Deine Wohnung, meine Wohnung
Mr Heming versteht sein Geschäft. Das kann man schon an seiner Wohnzimmerwand ablesen. Da hängen Schlüssel unterschiedlichster Farben, Formen und Größen. Jeder einzelne gehört zu einem Haus oder einer Wohnung, die der Immobilienmakler vermittelt hat, und jeder hängt wie auf einer Karte der Stadt an der Position der betreffenden Immobilie.
Seine Sammlung dient Mr Heming nicht dazu, sie bisweilen liebevoll und bewundernd zu betrachten. Er benutzt die Objekte bestimmungsgemäß. Oh nein, er ist kein Einbrecher. Sein wahres Steckenpferd ist, unbemerkt in die Privatsphäre anderer Menschen einzutauchen, ihre Geheimnisse zu ergründen.
Davon ahnt freilich niemand etwas in der englischen Kleinstadt, in der William Heming als seriöser Geschäftsmann bekannt ist. Dass der unauffällige, sanftmütige und freundliche Herr mit altmodischen Manieren und Kleidungsgewohnheiten, der selbst nur ein bescheidenes Apartment bewohnt, hinter seiner ehrenwerten Fassade ein anderes Leben führt, als es scheint, bleibt sein sorgsam gehütetes Geheimnis.
Bei seinen Streifzügen durch anderer Leute Leben geht er pedantisch und kunstfertig vor. Der passende Schlüssel verschafft ihm Zutritt. Dann durchwühlt er Kleiderschränke, öffnet Aktenschränke, inspiziert Kühlschränke, legt sich auf Sofas (Augenblicke intensivster Nähe zu den abwesenden Bewohnern), macht Fotos und Videoaufnahmen, nascht hier und da und nimmt gern kleine Andenken – ein Teelöffelchen, eine Socke – von seinen Exkursionen mit. Zu Hause hält er in Aktenordnern fest, was er an Informationen und Geheimnissen gewonnen hat.
Die Einsicht, kriminell zu handeln, liegt William Heming fern. Er sieht seine zeitaufwändige Nebentätigkeit als harmloses Hobby, überhöht sie andererseits als seine »Berufung« (wie der Originaltitel »A Pleasure and a Calling« hervorhebt). Er ist überzeugt, dass seine heimlichen Ausforschungen letztlich allen Mitbürgern zugute kommen, wenn er aus seinen Erkenntnissen Aktivitäten ableitet. Das Böse auszumerzen wird seine Mission. Wo die Ordnungsmächte nicht wachen, ist er zur Stelle. Dass er etwa das uneinsichtige Herrchen, das nicht entsorgen will, was sein Liebling mitten auf dem Bürgersteig dampfend hinterlassen hat, in adäquater Weise straft, ist nur der Anfang. Bald geschehen in der Stadt seltsame Dinge, die die Polizei auf den Plan rufen, und sogar der gut getarnte Mr Heming gerät unter Verdacht ...
Ist das schwarzer Humor der bewährten britischen Art? Eine Satire? Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Noch bis zur fäkalen Strafaktion begleitet der Leser das skurrile Treiben des Protagonisten mit gelegentlichem Schmunzeln, doch mit fortschreitender Handlung wächst die Skepsis, wie heiter Hemings Marotten zu nehmen seien. Dank seiner Ich-Erzählerschaft gewinnen wir in fragmentarischen Rückblenden Einsicht in seine Kindheit und Jugend sowie in seine Lehrjahre im Immobiliengeschäft und finden dort die prägenden Auslöser für eine bemerkenswerte Persönlichkeitsstörung. Er ist kein verschrobenes Unschuldslamm, und Phil Hogan legt sich nicht recht fest, ob der Ton seines Erzählers amüsieren (wie es anfangs scheinen will) oder nachdenklich machen soll.
Phil Hogan schreibt seit 25 Jahren Kolumnen für den »Observer«. Sein Roman über Mr Heming (von Alexander Wagner ins Deutsche übersetzt) ist eine Art doppelbödiger Kriminalroman, der nicht durch Spannung punktet, sondern eher beunruhigt, indem ein äußerst gefährlicher Mann im freundlichen Plauderton des Biedermanns seine bitterböse Geschichte ausbreitet. Je mehr er über sich enthüllt, desto mehr schwinden die Anflüge von Sympathie, die wir angesichts seiner Nöte für ihn empfinden mochten, und desto mehr greift Unbehagen um sich. Am Ende müssen wir eingestehen, einem geschickten, über Jahre geübten Manipulator auf den Leim gegangen zu sein. Wir sind nicht die einzigen ...