Auf des Vaters Spuren
Der Auslöser für das, was dieser Roman über mehr als vierhundert Seiten ausbreitet, ist ein geradezu alltägliches Ereignis: Ein Familienvater setzt sich über Nacht ab und ward nie mehr gesehen. Im Fall des Ich-Erzählers Samir steckt allerdings eine komplizierte Historie hinter dem einfachen Verschwinden. Sie umspannt drei Jahrzehnte, mehrere Länder und Kulturen. All dies ans Licht zu bringen und zu verarbeiten beschäftigt Samir viele Jahre lang, und seine Erzählung davon füllt all die Seiten auf spannende, überraschende und ergreifende Weise.
Brahim El-Hourani ist kein verantwortungsloser Drückeberger. Seine kleine Familie ist sein Ein und Alles. 1983 war er mit seiner Frau Rana vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland geflohen. Drei Jahre später – ihr Asylantrag war längst anerkannt – wurde ihr Sohn Samir geboren, dann eine Tochter. Die vier wohnen mit Christen und Muslimen aus dem ganzen arabischen Raum friedlich zusammen, und alle in dem Viertel schätzen den gebildeten, geselligen, lebensfrohen Mann.
Im Sommer 1992 zieht die Familie aus ihrer kleinen Sozialwohnung in ein heruntergekommenes Haus, das ihnen jedoch wie ein Palast erscheint. Spätestens jetzt hat Brahim El-Hourani sein Ziel, für seine Familie und sich selbst eine sichere Zukunft in Deutschland aufzubauen, erreicht. Voller Enthusiasmus macht er sich mit seinem Freund Hakim, der früher wie er selbst im noblen Beiruter Hotel Carlton gearbeitet hatte und etwa zeitgleich mit den El-Houranis nach Deutschland gekommen war, an den Ausbau. Als erstes installieren sie eine Antenne fürs Satellitenfernsehen, denn im Libanon finden erstmals nach zwanzig Jahren wieder Parlamentswahlen statt. Die ganze Nachbarschaft verfolgt die Berichte am Bildschirm und feiert ein ausgelassenes Fest.
Da weiß der sechsjährige Samir schon viel über das Heimatland seiner Eltern. Voller Sehnsucht und Begeisterung hat ihm sein Vater wieder und wieder davon vorgeschwärmt. »Jahrhunderte alte Baumriesen«, »schneebedeckte Spitzen des Gebirges«, »Flusstäler mit fruchtbaren Ufern für Weinanbau«, »geheimnisvolle Städte an steiniger Küste« und die »funkelnde Schönheit« Beiruts, ein »Diadem aus flirrenden Lichtern«, machten den Libanon zum »schönsten Land der Welt«. Dazu die abendlichen Erzählungen vor dem Einschlafen – kann es einen besseren Vater als Brahim El-Hourani geben? Nichts von all dem würde Samir jemals vergessen.
An jenem Abend im Herbst 1992 saß Brahim wieder an Samirs Bett, um die wunderbare, märchenhafte Geschichte von Abu Youssef, dem Dromedar Amir und ihrem Sieg über den Viehhändler Ishaq fortzusetzen. Wie immer küsste der Vater dann die Stirn des Jungen, wünschte ihm ein »Schlaf gut« und flüsterte ihm »Mein größtes Glück« zu. Am Morgen war er nicht mehr da.
Dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei, schließt die Polizei schnell aus. Er muss seine Familie und alles, was er erreicht hat, bewusst und vorsätzlich in aller Heimlichkeit verlassen haben. Warum? Wofür?
Niemand, weder Rana noch Hakim noch sonst wer, kann die Fragen beantworten, die Samir sich über zwanzig Jahre stellt und die ihn niemals loslassen. Nichts und niemand kann die Leerstelle füllen, die nach dem Weggang des Vaters in seinem Leben klafft. Aus dem verlassenen kleinen Jungen wird ein stets irgendwie deplatzierter Jugendlicher, in der Schule ein Außenseiter, der keine Freunde findet. Selbst die erste Liebe geht so ziemlich an ihm vorbei. Mit seiner manischen Angst, verlassen zu werden, ist Samir bindungsunfähig. Nachdem die Mutter an einem Aneurysma verstirbt und die jüngere Schwester in eine Pflegefamilie gegeben wird, kommt er bei Hakim unter, bis er eine Anstellung findet und sich selbst eine kleine Wohnung leisten kann.
