Il cuoco dell’Alcyon
von Andrea Camilleri
Ein gefeuerter Arbeiter nimmt sich das Leben. Ein skrupelloser Unternehmer wird erschossen. Ein ungewöhnliches Segelschiff läuft mal hier, mal da ein und gleich wieder aus. In der Questura von Montelusa übernimmt derweil ein großspuriger FBI-Agent das Ruder, und Montalbano wird in den Ruhestand bugsiert. Alles ein paar Nummern zu groß für das beschauliche Vigàta, wie wir es kennen.
Ein völlig Unbekannter
»Un pirfetto scanosciuto.« Das ist der letzte Satz dieses Krimis um den tüchtigen Salvo Montalbano, Chef des Kommissariats im sizilianischen Provinzstädtchen Vigàta. In sechsundzwanzig Kriminalromanen und über siebzig Erzählungen hat Andrea Camilleri diesen Charakter schlüssig weiterentwickelt, vom jungen Berufsanfänger bis zum reifen commissario kurz vor dem Ruhestand. Seiner internationalen Fangemeinde ist er über fünfundzwanzig Jahre hin ans Herz gewachsen, eine ausgereifte, runde Persönlichkeit mit Licht- und Schattenseiten, mit scharfem Verstand, von tiefer Menschlichkeit und untrüglichem Gerechtigkeitssinn [› Einführung].
»Ein völlig Unbekannter« – so distanziert sich dieser seriöse, gestandene Mann im Rückblick selbst von dem Bild, das er in diesem Krimi abgeben musste. Er will die ganze Geschichte aus seinem Gedächtnis streichen, als hätte sie nie stattgefunden (»Avrebbi fatto ‘n modo che quella storia non gli sarebbi mai appartinuta. L’avrebbi rinnigata, scancillata per sempri dalla sò mimoria … c’era stato un omo che non aviva né il sò nomi né la sò facci.«).
Das ist natürlich ein literarischer Trick, wie Andrea Camilleri, der alte Fuchs (geboren 1925), den Schock seiner Eskapade in ein komplett anderes Genre – das des action-Thrillers all’americana – im Nachhinein abzumildern versucht. Doch da ist das Kind längst in den Brunnen gefallen, manch treuer Leser verwundert oder enttäuscht, verprellt oder entrüstet. Was hat den Autor nur bewogen, dass er dieses Buch überhaupt veröffentlicht hat? Aufschluss gibt das Nachwort, und davon setzt der Autor sicherheitshalber gleich zwei an. Im ersten erläutert er, dass er diesen Roman aus einem zehn Jahre alten Drehbuch für ein (gescheitertes) italienisch-amerikanisches Filmprojekt umgewandelt hat (»Questo racconto …, inevitabilmente, risente, forse nel bene, forse nel male, della sua origine non letteraria.«). Im zweiten deutet er an, was er aktualisiert hat und was nicht, und schließt mit der auffällig bemüßigten Feststellung: »… mi pare un buonissimo libro di Montalbano.« Und Camilleris Hausverlag Sellerio kannte gewiss weitere gute Argumente für die Veröffentlichung.
Immerhin die erste Hälfte des Buches fühlt sich wie ein ›echter Montalbano‹ an. Der Schauplatz ist Vigàta, das Personal von Catarella bis Adelina vertraut, die Handlung passt zum Ort und hat eine schlichte sozialkritische Relevanz: Giovanni (»Giogiò«) Trincanato, Playboy und verantwortungsloser Erbe einer Werft, hat den Traditionsbetrieb mit seinem Lotterleben in den Konkurs gewirtschaftet. Einer der um ihre Existenzgrundlage betrogenen Arbeiter verzweifelt und erhängt sich. Der Krimi gewinnt an Fahrt, als »Giogiò« ermordet aufgefunden wird. Wir finden lieb gewonnene Bausteine wie die spitzen Gespräche im Kommissariat, Montalbanos Driften zwischen Träumen und Realität, seine ausufernden Mahlzeiten in Enzos Trattoria (»Portami ‘n’autra porzioni di milinciana.«), Spaziergänge auf der Mole, Probleme mit den Symptomen des Alterns, Adelinas leckere Küche.
