Wächter der See
von R. G. Grant
Die faszinierende Entwicklung der Leuchttürme vom Pharos von Alexandria bis ins 20. Jahrhundert unterhaltsam und facettenreich beschrieben und reichhaltig illustriert
Leuchttürme: Mythos und Ingenieurskunst
Dunkelheit hat für den modernen Menschen ihren Schrecken verloren. Wenn die Sonne untergeht, knipsen wir das Licht an. Wie anders müssen unsere Vorfahren empfunden haben, wenn »the eye of heaven« (Shakespeare, Sonett 18) sich verborgen hatte und Mond und Sterne verhüllt waren. Was blieb dann als Schauder und Gottvertrauen? Das Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins an unsichtbare Mächte über Leben und Tod muss am entsetzlichsten gewesen sein, wenn nicht einmal der Boden unter den Füßen Sicherheit und Orientierung bot: auf offener See. Wen in der Schwärze des Ozeans Luft und Strömungen über Richtung und Geschwindigkeit seiner Bewegung täuschten, wessen Boot gegen einen unter den Wellen verborgenen Felsen stieß, war verloren.
Es muss ein kühner Kopf gewesen sein, der sich als Erster den düsteren Gewalten entgegenzustellen und die Finsternis herauszufordern wagte, um Seefahrern einen leuchtenden Wegweiser zu errichten. Gewiss haben Küstenbewohner schon immer Feuer entzündet, um Angehörigen weit draußen auf dem Meer die Heimkehr zu erleichtern. Maßstäbe aber setzte der Grieche Sostratos von Knidos. Er soll, so heißt es, vor etwa 2300 Jahren den Pharos von Alexandria erbaut haben, eines der sieben Weltwunder der Antike, der bis ins 14. Jahrhundert standhaft blieb. Mittelalterliche arabische Gelehrte beschrieben ihn als etwa 140 Meter hohen, prachtvoll dekorierten Turm aus drei Segmenten.
Der Dumont-Verlag hat nun einen wunderbaren Band veröffentlicht, der die Geschichte der Leuchttürme faszinierend, unterhaltsam und facettenreich beschreibt und reichlich illustriert. Verfasst hat ihn R. G. Grant, ein britischer Autor von historischen, technischen und militärischen Übersichten und Artikeln der »Encyclopedia Britannica«, unter dem Titel »Sentinels of the Sea: A Miscellany of Lighthouses Past« , und Heinrich Degen fertigte die Übersetzung. Anders als viele Kalender und Bildbände zum Thema setzt Grant nicht auf die Ästhetik spektakulärer Fotos von ein paar brandungsumtosten Türmen, sondern auf die sachliche Auseinandersetzung mit Funktionen und Formen, Konstruktionen und Materialien, Standorten und Bauweisen, mit der Leistung von Architekten, Ingenieuren, Erfindern, Verwaltungsorganisationen und Leuchtturmwärtern und mit der sich wandelnden Bedeutung der Leuchttürme in der ganzen Welt. In seinem Textteil ist der Band entsprechend systematisch strukturiert, während der Bildteil etwa fünfzig Bauwerke nach dem Jahr ihrer Indienststellung auf mindestens einer bis vier ganzen Seiten vorstellt. Die Illustrationen sind größtenteils Baupläne und andere technische Zeichnungen, etwa zu den optischen Apparaten. Der Detailreichtum verlockt dazu, sich zu vertiefen, um zu verstehen.
Wir verstehen zum Beispiel, warum im 18. Jahrhundert weniger die Seeleute selbst auf die Errichtung technisch verbesserter Leuchtfeuer drängten, obwohl jedes Jahr Tausende von ihnen auf den Weltmeeren den Tod fanden. Vielmehr trieben wie so oft Geld und Macht – Händler und Militärs – die Entwicklung voran. Hochinteressant auch, dass ein wirklich wirksamer Schutz durch Leuchttürme erst im 19. Jahrhundert realisiert werden konnte, als deren Errichtung und Betreuung staatsnahen Organisationen übergeben wurde. Zuvor war all dies der Initiative von Privatleuten oder Gemeinden überlassen, wo es an Geld, Arbeitskraft, Technikkompetenz mangelte – und oft am Willen, denn am Strand angetriebene Wracks durften die armen Küstenbewohner gewöhnlich behalten.
Grants Buch lässt staunen über die Vielfalt der architektonischen Ausprägungen von Leuchtfeuern. Sind ältere Exemplare oft mächtige Stümpfe, streben neuere wie Nadeln über sechzig Meter in die Höhe. Filigrane Stahlkonstrukte scheinen Wind und Wellen weniger Widerstand zu bieten, während anderswo ein anheimelnd geducktes Wärterhaus mit einem gedrungenen Turmaufsatz Sicherheit und Geborgenheit verspricht.
Kenntnisreich erläutert der Autor, wie Bauformen durch Lage und Beschaffenheit des Standorts bestimmt wurden – und natürlich durch die zur Verfügung stehenden Techniken. In sandige, schlammige Untergründe schraubte man lange eiserne Träger mit Spiralenden, die oben eine Art Hütte aus Holz oder Metall trugen. Auf Felsen im Meer dagegen musste man, ehe der Turm aufgemauert werden konnte, gewaltige Steinblöcke herantransportieren, anlanden, im Gestein verankern oder Betongründungen gießen, so dass alles den unvorstellbaren Kräften haushoher Wogen standhalten würde. Unglaubliche Leistungen vollbrachten todesmutige, bärenstarke Arbeiter selbst auf dreißig Kilometer von der Küste entfernten Riffs und auf Inselchen, deren Oberfläche die meiste Zeit unter Wasser lag. Wenn nur bei stabilem Wetter und Niedrigwasser gearbeitet werden konnte, wenn das rasende Meer fertige Stücke, schwere Werkzeuge oder gar Männer davonriss, dann konnten allein die vorbereitenden Fundamentierungen Jahre in Anspruch nehmen.
Überraschend, mit welch ästhetischen Qualitäten solche Zweckbauten aufwarten können. Viele Türme, auf Orkanfestigkeit ausgelegt, bestechen durch eine schlanke, sich elegant nach oben verjüngende Silhouette. Manche erhielten unerwartet hübsche Innendekors. Im 19. Jahrhundert orientierte man sich gern an mittelalterlichen Burgen mit zinnenbewehrten Umgängen. Oft entzückt die Schönheit des bloßen Eisentragwerks, einer stählernen Wendeltreppe oder der komplizierten Messingmechanik im Lampenhaus.
Waren Leuchttürme bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Vorreiter wagemutigen Ingenieurwesens und Förderer des rasant wachsenden globalen Seeverkehrs, so wurden ihre Funktionen nach und nach von neuen Erfindungen wie Funk und Radar übernommen und der einsame Beruf des Leuchtturmwärters (dem Grant ein eigenes, anrührendes Kapitel widmet) durch Automatisierung ersetzt. Ihren Mythos üben sie freilich noch auf uns Heutige aus, so wie ihre Symbolkraft seit dem elisabethanischen Zeitalter unvermindert ist, als William Shakespeare Leuchtfeuer und Leitstern als Referenz für wahre Liebe wählte: »it is an ever-fixed mark, / That looks on tempests, and is never shaken; / It is the star to every wandering bark, / Whose worth's unknown, although his height be taken.« (Sonett 116)
Übrigens: Wenn Sie nach diesem Sachbuch voller abenteuerlicher Realitäten Lust auf einen Abenteuerroman im Leuchtturm-Setting haben, empfehle ich Ihnen »Die Stille unter dem Eis« von Rachel Weaver [› Rezension].