Die Geheimnisse des Kölner Doms
von Ralf Günther
Dieses Buch ist kein Architekturführer, schenkt aber tiefe Einblicke in das Wesen des weltbekannten Gotteshauses. Es bietet interessante, teils provokante Lesarten eines Gebäudes, das weit mehr als ein Tempel des Christentums ist.
Magie, Mystik, heidnische Götter und Aberglaube in Gottes Haus
Aus welcher Richtung man sich Köln auch nähert, das Wahrzeichen der Stadt ist unübersehbar. Die markanten Turmspitzen des Doms überragen das Umland und geben Orientierung. Eine kluge Baupolitik hat verhindert, dass Bürotürme den Blick auf das Symbol mittelalterlicher Religiosität verstellen. Dass es seit Hunderten von Jahren Menschen von weither anzieht, beeindruckt, stärkt und beflügelt, kann nicht nur an der atemberaubend kühnen gotischen Architektur liegen, denn das gewaltige Gotteshaus wurde erst 1880 fertiggestellt. Es scheint, als gingen Kraft und Magie schon von dem Ort selbst aus, einer Erhöhung am linken Rheinufer.
Ein beachtliches populärwissenschaftliches Buch geht genau dieser Frage nach: Wie ist die universelle, zeitlose Faszination zu erklären, die vom Kölner Dom ausstrahlt? Verfasst hat es der vielseitige Schriftsteller und Medienpädagoge Ralf Günther, 1967 in Köln geboren und durch historische Romane und weihnachtliche Geschichten (»Das Weihnachtsmarktwunder« [› Rezension]) bekannt geworden. Jetzt hat der Autor sein Werk (Erstausgabe 1998) aktualisiert, erweitert und verbessert.
Entgegen der Erwartung, die der Titel nähren mag, ist dies kein Führer durch Architektur und Baugeschichte des Doms. Vielmehr spürt Ralf Günther der »Spiritualität« des Ortes nach. Inwieweit fußt die christliche Durchgeistigung dieses herausragenden Gotteshauses auf vorchristlichen Religionen und Bräuchen, auf urzeitlicher Mystik, auf heidnischer Magie und schierem Aberglauben, aber auch auf weltlichen Ideologien?
Indem er eine Fülle an geistesgeschichtlichem Material aus zweieinhalb Jahrtausenden ausbreitet, deutet Ralf Günther »das Mysterium der Kathedrale aus nicht-christlicher Sicht« und den Dom als »ein gigantisches Gefäß« für verschiedenste, allesamt kulturell und menschlich tief verwurzelte Anschauungen, die ihm durch die Jahrhunderte Lebens- und Anziehungskraft geschenkt haben und deren Gesamtheit seine Bedeutung für Angehörige unterschiedlichster Kulturkreise erklärt – unabhängig davon, ob sie Christen sind oder nicht. So ist es nur folgerichtig, dass die UNESCO das Monument, längst ein nationales Symbol, 1996 zum Weltkulturerbe erhob.
Den Leser erwarten neun Kapitel zu Themenkreisen wie Der Magische Ort, Die Heilige Richtung, Die Heilige Zahl, Der Dom als Hort der Astrologie, Das Mittelalter in der Romantik, die ihre Erkenntnisse in gut überschaubaren Texthäppchen präsentieren. Viele Abbildungen, eine unkomplizierte Syntax und etliche Redundanzen erleichtern die Verdaulichkeit der gelegentlich notgedrungen abstrakten Überlegungen. Für die wissenschaftliche Fundierung sorgen Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und Bildnachweise, während ein Register leider fehlt.
Zeitlich holt Ralf Günther weit aus. Seine kulturgeschichtlichen Überlegungen reichen bis in archaische Zeiten, um beispielsweise die Wahl des »Domhügels« als Versammlungs- und Weiheort mit der Vorstellung zu begründen, solch eine Erhebung sei als »Kraftstelle der Erde« angesehen worden. Aus solchen zeitlosen Tiefen menschlichen Empfindens, Mutmaßens und Grübelns über uns und die Welt um uns herum stammen auch mythische Sinngebungen gewisser Zahlen, Ausrichtungen, Pflanzen und Gestirne, deren Auswirkungen bis in Details der Domarchitektur und der christlichen Lehre der Autor nachspürt.
Aus Indien und Persien stammt der Kult um Mithras, ursprünglich ein wehrhafter Gott der Ordnung und des Lichts, der über die Jahrhunderte immer mehr Eigenschaften und Zuständigkeiten zugeschrieben bekam und im gesamten Römischen Reich äußerst populär wurde, bis das Christentum in direkte Konkurrenz mit ihm trat. Vor allem am Mithraskult belegt Günther seine Kernthese christlicher »Inkulturation«, dass das Christentum nämlich im Verlauf seiner Geschichte eine Fülle heidnischer Elemente – Bräuche, Symbole, Feste, Daten, Anschauungen, Bilder und dergleichen – nicht etwa unterdrückt, sondern uminterpretiert und aufgesaugt habe. Sein Vokabular illustriert die Praktiken: »schluckte«, »überwucherte«, »verdrängte«, »nährend«, »durch sie wachsend«, »wird dort bis heute zelebriert«.
