»Überstehn ist alles«
Peter Temples Roman "Wahrheit" fordert des Lesers höchste Konzentration. Er wird mit unüberschaubar vielen Namen, Handlungsorten, kleinen abgeschlossenen Handlungssträngen, Zeitsprüngen, Beziehungen, Abhängigkeiten, entsetzlichen Verbrechen und vielem mehr konfrontiert. Man kann sich kaum erlauben, dieses Buch für ein paar Tage zur Seite zu legen, sonst findet man womöglich schwer wieder hinein. Was ist von diesem hochkomplexen Roman hängen geblieben? Warum erhielt "Wahrheit" den renommierten Literaturpreis "Miles Franklin Award"?
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Stephan Villani, der Leiter der Melbourner Mordkommission. Seine Arbeit hat für ihn höchste Priorität; er will alles unter Kontrolle haben, alles selbst erledigen; seine Nächte sind kurz – wenn er überhaupt zum Schlafen kommt. Wenn er denn seinen Ermittlungen wenigstens konzentriert nachgehen könnte – doch nein, er steht ständig unter Druck, jagt von Tatort zu Tatort, von Termin zu Termin. Die Medien sitzen ihm im Nacken, und die Politiker locken einerseits mit Beförderung, andererseits drohen sie mit Rausschmiss, wenn er nicht so springt, wie sie wollen und einen delikaten Mordfall endlich ruhen lässt.
In seiner Familie – seine Frau hat ihn längst verlassen – ist er ein echter Vaterversager. Seine Tochter Lizzie entgleitet ins Drogenmilieu; die Verantwortung schiebt er auf seine Tochter Colin.
Immer wieder zieht es ihn zu seinem eigenen Vater Bob. Gemeinsam haben sie, als er noch ein kleiner Junge war, Baumsetzlinge gezogen und sie später in einem Areal angepflanzt. Nun rückt eine Feuersbrunst näher und bedroht den Wald und Bobs ganze Existenz. Über die Vergangenheit seines Vaters, insbesondere seinen hoch dotierten Militäreinsatz in Vietnam, erfährt Stephan nur wenig.
Zwei sehr grausame Verbrechen und deren Aufklärung bilden die einzigen durchgehenden Handlungsstränge. Sie sind diametral entgegengesetzt angelegt: der eine im Milieu der High society, der Reichen und Einflussreichen, der andere bei den Underdogs, den Gangsterbanden. Trotz aller Steine, die man ihm in den Weg legt, wird Villani die Wahrheit herausfinden.
Man sollte bei der Lektüre dieses absolut außergewöhnlichen Krimis einfach irgendwann locker werden, all die Personen und Handlungen so hinnehmen, wie sie kommen, und nicht an sich verzweifeln, wenn mal der Überblick entschwindet oder ein Detail nicht mehr abrufbar ist. Dafür erspürt man dann die dichte Atmosphäre. Realitätsnah, investigativ, ernüchternd, schockierend und ohne jede Illusion haut Paul Temple dem Leser die "Wahrheit" der australischen Gesellschaft (die der europäischen sicher in nichts nachsteht) knallhart um die Ohren. Da scheint es nichts Ehrliches zu geben: Jeder – ob Polizisten, Vorbilder der Gesellschaft oder Politiker – sieht nur seinen Profit und gesellschaftlichen Aufstieg. Scheinbar regellos herrscht jede Art von Verbrechen – Betrug, Korruption, Gewalt, käuflicher Sex und Mord – mit hemmungsloser, unvorstellbarer Brutalität. Rasante Handlungsschnitte, oft völlig unvorbereitet eingeschoben, beschleunigen uns auf Höchstgeschwindigkeit. Die Dialoge sind überwiegend derb, rücksichtslos, verletzend. Anstand, Erziehung und Moral sind offenkundig Fremdwörter. Eine düstere Vision der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Trotz des sicher verdienten Literaturpreises wird dieser Thriller nicht jedem Leser gefallen. Er folgt keinem Schema F, keinem 08/15-Strickmuster, sondern der Leser ist gefordert, und der Roman kann zur Anstrengung werden.