Aktuell und traditionell
Einhundert Bücher in siebenundfünfzig Jahren, nahezu zwei pro Jahr – welcher Autor hat jemals eine solch unglaubliche Produktivitätsrate erreicht – und als Einundneunzigjähriger fortgeführt? Soeben erschien als Andrea Camilleris Opus 100 der neueste Band seines Bestseller-Abonnements, der Serie um den commissario Salvo Montalbano. Wegen seines schwindenden Sehvermögens hat Camilleri den Text gemeinsam mit seiner langjährigen persönlichen Assistentin Valentina Alferj fertiggestellt.
Erstaunlicherweise bringt dieser Krimi – Nummer 24 der Romanserie [› Übersicht] – eine beachtliche Neuerung: Er rückt ein tagespolitisches Thema ausführlich in den Vordergrund. Abgehoben von der Realität waren auch seine Vorgänger keineswegs, aber die Fälle hatten doch meist mit allgemeinen Grundübeln der sizilianischen (bzw. italienischen) Gesellschaft zu tun (Korruption, Filz, Mafia, Drogen, Entführung, Menschenhandel, Mord, Bausünden, Umweltzerstörung, illegale Abfallentsorgung …) und endeten in der Regel eher besinnlich, wenn nicht pessimistisch, da Montalbano seine (bisweilen eigenwillige) Vorstellung von Gerechtigkeit zwar in seinem kleinen Vigàta einigermaßen etablieren konnte, im Grundsätzlichen aber nichts zu bessern vermochte.
Jetzt taucht der Autor ein ins pralle triste Leben unserer Tage und schildert auf ergreifende Weise, wie das ›Flüchtlingsdrama‹ auch das (fiktive) sizilianische Hafenstädtchen Vigàta überrollt. Auf den ersten hundert (!) Seiten breitet Camilleri das Elend aus, das mit jedem überfüllten Seelenverkäufer übers Meer kommt. Wie Montalbanos norditalienische Langzeitverlobte Livia kennen wir die Bilder aus der Berichterstattung in den Medien. Aber Salvo erklärt ihr:
»Sai, forse da Boccadasse non puoi avere chiara la situazione drammatica che c’è qui. Gli sbarchi sulle coste oramai sono più puntuali della corriera di Montelusa. Arrivano a centinaia, ogni notte, tutte le notti. Con qualsiasi condizione di tempo. Uomini, donne, bambini, vecchi. Arrivano assiderati, affamati, assetati, impauriti. Hanno bisogno di tutto. Tutti noi del commissariato siamo impegnati ventiquattr’ore su ventiquattro nel gestire gli sbarchi. E in paese si sono costituiti diversi comitati di volontari che raccolgono generi di prima necessità, preparano pasti caldi, forniscono abiti, scarpe, coperte.«
Und ein erfahrener Fischer spitzt die traurige Lage so zu: »Sapi, dottori, è inutile in questi giorni annare a piscari. Si pigliano cchiù morti che pisci.«
Camilleri spielt seine literarischen Gestaltungstechniken aus. Er personalisiert, individualisiert die bitteren Schicksale von Männern, Frauen und Kindern, die die Meeresströmungen hierher getrieben haben. Wir lesen die Geschichten eines Fünfzehnjährigen, eines vergewaltigten Mädchens und etlicher anderer Menschen, die sich und ihre Sorgen, Ängste und Schmerzen den Helfern anvertrauen. Weder wir Leser noch die vielen zupackenden Freiwilligen im Ort bleiben davon unberührt. Besonders engagieren sich Beba, Mimì Augellos Frau, und der tunesischstämmige Zahnarzt dottor Osman, der schon seit Jahren hier heimisch ist und jetzt neben medizinischen auch wertvolle Dolmetscherdienste leistet.
