Rezension zu »Am Ende bleiben die Zedern« von Pierre Jarawan

Am Ende bleiben die Zedern

von


Belletristik · Berlin Verlag · · Gebunden · 448 S. · ISBN 9783827013026
Sprache: de · Herkunft: de

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Auf des Vaters Spuren

Rezension vom 16.10.2016 · 33 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Der Auslöser für das, was dieser Roman über mehr als vier­hundert Seiten ausbreitet, ist ein geradezu all­täg­liches Ereignis: Ein Familien­vater setzt sich über Nacht ab und ward nie mehr gesehen. Im Fall des Ich-Erzählers Samir steckt aller­dings eine kompli­zierte Historie hinter dem einfachen Ver­schwinden. Sie um­spannt drei Jahr­zehnte, mehrere Länder und Kulturen. All dies ans Licht zu bringen und zu verar­beiten be­schäftigt Samir viele Jahre lang, und seine Erzäh­lung davon füllt all die Seiten auf spannende, über­raschende und ergrei­fende Weise.

Brahim El-Hourani ist kein verantwortungsloser Drückeberger. Seine kleine Familie ist sein Ein und Alles. 1983 war er mit seiner Frau Rana vor dem Bürger­krieg im Libanon nach Deutsch­land geflohen. Drei Jahre später – ihr Asyl­antrag war längst aner­kannt – wurde ihr Sohn Samir geboren, dann eine Tochter. Die vier wohnen mit Christen und Muslimen aus dem ganzen arabi­schen Raum friedlich zusam­men, und alle in dem Viertel schätzen den gebil­deten, geselligen, lebens­frohen Mann.

Im Sommer 1992 zieht die Familie aus ihrer kleinen Sozial­wohnung in ein herunter­gekom­menes Haus, das ihnen jedoch wie ein Palast erscheint. Spätes­tens jetzt hat Brahim El-Hourani sein Ziel, für seine Familie und sich selbst eine sichere Zukunft in Deutsch­land aufzu­bauen, erreicht. Voller Enthu­siasmus macht er sich mit seinem Freund Hakim, der früher wie er selbst im noblen Beiruter Hotel Carlton gear­beitet hatte und etwa zeitgleich mit den El-Houranis nach Deutsch­land gekom­men war, an den Ausbau. Als erstes in­stal­lieren sie eine Antenne fürs Satelliten­fernsehen, denn im Libanon finden erstmals nach zwanzig Jahren wieder Parla­ments­wahlen statt. Die ganze Nachbar­schaft verfolgt die Berichte am Bild­schirm und feiert ein ausge­lassenes Fest.

Da weiß der sechsjährige Samir schon viel über das Heimat­land seiner Eltern. Voller Sehn­sucht und Be­geis­terung hat ihm sein Vater wieder und wieder davon vorge­schwärmt. »Jahr­hunderte alte Baum­riesen«, »schnee­bedeckte Spitzen des Gebirges«, »Flusstäler mit frucht­baren Ufern für Wein­anbau«, »geheim­nis­volle Städte an steiniger Küste« und die »funkelnde Schönheit« Beiruts, ein »Diadem aus flirrenden Lichtern«, machten den Libanon zum »schönsten Land der Welt«. Dazu die abend­lichen Erzäh­lungen vor dem Ein­schlafen – kann es einen besseren Vater als Brahim El-Hourani geben? Nichts von all dem würde Samir jemals vergessen.

An jenem Abend im Herbst 1992 saß Brahim wieder an Samirs Bett, um die wunder­bare, märchen­hafte Geschichte von Abu Youssef, dem Dromedar Amir und ihrem Sieg über den Vieh­händler Ishaq fortzu­set­zen. Wie immer küsste der Vater dann die Stirn des Jungen, wünschte ihm ein »Schlaf gut« und flüsterte ihm »Mein größtes Glück« zu. Am Morgen war er nicht mehr da.

Dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei, schließt die Polizei schnell aus. Er muss seine Familie und alles, was er erreicht hat, bewusst und vor­sätzlich in aller Heim­lichkeit verlassen haben. Warum? Wofür?

Niemand, weder Rana noch Hakim noch sonst wer, kann die Fragen beant­worten, die Samir sich über zwanzig Jahre stellt und die ihn niemals loslassen. Nichts und niemand kann die Leerstelle füllen, die nach dem Weggang des Vaters in seinem Leben klafft. Aus dem verlas­senen kleinen Jungen wird ein stets irgendwie deplat­zierter Jugend­licher, in der Schule ein Außen­seiter, der keine Freunde findet. Selbst die erste Liebe geht so ziemlich an ihm vorbei. Mit seiner manischen Angst, verlassen zu werden, ist Samir bindungs­unfähig. Nachdem die Mutter an einem Aneurysma verstirbt und die jüngere Schwester in eine Pflege­familie gegeben wird, kommt er bei Hakim unter, bis er eine Anstel­lung findet und sich selbst eine kleine Wohnung leisten kann.