Aber irgendwie hängt schon dieser Teil in der Luft. Haben sich Livia und Salvo nicht nach Jahren des Gezänks im letzten Band getrennt? Keine Silbe dazu hier – beide gehen miteinander um wie immer, mal liebevoll, mal gereizt. Und überhaupt fehlt jede Kontinuität zum bemerkenswerten Vorgängerband »Il metodo Catalanotti« [› Rezension].
Mit dem Erscheinen eines merkwürdigen Segelschiffes namens »Alcyon« setzt der zweite Teil ein. Es ist eine Art ›Fliegender Sizilianer‹, der naheu unbemannt und scheinbar konzeptlos durchs Mare Nostrum geistert und immer nur für Stunden anlandet, um Proviant aufzunehmen. Mehr darüber und über den Plot, der mit dem Segler verknüpft wird, anzudeuten, würde denjenigen Lesern, die James Bond gut finden und sich überraschen lassen möchten, den Spaß verderben. Die Handlung ist zwar reich an unvorhergesehenen Wendungen, aber nach meinem Geschmack insgesamt unrealistisch und in die Länge gezogen, in etlichen Details unlogisch und am Ende völlig überdreht. Salvo Montalbano glänzt diesmal nicht durch Menschenkenntnis und messerscharfe Überlegungen, sondern – wer hätte das je von ihm erwartet? – mit scharfen Messern. Diese Verflachung ist wohl gemeint, wenn die Verlagswerbung jubelt: »Montalbano più avventuroso che mai«. Dazu passt, dass der sonst so kultivierte, belesene Protagonist ungebremst droht und flucht wie ein Kalfatergehilfe und bei Frauen nur Augen für ihre Reize hat.
Dass in der Gesamtbewertung doch drei Sterne zusammenkommen, liegt an einigen Details, die erkennen lassen, dass dieses Mischprodukt denn doch aus der Werkstatt eines anscheinend nimmermüden literarischen Vollblutkünstlers stammt. (Besonders beeindruckend war in dieser Hinsicht übrigens die Ein-Mann-Vorstellung des 11. Juni 2018, als der blinde Dreiundneunzigjährige im voll besetzten Teatro Greco di Siracusa eine bewegte und bewegende achtzigminütige Soloperformance über den blinden Seher Teiresias aus der griechischen Mythologie absolvierte: »Conversazioni su Tiresia« ) Wie er das erste Auftauchen des geheimnisvollen Schiffes in eine traumähnliche Szene bettet, später eine Mondfinsternis gestaltet, wie er eine im Grunde alberne Maskerade über Seiten hin zwischen Komik und Tragik oszillieren lässt, wie einige Figuren (etwa der Maskenbildner) so zugespitzt erscheinen, dass man manchmal glauben möchte, das Ganze sei eine Parodie (bis man den Glauben daran schnell wieder verliert) – das sind die nicht sehr zahlreichen Glanzlichter dieses Romans. Andererseits wirkt selbst die Erzählsprache, also Camilleris ureigenes ›Sizilianisch‹, hier merkwürdig künstlich, stereotyp, wie maschinenübersetzt. Ihr fehlt der Esprit, die gewohnte Melodie und Leichtigkeit.
Anders als all seine Vorgänger entlässt uns dieser disparate Krimi nicht nachdenklich, sondern mit einem bitteren Nachgeschmack. Falls es eine Satire oder ein Experiment sein sollte, so ist beides gründlich missraten – auf Kosten des Protagonisten, der zur Karikatur seiner selbst verzerrt wird. Damit hat der Autor ausgerechnet eine seiner Stärken verraten: die die Zeitläufte überdauernde Verlässlichkeit seiner Figuren und seines Weltbilds.