Den Sizilianern ist bewusster als uns, wie nahe die Ankömmlinge ihnen stehen. Seit Urzeiten teilen sie die Reichtümer und Wege des »Mare Nostrum« und treiben Handel miteinander. Salvo weiß, dass einst »tutti i piscatori del Mediterraneo parlavano ‘na lingua comuni, il ›sabir‹. Va a sapiri com’era nasciuta e va a sapiri come aviva fatto a moriri, ora che sarebbe stata accussì utili per tutti.« Nun erkennt er betrübliche neuzeitliche Gemeinsamkeiten: »loro sono costretti, nel 2016, per sopravvivere a lasciare le loro case, la loro terra, la loro famiglia così come devono fare i nostri giovani per trovare un lavoro.«
Natürlich malt Camilleri kein naiv-einseitiges Bild der Lage. Das Kommissariat von Vigàta hat alle Hände voll zu tun, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, den Schlepperbanden beizukommen, der Terrorismusgefahr beizukommen. Als auf einem der Flüchtlingsschiffe einer der Passagiere fehlt, sucht Polizeipräsident Bonetti-Alderighi seinen dickschädeligen commissario sogleich einzunorden:
»… ho ricevuto un’informazione confidenziale dall’antiterrorismo. Pare che in quel barcone fosse nascosto un pericolosissimo militante dell’Isis«.
»Pare o ne sono sicuri?«.
»Montalbano, non stia a sottilizzare, perdio. Noi abbiamo semplicemente il compito e il dovere di rintracciarlo e di portarlo e trattenerlo nel centro apposito«.
»Mi permetta di contraddirla, signor questore. Sottilizzare, come lei dice, è fondamentale. Questi barconi sono pieni di poveri migranti, sono per la maggior parte islamici e se noi non facciamo differenze tra musulmani e militanti dell’Isis contribuiamo solo ad accrescere l’ignoranza scatenando ancor più panico e ostilità e facendo il gioco sporco proprio di quei terroristi«.
Bonetti-Alderighi si zittì. Ma solo per un attimo.
»Mi trovi quel terrorista, cazzo!« fici il questori chiuienno la conversazioni senza manco salutari.«
Montalbano (in dieser Hinsicht ganz sicherlich das Sprachrohr seines Schöpfers) macht keinen Hehl aus seiner Verbitterung, wie einstige großartige Ideale verspielt wurden und nun die Angst vor Terrorismus instrumentalisiert wird, um das zerschlagene Porzellan unter den alten Teppich zu kehren:
»Io penso che doppo il granni sogno di ‘st’Europa unita, avemo fatto tutto il possibili e l’impossibili per distruggirinni le fondamenta stisse. Avemo mannato a catafottirisi la storia, la politica, l’economia ‘n comuni. L’unica cosa che forsi restava ‘ntatta era l’idea di paci. Pirchì doppo avirinni ammazzati per secoli l’uni con l’autri non nni potivamo cchiù. Ma ora ce lo semu scordati, epperciò stamo attrovanno la bella scusa di ‘sti migranti per rimittiri vecchi e novi confini coi fili spinati. Dicino che tra ‘sti migranti s’ammucciano i terroristi ‘nveci di diri che ‘sti povirazzi scappano propio dai terroristi.«
Keine Sorge, dass dieser Roman womöglich zum politischen Pamphlet statt zu einem unterhaltsamen Krimi missraten könnte. Auf Seite 101 wechseln Thema und Ton, als signora Elena, eine hochgeschätzte Schneiderin, brutal ermordet aufgefunden wird. (Einhundert Seiten ohne einen einzigen Mord – welcher andere Krimiautor dürfte sich so viel ›Leerlauf‹ erlauben?)
Schon auf den ersten Seiten hatte Livia, wieder einmal zu Besuch in Vigàta, ihrem Salvo den einen oder anderen »colpo« verpasst. Demnächst steht in ihrem Wohnort Boccadasse eine romantische Festivität an, und zu diesem Anlass muss er sich endlich einmal einen vernünftigen Anzug anfertigen lassen. Sie hat ihm nicht nur sein Einverständnis abgeluchst, sondern auch gleich die Meisterin in der Via Roma 32 aufgesucht und informiert, was sie erwartet. Doch ehe Salvos Anzug fertig ist, wird Elena umgebracht.