Samirs Arbeitsstelle – eine Bibliothek mit Archiv – ist ideal für ihn. Er liest jedes Buch, das ihm den Libanon näherbringt. Tage verbringt er im Keller, recherchiert in alten Publikationen, sucht nach Berichten über das Jahr 1992. Seine Wohnung quillt über mit Zeitungsartikeln und Notizen.
Schon Jahre zuvor hatten Samirs Nachforschungen im engeren Umkreis, im Alltag der Eltern begonnen. Ihre Beziehung war immer liebevoll, nie fiel ein böses Wort. Nur in einer Nacht veränderte sich der Vater, und die Eltern stritten lautstark. Beim gemeinsamen nachmittäglichen Betrachten von Libanon-Bildern (»damit ihr seht, wo wir herkommen«) war plötzlich ein Dia aufgeleuchtet, das wohl hätte aussortiert sein sollen. Es zeigte zwei mit Pistolen bewaffnete Uniformierte in einer großen Festhalle. Einer davon war Brahim El-Hourani.
Eine positive Wendung tritt ein, als Samir heiratet. Er kennt Yasmin, eine Psychotherapeutin, schon sein Leben lang, denn sie ist Hakims Tochter, und er hat sie immer geliebt, aber dass sie jemals ein Paar werden könnten, hatte er nicht einmal zu träumen gewagt. Allerdings will sie sich auf eine gemeinsame Zukunft nur einlassen, wenn es Samir gelingt, die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen. Der Weg dahin, so motiviert ihn Yasmin, muss ihn in den Libanon führen.
Pierre Jarawans Roman »Am Ende bleiben die Zedern« bietet ein faszinierendes und intensives Leseerlebnis. Der Autor führt uns in die Kulturkreise, wo auch seine eigenen Ursprünge liegen. Lange war der Libanon ein blühendes, stabiles, politisch neutrales Land (»Schweiz des Orients«), bis in den Siebzigerjahren Konflikte zwischen religiösen und politischen Gruppen unterschiedlichster Ausrichtungen und Ziele, teils aus eigenen Antrieben, teils von ausländischen Kräften angestachelt, zum Ausbruch des Bürgerkriegs führten. Immer wieder erfahren wir in kurzen Episoden, was es mit den Sunniten, Drusen, Muslimen, Christen, Palästinensern, Syrern, Israel, der Hisbollah, dem Iran und dem Assad-Clan bis zur »Zedernrevolution« im Jahr 2005 auf sich hat. Eine knappe chronologische Übersicht am Ende des Buches fasst die wichtigsten Ereignisse zusammen.
Die traurige Historie dieses Landes und ihre brutalen Auswirkungen auf seine Bewohner – unter ihnen auch Brahim El-Hourani – schildert Jarawan erstaunlich sachlich. Der unerbittliche Hass, mit dem die Religionsgemeinschaften einander befehden, wird dennoch greifbar. Nach all den Blutbädern und endlosen Racheaktionen scheint eine Versöhnung undenkbar, nicht politisch und nicht einmal im privaten Bereich. Überall wachen Milizen, verschleppen Menschen, schießen auf Andersgläubige.
Im Vordergrund steht die Suche nach dem verschollenen Vater. Der Autor gestaltet Samirs Ich-Erzählung recht kleinschrittig, sie springt zwischen den verschiedenen Zeitebenen, vollzieht sich ein wenig nach Krimi-Art. Wer es darauf anlegt, kann schon früh Hinweise auf Brahims Verbleib und Motiv entdecken, aber ums Rätsellösen geht es ja nicht. Mit Samirs Reise in den Libanon (um das Jahr 2011 angesiedelt) findet vielmehr ein erwachsener Mann zu den Wurzeln seiner Familie. Deren Vergangenheit und Gegenwart laufen sozusagen aufeinander zu, bis sie am Ende des Romans endlich zusammenfinden. Über allem liegt ein melancholischer Grundton, aber auch die exotische Atmosphäre des Vorderen Orients.
Dieses gut gemachte Buch gibt uns ein Gespür für das zerrissene Land Libanon und seine schier hoffnungslose Zukunft, ohne Partei zu ergreifen. Nur Brahim bleibt ein allzu einseitiger Charakter. Samir kann in seinem Vater nur die Ideale, den ewigen Helden erkennen. Dass aber auch er Verrat beging, das Leben anderer auf dem Gewissen hat, handelt er in nur wenigen Sätzen ab.