Rezension zu »99 Särge« von Qiu Xialong

99 Särge

von


Kriminalroman · Zsolnay · · Gebunden · 288 S. · ISBN 9783552056770
Sprache: de · Herkunft: us

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Hinter chinesischen Kulissen

Rezension vom 03.05.2014 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Korruption ist ein Verbrechen am Volk. Ihre Bekämpfung ist Chefsache! Dies er­klär­te kein Geringerer als Chinas Präsident Xi Jinping bei seiner Amts­ein­füh­rung im März 2013.

Viele Chinesen teilen seine Ansicht voll und ganz und möchten ihm sogar gern bei seiner Arbeit helfen. Einer von ihnen ist Yang Mao­dong, 47. Wie andere Mitglieder der »Bewegung der neuen Bürger« pran­gerte er Korruption und Machtmissbrauch öffentlich an. Das aber missfiel der Staatsführung; sollte das Aufzeigen von Missständen vielleicht nur Chefsache sein? Im August 2013 wurde Maodong verhaftet, was in­ter­na­tio­na­le Aufmerksamkeit erregte.

Ein anderer, der die chinesischen Verhältnisse kennt und beschreibt, ist der Schriftsteller Qiu Xialong. 1953 in Shanghai geboren, lebt er seit 1988 in den USA. Er hatte schon früh Englisch gelernt und über­setzte u.a. amerikanische Kriminalromane; seit 2000 veröffentlicht er seine eigene Reihe. In deren Mittel­punkt agiert Oberinspektor Chen Cao vom Polizeipräsidium Shanghai. »Enigma of China« Qiu Xialong: »Enigma of China« bei Amazon (»99 Särge«) ist bereits der achte Band; sieben sind seit 2003 bei Zsolnay erschienen, alle bis auf den ersten wurden von Susanne Hornfeck übersetzt.

Zhou Keng ist ein verdientes Parteimitglied. Als Direktor der Shanghaier Behörde für Wohnungsbauent­wicklung verdient er auch gut. Aktivisten, sogenannte »Netzbürger«, haben Fotos von ihm im Internet ge­postet, auf denen man das erkennt: Er trägt eine teure Luxusuhr am Handgelenk, und auf dem Tisch liegen die exklusiv dem Kader zugänglichen Zigaretten der Marke »95 Supreme Majesty«. Diese Art von An­pran­ge­rung im Netz (»Men­schen­fleisch­su­che«) hat sich in den letzten Jahren zum Volksport entwickelt, kommt aber in Zhou Kengs Fall zu spät; man hat den Mann bereits aus dem Verkehr gezogen und zum Ver­hör in der obersten Etage eines Luxushotels festgesetzt. Am nächsten Morgen findet man ihn erhängt. Selbst­mord!

Parteisekretär Li, Oberinspektor Chen Caos Vorgesetzter, schaltet die Polizeibehörde ein und betraut Haupt­wach­tmeis­ter Wei mit den Ermittlungen. Das Mitwirken Chens, »als erfahrenster Beamter des Präsi­diums«, soll »die Ernsthaftigkeit unserer Untersuchung in diesem Korruptionsfall unterstreichen«, aber er soll im Hintergrund bleiben. Warum? Das ist eins der »Rätsel«, wie so vieles »im Sozialismus chinesischer Prägung«, aber ein leicht durchschaubares: Eine ernsthafte Wahrheitsfindung ist von vornherein nicht ge­wünscht. Die Offiziellen wollen den Fall Zhou Keng rasch als Selbstmord ad acta legen, abgesegnet von Chen, der auch Vizeparteisekretär ist und als Lis Nachfolger gehandelt wird.

Der Leser ahnt es, Chen vermutet es, und Wei muss Indizien dafür gefunden haben: Der vermeintliche Selbstmord entpuppt sich als hinterhältiger Mordfall. Doch warum musste Zhou Keng sterben? Durch Be­stechung im großen Stil war er zu Reichtum gekommen und hatte marktbeherrschenden Einfluss im Woh­nungsbau. Gibt es Hintermänner, die Aufdeckung fürchteten? Vielleicht führende Politkader, die im Kor­rup­tions­sumpf ordentlich beteiligt wurden?