Dass eine allseits verehrte und geachtete wahrhafte Dame wie sie, eine zurückgezogen lebende Witwe in den besten Jahren, auf grausame Weise dahingeschlachtet würde, ist ein Verbrechen, das niemand begreift und jeden rührt – selbst den dickfelligen, bärbeißigen Pathologen dottor Pasquano.
Lange tappt Montalbano in diesem wahrhaft vertrackten Fall im Dunkeln, und zahlreiche Wendungen überraschen ihn und uns. Wenn er sich auch eingestehen muss, dass gewisse Alterserscheinungen seine gewohnte Spontaneität bremsen, so verhelfen ihm doch längst bewährte Mittel zum Erfolg: genaues Zuhören, Einfühlungsvermögen, Intuition und Fantasie, dazu die Erfahrung vieler Jahre sowie rätselhafte Hinweise in seinen berüchtigten Träumen und – neu! – die Einflüsterungen einer Hauskatze, der einzigen Tatzeugin. So formuliert er Hypothesen, die seinen Kollegen oft allzu verwegen erscheinen, bis er schließlich aus lauter Einzeleindrücken einen Film zusammensetzt, der den wahren Tatablauf wiedergibt. (Wer im Rückblick genau und kritisch nachprüft, wird nicht ganz überzeugt sein von der Lösung, die uns da verkauft wird. Aber man muss sich ja den Lesegenuss nicht im Nachhinein versauern.)
Im Übrigen bleibt alles beim Alten: Camilleris Erzählstil ist weiterhin konventionell und ein wenig betulich, der Ton (abseits der Flüchtlingsszenen) heiter. Noch immer genießt Montalbano sein Bad im Meer vor der Haustür (bzw. der Terrasse) – wenn er es nicht bei einem (altersgemäßeren) Spaziergang belässt – ebenso wie die delikaten Mahlzeiten, die ihm Enzo in seiner Trattoria oder Adelina zu Hause zubereitet, und am Ende findet er die Drahtzieher in nur vorgeblich ›feinen‹ Promi-Kreisen. Die Beziehung mit Livia trübt zwar noch immer manches Missverständnis und manche beidseitige Biestigkeit, doch insgesamt scheint eine Art nachsichtige Altersgelassenheit einzukehren. Salvo entdeckt gar eine lyrische Ader in sich … (Ob Camilleri womöglich ein Happy End der endlosen Love Story anbahnt?)
Wie so oft sind es Nebenfiguren, zum Teil nicht einmal benamt, die uns in winzigen Dialogszenen zum Lachen bringen und für comic relief sorgen. Der Autor hat ihre Charakteristika leicht und liebevoll zugespitzt, so wie es die besten süditalienischen Krippenschnitzer vermögen, und daher wirken sie so authentisch, dass wir sie mitten auf einem sizilianischen Markt, am Hafen oder in einem Dorf antreffen könnten.
»Mè figlio ‘nnucenti è! … Dottori m’avi a cridiri, ‘nnucenti è! Cilo dico io che sugno sò matre e lo sento nel profunno del cori mè.« Chiangenno e singhiozzanno continuò: »’U sciatu do mè sciato non è capace di fari ‘na cosa accussì laida! ‘U sangu do mè sangu prifirisci ammazzarisi chiuttosto che ammazzari …«
Andrea Camilleri ist nie einer gewesen, der sich auf seinen (massenhaft verliehenen) Lorbeeren ausgeruht hätte. Sein einhundertstes Buch ist gelungener als manch schwächere Montalbano-Folge zuvor, die befürchten ließ, er habe uns nichts Neues mehr mitzuteilen. »L’altro capo del filo« aber ist bestes ›erzähltes Drama‹, tragisch und komisch, unterhaltsam und ernsthaft, abwechslungsreich und tiefgründig, spannend und bedächtig.
Übrigens: Was liest eigentlich Salvo Montalbano, wenn er freie Zeit hat? »Passò ‘na sirata tranquilla. Arriniscì macari a liggirisi qualichi bella pagina di un romanzo che aviva come protagonista a un viciquestori romano mannato tra le nivi d’Aosta. Il solo pinsero d’attrovarisi al posto di quel collega gli fici veniri un bripito di friddo lungo la schina.« [› Rezension]