Rezension zu »Ernster als Liebe« von Peter Goldsworthy

Ernster als Liebe

von


Belletristik · Deuticke · · Gebunden · 384 S. · ISBN 9783552061545
Sprache: de · Herkunft: gb

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Wenn Hormone das Handeln bestimmen

Rezension vom 02.07.2011 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

1964: Robert Burns wächst in der verschlafenen australischen Kleinstadt Penola auf. Hier kennt jeder jeden. Da Vater Jim Ortspolizist ist, wohnt die Familie praktischerweise direkt neben dem Gefängnis. Die immer offenen Zellen werden gern von Kleinganoven tageweise bewohnt, denn Roberts Mum wird geschätzt für ihre gute Hausmannskost. Im Dezember beginnen die Sommerferien, und der Vierzehnjährige reitet nebst seinem bestem Freund Billie Currie, einem Aborigine, hoch wie ein Zentaur auf seinem Fahrrad durch den Ort und die Natur. Die Jungs campieren im Freien und stellen mit Fallen Kaninchen nach, die sie gewinnbringend verkaufen. Vor neugierigen Blicken geschützt – so glauben sie – sitzen die Freunde gern auf der Astgabel eines alten Pfefferbaums. Rauchend und Alkohol trinkend haben sie von hier aus alles im Blick. In den Baumritzen liegen gut versteckt Robbies Schätze, z.B. seine Science-Fiction-Hefte – gekaufte wie geklaute -, die ihm Vorlagen für seine ersten eigenen Geschichten liefern, welche sie als Außerirdische spielerisch ausleben. Laserpistolen schwenkend hört man sie schreien: "Banzai!" – "Für den Kaiser!" – oder auch "Heil Hitler!"

Robert ist ein überdurchschnittlich begabter Junge. Er kann schon lesen, als er in die Grundschule kommt; völlig unterfordert bestimmt er den Unterricht als Klassenclown und Klugscheißer. In seinem kleinen Chemielabor im Pferdestall hinter dem elterlichen Haus experimentiert er hemmungslos mit interessanten Substanzen und wäre bei einigen Explosionen fast hops gegangen.

Nach den Ferien werden die Jungen zur Highschool wechseln. Billie fürchtet um die Freundschaft, da sie wohl nicht in dieselben Klassen gehen werden. Dieser Einschnitt geht einher mit deutlich spürbaren körperlichen Veränderungen. Da meldet sich bei Robert ein Organ, das er in seiner massiven Wirkung so noch nicht kannte.

Zu Schuljahresbeginn kommt eine Junglehrerin, Miss Pamela Peach, an die Highschool und übernimmt ausgerechnet Roberts Klasse. Eine winzige flotte Biene, modisch und sexy gekleidet, kommt sie auf einer Vespa daher. Eingezogen ist sie bei den beiden lesbischen Lehrerinnen, die Robert die "Tweedle-Zwillinge" getauft hat (Miss Burk ist "Tweedle Dee", Miss Hammond "Tweedle Dum"). Natürlich ist die Miss sofort Stadtgespräch, und schnell manifestiert sich das Gerücht, die Männer stünden bei ihr Schlange ...

Am ersten Schultag muss Robert seine üblichen Mätzchen durchziehen, um Miss Peach zu verunsichern. Doch deren Ausstrahlung und ihr moderner Unterrichtsstil faszinieren Robert so sehr, dass seine anfängliche Ablehnung sich ins Gegenteil verkehrt: Er fühlt sich zu ihr hingezogen, muss ihr auf Schritt und Tritt folgen. Miss Peach ihrerseits schätzt Roberts pfiffige Intelligenz und ist begeistert von seinen Geschichten, die er oft während der Schulstunden schreibt. Sie nimmt sich immer Zeit für ihren bevorzugten Schüler, gibt ihm seine Geschichten korrigiert zurück und will sie sogar einem Englisch-Professor zur Ansicht weiterleiten. Robert ist sich seiner Gefühle für Miss Peach sicher, er liebt sie, und so wie sie ihn an sich bindet – interpretiert er -, muss auch sie ihn lieben. Er soll sie sogar beschützen vor diesem alten englischen Professor, den sie nach Penola eingeladen hat, um bei einem Kulturabend seine lyrischen Gedichte vorzutragen ...

Der Leser glaubt sich bis hierher in einen Highschool-Roman eingebunden, in dem besonders der pubertierende Robert im Mittelpunkt steht. In fast regelmäßigem Wechsel taucht er in seine Zukunftsgeschichten, die sehr reizvoll zu lesen sind und in Tausendjahresschritten Visionen einer immer wieder anders gearteten Welt beschreiben.

Dass Robert ein falscher Fuffziger, ein Egoist ist, stößt bei mir bitter auf. Die kleinen Diebereien kann man noch als dumme Jungenstreiche durchgehen lassen. Aber seine Lügen, sein Lavieren mit Wahrheiten, sein Schweigen, das seinen Freund fast in ein Erziehungsheim gebracht hätte, ist schon mehr als Feigheit. In seiner Neugierde war er nämlich in Miss Peachs Haus eingebrochen, gibt aber seine Tat nicht zu – im Gegensatz zu Freund Billie, der genau weiß, dass es der liebestolle Robert war, und die Schuld sofort auf sich nimmt.

Mit dem unerfreulichen Besuch des berühmten Dichters, der im Suff nicht zum angekündigten Abend erscheint, erhält der Roman "Ernster als Liebe" eine Eigendynamik, die zu einem unerwartet tragischen, unfassbaren Ende führt. Miss Peach scheint jenseits ihrer Sinne zu sein und begeht etwas Folgenschweres, Strafbares. Für sie gibt es nur noch einen Ausweg ...

Robert, der damals nicht wirklich verstand, was geschah, verlässt Penola, um im Internat und später an der Uni zu studieren. Er wird erst vierzig Jahre später – zum Tod der Eltern – zurückkehren. Er trifft alte Bekannte, plaudert mit Billy, den er damals ganz locker verstieß, und trifft seinen vertrauten, toleranten Kinderarzt, damals der Doktor für alle Fälle. Er hat etwas für Robert, das er ihm mit Tränen in den Augen überreicht. "Zur damaligen Zeit gab es keine größere Schande. Ich konnte das Theater nie verstehen," sagt er (S. 374).

Nach dieser schockierenden Aufklärung kann der Roman für Robert nur in einer Welt 600 Milliarden Jahre nach Christus enden. Es gibt nichts mehr außer den Elementen, alle vom Winde verweht.

Ein ungewöhnlicher Roman über das Erwachsenwerden. Die vielen amüsanten Textpassagen, der lockere Schreibstil bleiben einem im Nachhinein im Halse stecken, wenn man am Ende des Romans von der schweren Schuld liest, die Miss Peach, aber auch Robert auf sich geladen haben.


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