Nachdem Wei auf einer der mehrspurigen Stadtautobahnen Shanghais tödlich verunglückt, weiß Chen, wes­sen Glocken geläutet haben, und bringt sich vorsichtig ein wie »der Blinde, der in dunkler Nacht auf blin­dem Pferd einem unergründlichen See entgegenreitet«. Er befragt Bedienstete des Hotels, in dem Zhou Keng festgesetzt war, spricht mit Angehörigen, findet auf Umwegen die seit Tagen vermisste »kleine Se­kre­tä­rin« Zhou Kengs. Die intensivste Unterstützung findet er bei der Journalistin Lianping, die die Lite­ra­tur­sei­te einer Zeitung betreut. Über die gemeinsame Liebe zur Lyrik knüpfen sie bald ein zartes Band der Zu­nei­gung.

Während Chen die digitale Welt bisher verschlossen war, führt Lianping, eine wahre Expertin, ihn nun in die Grundlagen von Internet, Netzwerken und Blogs ein.

Die Handlung verläuft gänzlich unaufgeregt – für Fans härterer Aktion vielleicht zu gemächlich –, aber stim­mig und gut nachvollziehbar, um in einer Art Bogenschlag zurück zum Anfang zu enden. Chen bleibt nur eine Möglichkeit, der Wahrheit ans Licht zu verhelfen: Die Beweise, die er gefunden hat, müssen öf­fent­lich bekannt gemacht werden, und wer könnte das effizienter erledigen als die »Netzbürger«?

Qiu Xialong bedient sich des Krimi-Genres, um auf leicht genießbare und unverfängliche Art Missstände im »Sozialismus chinesischer Prägung« anzuprangern, von denen wir im Westen manches wissen, über die zu schreiben sich aber kein Chinese erlauben darf. Qiu Xialongs Kritik ist deutlich, aber sicher verpackt.

Schon auf der ersten Seite lesen wir: China sei ein Land des »Kapitalismus, eine primitive Günstlingswirt­schaft ... durch und durch materialistisch geprägt.« Wo »die Kinder privilegierter Kader – die Prinzlinge unserer Gesellschaft – automatisch selbst zu hohen Kadern werden«, könnte man »ebenso gut von Feuda­lismus sprechen«. Man wisse doch, »dass die chinesische Gesellschaft moralisch, ideologisch und ethisch am Ende ist, dennoch trommelt sie weiter wie das Häschen im Werbespot.« Solch starken Tobak bringt weder Chen noch der Erzähler aufs Tapet, sondern ein Redner bei einem der »gerade noch geduldeten« Vorträge vorm Schrift­stel­ler­ver­band; Chen lauscht mal nickend, mal die Stirne runzelnd.

Die Führungsetage verschafft sich Vorteile durch Gefälligkeiten, die zu Gegenpräsenten verpflichten. In der über etliche Jahre sensationell boomenden chinesischen Wirtschaft konnten sich Korruption und Vet­tern­wirt­schaft besonders leicht ausbreiten; die beiden Übel beherrschen und lähmen sie heute. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass die Bevölkerung in unsäglich arme und unermesslich reiche Schichten gespalten ist, was für gärende Unzufriedenheit sorgt. Gerade der Bausektor – Wälder aus Hochhaustürmen, vielspu­rige Autobahnen, gewaltige Flughäfen und Bahnhöfe, kühne Brücken über stille Täler, gigantische Stau­dämme – zeigt, mit welcher Entschlossenheit und offensichtlichen Rücksichtslosigkeit gegen Menschen und Umwelt das Land in die »Moderne« getrieben wurde.

Neben der politischen Botschaft transportiert Qiu Xialongs neuestes Buch natürlich auch jede Menge authentisches Kolorit aus der uns fremden Kultur, die immer mehr Touristen mit eigenen Sinnen erleben.

Fazit: Qiu Xialongs Krimi »99 Särge« ist eine ›runde‹ und vielschichtige Leseerfahrung – kein Thriller, aber unterhaltsam und reich an exotischen Eindrücken aus dem höchst widersprüchlichen China unserer Tage.


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