Erste Liebe, extrazart
Park ist 16, seine Mutter Koreanerin und er deshalb der »blöde kleine Asiate«. Schon im Schulbus beginnt das tägliche Spießrutenlaufen. Niemand käme auf die Idee, sich neben ihn in eine der vorderen Reihen zu setzen. Angesagt ist die Clique um Steve, die auf den hinteren Bänken ihre Show abzieht. Sie kreischen und grölen ihr Proletenvokabular durch den Bus und beschießen die Underdogs mit Papierkügelchen. Einfach ignorieren, diese Typen – mit dieser Strategie ist Park bisher ganz gut gefahren und findet schließlich Ruhe, um sein Mix-Tape vom Walkman zu hören.
An diesem Augustmorgen 1986 steigt eine Neue in den Bus. Wie auf Kommando rücken alle Alleinsitzenden auf den Platz am Gang, um ihr den Durchlass zum freien Fensterplatz zu vermiesen. Auch Park schaut, während sie hilflos sucht, ganz unbeteiligt nach draußen. Doch so recht gelingt es ihm nicht. Groß und unförmig in ihrem weiten karierten Männerhemd, dazu knallrote Locken, Halsketten, Tücher um die Handgelenke, zieht die »Vogelscheuche« seinen Blick auf sich, als hätte sie es darauf angelegt, angestarrt zu werden. Ehe sie in dem ruppig anfahrenden Bus hinschlägt, rutscht Park zum Fenster und raunt ihr wütend zu: »Setz dich endlich.« Gottlob, sie schweigt und hält Abstand.
Im Lauf des ersten Schultags stellt sich heraus, dass Eleanor Douglas (so heißt die Neue) täglich zwei Kurse mit dem Asiaten gemeinsam verbringen wird. Ob er wohl auch zu der Gang gehört, die ihr vom ersten Moment an nur Hass entgegengebracht hat? Jetzt steht die Heimfahrt im Bus an, und Eleanor weiß, dass sie der »Höllenbrut« ihr »Futter« geben muss. Park hat sich wie sie durch den Tag gequält und alle Optionen durchdacht, wie er nach Steve und seiner Korona nun noch dem merkwürdigen Paradiesvogel aus dem Weg gehen könnte. Doch was immer er täte, es würde ihm als Schwäche ausgelegt; also lässt er Eleanor einfach wieder neben sich sitzen.
Dies ist der Anfang der Liebesgeschichte zwischen zwei gleichaltrigen Jugendlichen, die Rainbow Rowell in »Eleanor & Park« erzählt. ›Boy meets girl‹ und ›Außenseiter trifft auf Außenseiter‹, dazu eine Portion sozial bedingtes ›Romeo und Julia‹ – mit diesen Etiketten könnte man den Roman flott bei seinen zahlreichen Verwandten einsortieren. Aber »Eleanor & Park« fällt aus dem Rahmen: Es ist Slow Food für sensible junge Leser, die nicht gleich abschalten, wenn die Handlung im Prä-Internet-Zeitalter spielt. (Damals nahmen Teenager ihre Lieblingsmusik auf Tonbandcassetten auf und verehrten die hakeligen Tonkonserven ihren Angebeteten – eine Art analoges Facebook-Profil mit realer »Like«-Aufforderung.) Die zart und einfühlsam beschriebene Geschichte, die sich soviel Zeit lässt, wie die beiden jugendlichen Protagonisten sich nehmen, um einander kennenzulernen, erhielt viel Lob, unter anderen den Boston Globe-Horn Book Award und den Michael L. Printz Award; für die New York Times gehört sie zu den sieben Notable Children's Books des Jahres. Brigitte Jakobeit hat das Buch für den Hanser-Verlag übersetzt.
Was Eleanor und Park verbindet, ist ihr Außenseitertum, doch sie stammen aus zwei diametral entgegengesetzten Welten, wo jede/r mit ganz persönlichen internen Problemen zu kämpfen hat, die die/der andere kaum nachvollziehen kann.
Park lebt materiell sorgenfrei. Bald ist es vorbei mit dem Schulbus, denn wenn er den Führerschein hat, wird er mit Mutters Chevrolet Impala zur Schule fahren. Aber er kann die Erwartungen seines Vaters nicht erfüllen. Sein asiatisch-weiches Erscheinungsbild hat etwas Mädchenhaftes, während sich sein Vater einen kernigen Typen als Stammhalter wünscht. Seit Jahren schickt er ihn zum Taekwondo, damit endlich ein Mann aus ihm werde. Doch Park widersetzt sich trotzig diesem Wunsch. Seit er nun auch noch mit schwarzem Eyeliner seine Augenkonturen betont, ist der Ofen zwischen den beiden endgültig aus.
In Eleanors Zuhause herrschen Geldnot, Willkür und Gewalt. Es gibt weder Auto noch Telefon. Nicht einmal eine Zahnbürste besitzt das Mädchen. Sie putzt ihre Zähne mit den Fingern und Salz. Ihr schräges Outfit ist keineswegs einem freakigen Geschmack, sondern allein der Not geschuldet. Eine neue Jeans muss Wunschtraum bleiben. Das Regiment führt Eleanors unberechenbarer Stiefvater Richie. Meist unter Alkohol, macht er allen Dauerärger, und Mutter prügelt er sogar. Trotz allem will Eleanor es nicht mit ihm verderben, denn er hat es in der Hand, ob sie bleiben kann. Ein Jahr lang hatte sie bei fremden Leuten gelebt, ehe sie wieder in ihre Familie zu den vier kleineren Geschwistern zurückkehren durfte. Alle Kinder müssen sich ein Zimmer teilen. Es ist so eng, dass die drei Jungen auf dem Fußboden schlafen müssen und die Mädchen ihr Bett nicht verlassen können, ohne auf jemanden zu treten. Das Bad hat keine Tür. Als Sichtschutz hat Mutter »ein geblümtes Laken zwischen den Kühlschrank und die Toilette gehängt«.
