiguren, zum Teil nicht einmal benamt, die uns in winzigen Dialog­szenen zum Lachen bringen und für comic relief sorgen. Der Autor hat ihre Charak­teristika leicht und liebe­voll zuge­spitzt, so wie es die besten süd­italie­nischen Krippen­schnitzer vermögen, und daher wirken sie so authen­tisch, dass wir sie mitten auf einem sizilia­nischen Markt, am Hafen oder in einem Dorf an­treffen könn­ten.

»Mè figlio ‘nnucenti è! … Dottori m’avi a cridiri, ‘nnucenti è! Cilo dico io che sugno sò matre e lo sento nel profunno del cori mè.« Chiangenno e singhiozzanno continuò: »’U sciatu do mè sciato non è capace di fari ‘na cosa accussì laida! ‘U sangu do mè sangu prifirisci ammazzarisi chiuttosto che ammazzari …«

Andrea Camilleri ist nie einer gewesen, der sich auf seinen (massen­haft verlie­henen) Lor­beeren ausgeruht hätte. Sein ein­hun­dertstes Buch ist ge­lungener als manch schwächere Mont­albano-Folge zuvor, die befürch­ten ließ, er habe uns nichts Neues mehr mitzu­teilen. »L’altro capo del filo« aber ist bestes ›erzähltes Drama‹, tragisch und komisch, unter­haltsam und ernst­haft, ab­wechs­lungs­reich und tief­gründig, span­nend und bedäch­tig.

Übrigens: Was liest eigentlich Salvo Montalbano, wenn er freie Zeit hat? »Passò ‘na sirata tranquilla. Arriniscì macari a liggirisi qualichi bella pagina di un romanzo che aviva come protagonista a un vici­questori romano mannato tra le nivi d’Aosta. Il solo pinsero d’attrovarisi al posto di quel collega gli fici veniri un bripito di friddo lungo la schina.« [› Rezension]


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