Wieder mal die Welt retten
Die Svendsens sind eine phänomenale Familie. Jeder der vier »Extremindividualisten« vollbringt Aufsehenerregendes. Deshalb hat »Time Magazine« ihnen erst kürzlich ein Feature inklusive Porträt auf der Titelseite gewidmet (»The Great Danish Family«). Susan Svendsen, 43, ist promovierte Experimentalphysikerin, ihr Mann Laban, 45, Konzertpianist, und die blondgelockten Zwillinge Thit und Harald, 16, glänzen auf der Violine.
Sie können sich aber auch ganz schön ins Schlamassel reiten, wenn sie sich selbst freien Lauf lassen. So geschehen während ihrer Indien-Reise. Susan wurde wegen »versuchten Totschlags mit bloßen Händen« angeklagt und inhaftiert. Laban, den alle Frauen anhimmeln, hat sich mit der siebzehnjährigen Tochter eines Maharadschas nach Goa abgesetzt, verfolgt von einem Konvoi der »versammelten südindischen Mafia«. Thit ist ebenfalls durchgebrannt, mit »einem Priester des Kalitempels in Kalkutta«, während Sohn Harald in der Grenzstadt Amoeda beim Antiquitätenschmuggel nach Nepal erwischt wurde.
Jeder Normalbürger müsste sich mit solchen Beschuldigungen im Nacken auf eine ungewisse Zukunft mit langen Jahren dunkler Kerkerhaft einstellen. Doch welche Regierung würde die gesamte Vorzeigefamilie ihres Landes in so einer Lage hängen lassen? Kein Wunder also, dass sich kein Geringerer als der Staatssekretär im dänischen Justizministerium persönlich der Sache annimmt: Thorkild Hegn besucht Susan in ihrer Fünfzehn-Quadratmeter-Zelle, die sie sich, ebenso wie »türkisches Klo«, Wasser und Reis, mit dreißig anderen Frauen teilt.
Dies ist der Stand der Dinge nach einer Handvoll Seiten von Peter Høegs Kriminalroman »Effekten af Susan« (Peter Urban-Halle hat ihn übersetzt). Eine wahrlich illustre Familie, eine verfahrene Ausgangssituation, eine dubiose Vorgeschichte – das verspricht Spannung und Kurioses. Aber weit gefehlt: Über die Hintergründe der Missetaten und die Motive der exklusiven VIP-Familie erfahren wir auf den restlichen fast vierhundert Seiten so gut wie nichts. Stattdessen entführt uns der durch »Fräulein Smillas Gespür für Schnee« (1992) berühmt gewordene Autor auf eine ganz andere Lese-Reise.
Irgendwie bewerkstelligt Thorkild Hegn das Wunder, dass die indische Justiz die Svendsens aus ihren Klauen entlässt. An diesem glücklichen Ausgang hatte Susan nie gezweifelt. Sie fragte sich nur, was den Staatssekretär zu seinem Einsatz motivieren mochte. Kaum wieder zu Hause, erfährt sie die Antwort. »Einen ganz kleinen Gefallen« erwartet Hegn als Gegenleistung. Dazu überreicht er ihr ein paar Unterlagen über Magrethe Spliid, seit den Siebzigerjahren hochrangige internationale Militärberaterin, dazu zwei Aufgabenstellungen, minimalistisch in Blockbuchstaben gefasst: »Letzte zwei Protokolle Zukunftskommission des Folketings? Mitgliederverzeichnis Kommission?«.
Damit beginnt der ziemlich überdrehte Krimi-Plot, der sich, wissenschaftlich angehaucht, im exklusiven Milieu von Nobelpreisträgern, Thinktank-Koryphäen und führenden Politikern entfaltet. Hier kann die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susan locker mitmischen, denn sie hat viele Qualitäten: ein scharfes Denkvermögen, intellektuelle Neugier, ein waches gesellschaftliches Bewusstsein, breite Bildung, Durchsetzungskraft, dazu erfreut sie sich ihres weiblichen Sex-Appeals. Niederlagen musste sie allenfalls am heimischen Herd hinnehmen, hat sich aber nicht einmal dort unterkriegen lassen. Vor fünfundzwanzig Jahren ging sie die Ehe mit Laban ein, eine Beziehung, die »am liebsten bis in alle Ewigkeiten halten« sollte wie ihr Haus, erbaut aus langlebigen Materialien. Ihr komplexes Familienleben zu leiten ist für Susan wie die meditative Beschäftigung mit den Paradoxa fernöstlicher Rätsel – eine permanente Herausforderung.
Susans verblüffendste Gabe ist jedoch, dass sie Menschen Dinge zu entlocken vermag, die sie anderen niemals preisgegeben hätten. Diesen »Susan-Effekt« will der dänische Geheimdienst jetzt nutzen, um an Informationen über eine obskure »Zukunftskommission« zu gelangen. Susan soll die Mitglieder ausfindig machen und befragen. So gerät sie in einen spannenden Prozess, der unbeabsichtigt grausame bis tödliche Nebeneffekte zeitigt. Ein sadistischer Mörder folgt Susans Spur, erdrosselt ein befragtes Kommissionsmitglied, schleudert ein anderes in der Waschmaschine, und es fehlt nicht viel, dass ein Bagger den Familien-Volvo der Svendsens einschließlich der Insassen plättet ...
Die Ursprünge für Susans Auftrag reichen zurück bis in die frühen Siebzigerjahre. Damals schloss sich eine kleine Gruppe von anfangs sechs Personen unterschiedlichster beruflicher Ausrichtung (Landvermesser, Maler, Pfarrer ...) zusammen. Ihre Treffen waren geheim, die Mitglieder »anonymisiert«. Sie sollten sich Gedanken darüber machen, wie sich die Welt zukünftig entwickeln würde, und mit ihren Erkenntnissen der Regierung beratend zur Seite stehen. Erstaunlicherweise prophezeiten sie, wie sich im Laufe der Jahre herausstellte, nicht nur weltumspannende Ereignisse, sondern sogar deren zeitlichen Eintritt mit einer geringen Abweichung von wenigen Wochen. Ein atomarer Supergau, Klimawandel, Umweltverschmutzung, Hungersnot, Kriege, der Weltuntergang – welche Regierung wollte darauf nicht vorbereitet sein?
»Der Susan-Effekt« spielt im Jahr 2016. Ein wenig surreal, ein wenig Science-fiction, hin und wieder überzogen bis zum Haareraufen, gut gewürzt mit trockenem Humor, dazu eine Portion Zynismus, sprachlich solide bis niveauvoll, bietet dieser Roman gute Unterhaltung, ein ironisches Spiel mit unseren Zukunftsängsten, denen wir uns nicht unterwerfen sollten. Angesichts der »apokalyptischen Szenarien«, auf die wir (laut seinem Thriller-Plot) nahezu ungebremst zusteuern, könnte es einem zwar angst und bange werden. Gut, dass die Weltretterin Susan samt ihren nicht minder außergewöhnlichen Familienmitgliedern zur Stelle ist und das Schlimmste zu verhindern weiß. Sie ist keine unsympathische Person, aber nahe kommen wir ihr nicht – abgehoben und exaltiert wie sie selbst und ihre Kreise sind, bleiben uns die Svendsens ähnlich fremd wie die Kunstfigur James Bond.