Weder Eleanor noch Park mag die familiären Schwierigkeiten dem bzw. der anderen gestehen. Immerhin darf Eleanor regelmäßig bei Parks Familie zu Gast sein und sogar an den Mahlzeiten teilnehmen, doch einen Einblick, was Park belastet, erhält sie nicht. Park dagegen darf sich gar nicht erst in die Nähe von Eleanors Wohnung wagen, und allen diesbezüglichen Nachfragen weicht sie konsequent aus. Zu Hause muss sie ihre Freundschaft verheimlichen, und niemand darf je die Comics und Musikcassetten finden, die Park ihr gibt. Als sie später regelmäßig die Nachmittage bei Park verbringt, belügt sie sogar ihre wohlwollende, um den Hausfrieden bemühte Mutter, sie sei bei einer Schulfreundin.
Während sich Park im Schulalltag am Rand des Haifischbeckens hält und damit einigermaßen unbehelligt davonkommt, entlädt sich über Eleanor der ungebremste Furor der Cliquen. Ständig findet sie neue obszöne Sprüche auf ihren Schulbüchern. In einer Sportstunde versenkt jemand ihre Kleidung in der versifften Toilette. Darüber sprechen will sie mit niemandem; das wäre ihr zu peinlich, und ändern würde es sowieso nichts.
Zwischen Eleanors und Parks Perspektiven wechselnd werden uns die Innenansichten der beiden Figuren gut nachvollziehbar eröffnet. Ihre Gefühlswelten unterscheiden sich stark voneinander, und nur ganz vorsichtig folgen sie der Anziehungskraft, die sie zueinander führt. Zu groß ist bei beiden die Ungewissheit, ob das eigene Handeln richtig oder falsch ist, die eigene Wahrnehmung der des anderen entspricht, dessen Erwartungshaltung womöglich enttäuscht werden könnte. Urteile bleiben unausgesprochen, werden aber erspürt.
Eleanor fällt es schwerer als Park, sich auf dieses behutsame Vorantasten einzulassen. Scham und Unsicherheit lassen sie immer wieder hinterfragen, ob sie dem Ungewöhnlichen, das ihr geschieht, den Gefühlen, die sie durchlebt, trauen darf. Selbst ein so unschuldiger Vorgang wie das erste Händchenhalten ist bedeutsam: »Eleanors Hand zu halten war, als würde man einen Schmetterling halten ... etwas Vollkommenes und vollkommen Lebendiges« (Park); »so ähnlich wie schmelzen – nur viel heftiger« (Eleanor); »als seine Aufregung langsam nachließ, dämmerte ihm, dass Eleanor seine Berührung überhaupt nicht erwidert hatte« (Park). Als Park sie zum ersten Mal küsst und ihren fülligen, eigentlich unattraktiven Körper berührt, ist ihr das furchtbar peinlich. Verhält sie sich denn nicht wie eine Schlampe? Doch auch diese Nöte mag sie Park nicht gestehen, und wie kann er so leichthin sagen, dass er sie liebe?
»Eleanor & Park« wird für Jugendliche ab 14 Jahren empfohlen. Ihnen wird eine Welt geboten, die fast schon märchenhaft erscheint, jedenfalls aus einer anderen Zeit gefallen. Das gilt zunächst einmal für die umfangreich integrierte Popkultur der Siebziger und Achtziger. Für Interessierte hat der Hanser-Verlag extra zu diesem Buch eine Webseite eingerichtet, auf der zu all den großenteils vergessenen Popgruppen, Filmen, Cartoons und Persönlichkeiten, die den Alltag der Protagonisten bestimmen, Links zu Wikipedia, YouTube usw. zusammengestellt sind, dazu verkaufsfördernde Gimmicks wie illustrierte romantische Zitate, Lesepröbchen und Buchtrailer.
Nicht weniger fremd könnte abgeklärten heutigen Teens erscheinen, wie fein und behutsam sich die Liebesbeziehung zwischen ihren Altersgenossen in grauer Vorzeit entwickelt. Während heutigen Internetnutzern zumindest optisch und verbal aber auch gar nichts Sexuelles mehr verborgen bleiben dürfte, ob sie (und ihre Eltern) das wollen oder nicht, erkunden Eleanor und Park einander dezent, sensibel und in Zeitlupe. Das bringt die Handlung stellenweise fast zum Stillstand und könnte manchen Leser hinschmeißen lassen (uncool, langweilig, null Action).
Obwohl auch Eleanor und Park allerlei Druck ausgesetzt sind (Mobbing, grobe Rollenvorbilder aus den Medien ...), folgen sie in ihrem Handeln einer inneren Richtschnur, die so zeitlose Werte wie Verständnis, Mitgefühl, Treue, Respekt, Vertrauen und Verantwortung in den Vordergrund stellt. Gut, dass diese Richtschnur auch heute noch nicht ganz abgerissen ist.