Kasteiung im Leuchtturm
Seit zwanzig Jahren ist die Stelle vakant. Leuchtturmwärter auf einem zerzausten Eiland, den Job mag sich keiner der Einheimischen von Neely, hoch im Norden Alaskas, antun. »Lass die Finger davon ... Es ist gefährlich da draußen ... nicht nur das Wetter«, brummeln sie. Aber Kyle kommt das Angebot gerade recht. Sein Lohn als Lachsfischer wird immer mickriger, je stärker die Fangquoten gedeckelt werden, die Insel aber verspricht ein festes Gehalt, angenehmere Arbeit als tagelang auf bewegter See zu rackern und eine große Freiheit. Anna wird schon zustimmen.
Kyle McAllin hat Anna Richards ein Jahr zuvor in seinem alten Truck mitgenommen, als sie in einer menschenleeren Gegend am Straßenrand auf eine Mitfahrgelegenheit nach Norden wartete. Sie wissen nicht viel vom anderen, aber das braucht es ja auch nicht, um sich ineinander zu verlieben. Ein Jahr lang hausen sie jetzt schon gemeinsam im Dachgeschoss einer Konservenfabrik.
Bevor der Zufall die beiden zusammenführte, pflegte Anna ein ausgefallenes Hobby: das Eisklettern. In der Einsamkeit von Alaskas Gletschern suchte die introvertierte, zähe junge Frau das ultimative Abenteuer, aber auch Abstand zu ihrer ziemlich widerwärtigen Familie. Nachdem sie drei Jahre lang Erfahrungen gesammelt hatte, übernahm sie die Leitung einer Jugendgruppe. Die Reibereien unter den Jugendlichen forderten mehr Sensibilität und soziale Kompetenz, als sie aufzubringen gelernt hatte. Als eines der Mädchen sich in seiner Notlage Anna anvertraute, war sie berührt davon, wie ähnlich sie einander im Innersten waren. Dennoch beging sie einen verhängnisvollen Fehler.
Dessen Folgen hat Anna nie verwunden. Eine Zeitlang war sie auf der Flucht, trampte durch Kanada, zeltete unter freiem Himmel, vermied jede Beziehung. Doch das Trauma verfolgte sie bis in ihre Träume. Endlich beschloss sie, ihre drückenden Schuldgefühle aktiv zu bewältigen. Sie wollte an den Ort des Unheils zurückkehren, sich den schrecklichen Ereignissen der Vergangenheit stellen. Ehe sie dort ankam, nahm Kyle sie mit nach Neely.
Auf Hibler Rock, dem von Sturm und Wellen umtosten Inselchen, kommt es knüppelhart für die neuen Haushüter. Ab und an bringt ein Versorgungsschiff Lebensmittel, doch darauf kann man sich nicht verlassen, wenn in den peitschenden Naturgewalten nicht einmal das eigene Boot zu Wasser gelassen werden kann. Für die langen Wintermonate, eisig und dunkel, müssen die beiden selbstständig Vorsorge treffen, Fische fangen und räuchern, Klafter um Klafter Holz hacken, ergreifen, was die Natur bietet. Ihr Zuhause, der achteckige Leuchtturm, muss nach den vielen Jahren des Leerstands erst wieder bewohnbar gemacht werden. Anna packt ebenso entschieden zu wie Kyle, um das siffige Gerümpel aufzuräumen, die Wände von Schimmel zu befreien, das widerliche Plumpsklo herzurichten. Im Sperrmüll finden sie eine Badewanne mit Löwenfüßen, die ihnen kurze Momente gemeinsamen Glücks bescheren wird.
In verzogenen Schubladen stößt Anna auf die Spuren ihres rätselhaften Vorgängers – Logbucheinträge, Skizzen. Der Mann hatte es einige Monate hier ausgehalten und verschwand dann plötzlich auf Nimmerwiedersehen. Hatte er in der Einsamkeit dieses Ortes vielleicht eine Art Erlösung gesucht, so wie Anna es für sich selbst vermutet? Je mehr sie grübelt, desto düsterer wird ihre Stimmung. Als ihre Albträume wiederkehren, flüchtet sie sich in Schufterei bis zur körperlichen Erschöpfung.
Das widerborstige Stückchen Fels im Ozean, der tägliche Kampf ums nackte Überleben und die neuerlichen Gewissensqualen unterziehen die vage Liebesbeziehung einer harten Bewährungsprobe. Während Anna oft im Turm sitzt und die schicksalhaften Gletscherberge in der Ferne auf Zeichenpapier zu bannen versucht, zieht sich Kyle in die Scheune zurück, um wie seine Vorfahren von den Alëuten-Inseln ein Kajak zu bauen. Die entgegengesetzten Fliehkräfte wirken unaufhaltsam ...
Rachel Weavers Debüt »Point of Direction« (übersetzt von Yola Schmitz) ist eine ungewöhnlich abenteuerliche Love-Story und ein spannender Unterhaltungsroman in einem einzigartigen Setting. In der Naturlandschaft fernab moderner Zivilisation und Technik bleibt dem Menschen keine andere Wahl als sich ihr unterzuordnen. Anna fühlt sich einerseits hingezogen zur glitzernden Schönheit der eisigen Berge und der wilden, mächtigen Gewässer, andererseits zehren die extremen Kräfte der ungezähmten, unzähmbaren Elemente den menschlichen Körper bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit aus. Das entbehrungsreiche Leben in dieser isolierten Welt hat die Menschen, die hier seit Generationen leben, geprägt. Es sind markante, verschlossene, autarke Charaktere.
Erzählt werden die Ereignisse aus Annas Ich-Perspektive und auf wechselnden Zeitebenen. Wenn auf der Gegenwart-Schiene das Inseldasein geschildert wird, lässt die Präsensform Annas klaustrophobische Zustände und die Wunden in ihrer Psyche unmittelbar nachempfinden. Die Ereignisse der Vergangenheit eröffnen sich nach und nach durch Rückblenden. Während der Leser lange vor Kyle erfährt, was mit Anna los ist, kann er nur erahnen, welches Geheimnis Kyle mit sich herumträgt. Vollständig erfassen kann er es erst am Ende des Romans.
Der Leuchtturm auf der (fiktiven) Insel Hibler Rock mit all ihren Gefahren und Geheimnissen ist ein atmosphärisch perfekter Schauplatz für den Plot und gleichzeitig eine schöne Metapher. Anna bekommt von hier einen klaren Blick auf die fernen Gletscherberge. Aber ihre Schuldgefühle verfolgen sie bis in diese Einöde. Das tägliche Ringen mit der Natur, mit Kyle und mit sich selber empfindet Anna als eine Art Kasteiung. Die hellen Impulse des Leuchtturms über die niemals ruhenden Wellen weisen den Schiffen und vielleicht auch Anna den richtigen Weg. In der Isolation hofft sie darauf, sich endlich vergeben zu können. Wenn sie sich erst selbst wieder anzunehmen gelernt hat, kann sie vielleicht einen neuen Weg zu Kyle finden.