Was die Akzeptanz des Christentums bei der zu bekehrenden Bevölkerung (im zerfallenden Römerreich, im Frühmittelalter und wohl bis heute) allerdings beeinträchtigte, war seine Abstraktheit. Heidnische Naturreligionen ließen Mensch und Welt als Einheit wahrnehmen; jedes erlebbare Phänomen (Gestirne, Natur, Geburt und Tod) war unmittelbar mit dem Wirken einer Gottheit verknüpft. Dagegen propagierte das rivalisierende Christentum einen entrückten Gott, der keine spontane Identifikation erlaubte: allwissend, allmächtig, unergründlich, unnahbar, nur teilweise menschlich (›dreieinig‹) und erst im Jenseits in Erscheinung tretend. Es verwundert nicht, dass auch gläubige Christen mehr Nähe ersehnten und sie beispielsweise durch Rituale und Aberglaube bis heute zu finden hoffen. Von unschätzbarem Wert sind in dieser Hinsicht die Reliquien der Heiligen Drei Könige, die, so die Legende, aus Persien über Konstantinopel und Mailand nach Köln kamen und dort seit 1164 in ihrem märchenhaft strahlenden Goldschrein angebetet werden .
Amtskirche und Theologen wollen und können Vermischungstheorien, wie Günther sie vorträgt, kaum folgen, sondern insistieren auf klarer Abgrenzung der Heilslehre von anderen Glaubensrichtungen. Insofern wirken einige von Günthers Formulierungen im Flusse seiner Argumentation durchaus provokant (»Der jetzige Dom ist die aktuelle Gestalt für eine göttliche Vision, die dem Ort innewohnt, ebenso wie Jesus Christus die heutige christliche Gestalt für eine Gottheit ist, die ehemals den Namen Mithras trug; die aber ebensogut Helios oder auch Odin bzw. Wodan genannt werden könnte – oder aber Zoroaster, dessen Priester vermutlich die Heiligen Drei Könige waren.«).
Andererseits ist die Theorie religiöser Inkulturation längst bekannt und gilt nicht nur für das Christentum. Aber das Christentum erwies sich in dieser Hinsicht weltweit als besonders offenherzig. Wo immer es nicht gelang, eine »alte, einem menschlichen Urbedürfnis entgegenkommende Glaubenslinie zu beenden«, tolerierte es regionale Spielarten wie etwa Gospel, Voodoo und lokale Varianten des Aberglaubens. Mit dieser Offenheit erklärt Günther das immer wieder verblüffende Nebeneinander christlicher, weltlicher und heidnischer Motive im Dom: geschnitzte Waldgeister und ein sich liebendes Paar am Domgestühl, Fialen wie Farne, Säulenreihen wie ein Wald, diffus einstreuendes Licht wie in eine Lichtung, Gewölbe wie Sternenhimmel.
Die letzten Kapitel führen in die Neuzeit. Nach Jahrhunderten des Stillstands und des Verfalls der vorhandenen Baukörper (deren Grundstein von 1248 stammt) wurden 1824 die Restaurationsarbeiten begonnen. 1842 legte man den neuen Grundstein, und 1880 wurde mit großem Enthusiasmus die Fertigstellung des Doms gefeiert (All diese Jahresangaben sind übrigens Beispiele der Zahlenmystik um die heilige Dreizahl.). Inzwischen hatte die Industrialisierung die Gesellschaft umgekrempelt, Naturwissenschaften und Technik genossen wachsendes Vertrauen, Individuum und Nation waren geachtete Werte, während die christliche Lehre und die Kirche an Einfluss verloren. Gleichzeitig blickte man sehnsüchtig zurück auf ein romantisch verklärtes Mittelalter als mystische Zeit nationaler Identität und Größe. In diesem Spannungsfeld wuchs der Dom seiner Vollendung entgegen: als Gotteshaus und als Symbol nationalen Stolzes.
In der Neubearbeitung hat Ralf Günther seinem Buch ein Kapitel hinzugefügt, das den Dom in den neuesten gesellschaftlich-politisch-kulturellen Kontext nach der Wiedervereinigung rückt. Er zieht Parallelen mit dem Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche und kommentiert die Renaissance archaischer Anschauungen etwa in Computerspielen und der Fantasy-Literatur. »Härte und Grausamkeit des Umgangs in unserer Gesellschaft« sieht er als Indiz, dass wir uns »im Übergang von einer christlich-humanistisch geprägten Gesellschaft mit strengen Vorstellungen von Moral und Gemeinschaft hin zu einer archaischen Gesellschaft« befinden, »die wieder mehr den Gesetzen der Natur verhaftet zu sein scheint«. Auch in dieser Phase werde der Dom als Teil des »Superorganismus Menschheit« uralte, veränderte und neue Rollen übernehmen wie seit jeher.