Samirs Arbeitsstelle – eine Bibliothek mit Archiv – ist ideal für ihn. Er liest jedes Buch, das ihm den Liba­non näher­bringt. Tage verbringt er im Keller, recher­chiert in alten Publi­kationen, sucht nach Berichten über das Jahr 1992. Seine Wohnung quillt über mit Zeitungs­artikeln und Notizen.

Schon Jahre zuvor hatten Samirs Nachforschungen im engeren Umkreis, im Alltag der Eltern begonnen. Ihre Beziehung war immer liebevoll, nie fiel ein böses Wort. Nur in einer Nacht veränderte sich der Vater, und die Eltern stritten lautstark. Beim gemein­samen nach­mittäg­lichen Betrachten von Libanon-Bildern (»damit ihr seht, wo wir her­kommen«) war plötzlich ein Dia aufge­leuchtet, das wohl hätte aussortiert sein sollen. Es zeigte zwei mit Pistolen bewaff­nete Unifor­mierte in einer großen Fest­halle. Einer davon war Brahim El-Hourani.

Eine positive Wendung tritt ein, als Samir heiratet. Er kennt Yasmin, eine Psycho­thera­peutin, schon sein Leben lang, denn sie ist Hakims Tochter, und er hat sie immer geliebt, aber dass sie jemals ein Paar werden könnten, hatte er nicht einmal zu träumen gewagt. Aller­dings will sie sich auf eine gemein­same Zukunft nur ein­lassen, wenn es Samir gelingt, die Fesseln der Ver­gangen­heit abzu­streifen. Der Weg dahin, so moti­viert ihn Yasmin, muss ihn in den Libanon führen.

Pierre Jarawans Roman »Am Ende bleiben die Zedern« bietet ein faszinie­rendes und intensives Lese­erleb­nis. Der Autor führt uns in die Kultur­kreise, wo auch seine eigenen Ursprünge liegen. Lange war der Liba­non ein blühendes, stabiles, politisch neutrales Land (»Schweiz des Orients«), bis in den Sieb­ziger­jahren Konflikte zwischen religiösen und politi­schen Gruppen unter­schied­lichster Aus­rich­tungen und Ziele, teils aus eigenen Antrieben, teils von auslän­dischen Kräften ange­stachelt, zum Ausbruch des Bürger­kriegs führten. Immer wieder erfahren wir in kurzen Episoden, was es mit den Sunniten, Drusen, Muslimen, Christen, Palästi­nensern, Syrern, Israel, der Hisbollah, dem Iran und dem Assad-Clan bis zur »Zedern­revolution« im Jahr 2005 auf sich hat. Eine knappe chrono­logische Übersicht am Ende des Buches fasst die wichtigsten Ereignisse zusammen.

Die traurige Historie dieses Landes und ihre brutalen Auswir­kungen auf seine Bewohner – unter ihnen auch Brahim El-Hourani – schildert Jarawan erstaunlich sachlich. Der unerbitt­liche Hass, mit dem die Religions­gemein­schaften einander befehden, wird dennoch greifbar. Nach all den Blut­bädern und endlosen Rache­aktionen scheint eine Versöh­nung undenkbar, nicht politisch und nicht einmal im privaten Bereich. Überall wachen Milizen, ver­schleppen Menschen, schießen auf Anders­gläubige.

Im Vordergrund steht die Suche nach dem verschol­lenen Vater. Der Autor gestaltet Samirs Ich-Erzählung recht klein­schrittig, sie springt zwischen den verschie­denen Zeit­ebenen, vollzieht sich ein wenig nach Krimi-Art. Wer es darauf anlegt, kann schon früh Hinweise auf Brahims Verbleib und Motiv ent­decken, aber ums Rätsel­lösen geht es ja nicht. Mit Samirs Reise in den Libanon (um das Jahr 2011 ange­siedelt) findet viel­mehr ein erwach­sener Mann zu den Wurzeln seiner Familie. Deren Vergan­genheit und Gegen­wart laufen sozu­sagen aufein­ander zu, bis sie am Ende des Romans endlich zu­sammen­finden. Über allem liegt ein melan­cholischer Grundton, aber auch die exotische Atmosphäre des Vorderen Orients.

Dieses gut gemachte Buch gibt uns ein Gespür für das zerrissene Land Libanon und seine schier hoff­nungs­lose Zukunft, ohne Partei zu ergreifen. Nur Brahim bleibt ein allzu ein­seitiger Charakter. Samir kann in seinem Vater nur die Ideale, den ewigen Helden erkennen. Dass aber auch er Verrat beging, das Leben anderer auf dem Gewissen hat, handelt er in nur wenigen Sätzen ab.


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