Rezension zu »Die Bäume« von Percival Everett

Die Bäume

von


In einem Südstaaten-Kaff nimmt eine mysteriöse Mordserie ihren Anfang, die schließlich die gesamten USA in Hysterie versetzt. Nehmen die unzähligen schwarzen Opfer weißer Lynchjustiz blutige Rache an ihren Mördern? Eine nie zuvor gesehene Mixtur aus Krimi, krassem Humor aller Schattierungen, unsäglichen Grausamkeiten und einem todernsten Thema.
Belletristik · Hanser · · 368 S. · ISBN 9783446276253
Sprache: de · Herkunft: us

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Die Opfer schlagen zurück

Rezension vom 18.06.2023 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Eines schönen Tages im Jahr 1955 betritt der vierzehn­jährige Schwarze Emmett Till den Lebens­mittel­laden von Roy und Carolyn Bryant in Money, Missis­sippi. Carolyn, eine ansehn­liche Mutter zweier Kinder, ist allein im Geschäft. Emmett sucht sich etwas Süßes aus, bezahlt und verlässt den Laden gut gelaunt mit einem »Bye, Babe« und einem bewun­dern­den Pfiff. Als Roy heimkehrt, tischt Carolyn – warum auch immer – ihrem Mann eine eigene Variante auf: Der Junge habe ihre Taille umfasst sowie unsitt­liche Worte geäußert.

Die Lügengeschichte hat ungeahnte Folgen. Roy und Carolyns Bruder John William Milam nehmen maßlose Rache. Später findet man ihr grausam miss­handel­tes Opfer mit Stachel­draht um den Hals gewunden, mit einem Ein­schuss­loch im Schädel und mit einem Gewicht beschwert im Talla­hatchie River.

Der Lynchmord erregt Aufsehen wie auch der an­schlie­ßende Prozess, an dessen Ende die (weiße) Jury die Ange­klagten frei­spricht. Nur wenige Monate später enthüllen die Täter einem Magazin, das sie dafür bezahlt, die Wahrheit, und auch Carolyn Bryant gibt in einem Interview zu, dass sie sich den ent­schei­den­den Teil ihrer Aussage schlicht­weg ausge­dacht hatte.

Diesen authentischen Fall nimmt Percival Everett, 1956 in Georgia geborener Afro­ameri­kaner, Professor für Englisch an der Univer­sity of Southern Cali­fornia und Schrift­steller, zum Aus­gangs­punkt eines Roman­plots, den er während der Präsi­dent­schaft von Donald Trump ansiedelt. Dessen eigen­tüm­liche, schlichte Pauschal­aus­sagen über Rassismus und sich selbst hatten ja ebenfalls für einiges Aufsehen gesorgt. Er sei, be­haup­tete er, »die am wenigsten rassis­tische Person auf der ganzen Welt«, wohin­gegen schwarze Staats­anwälte »Rassisten« seien, »sehr abartig« und »geistig krank«. Am Ende von Everetts Roman tritt Trump selber mit einer (fiktiven) Ansprache auf, die seinen Stil perfekt persi­fliert und seine dreist verquere Logik ad absurdum führt: »Niemals würde ich das N-Wort sagen. […] Ich kann das Wort noch nicht einmal mit den Lippen formen. Nigger. Nigger. Nigger. Hab ich nicht gesagt.«

Vielleicht liegt darin der Schlüssel zum Verständ­nis dieses skurrilen Romans. Ähnlich Trumps Methode spielt er einfach respekt­los mit allem, was man üblicher­weise für unum­stößlich nimmt, stellt Wahr­heiten auf den Kopf, verdreht Kausa­litäten in ihre Gegen­richtung, ver­tauscht Opfer und Täter, nimmt keine Rücksicht auf Emp­find­lich­keiten, kann infolge­dessen ohne Hemmungen Tragi­sches mit Lach­haftem kombi­nieren.

Die Handlung beginnt in einem Wohn­viertel etwas außer­halb von Money. Dort sind die wenigen Bewohner unter sich in einer homogenen weißen Blase von »hirnlosen, in der Zeit vor dem Bürger­krieg fest­kleben­den, inzucht­geschä­digten Hinter­wäldlern«, darunter noch immer die Familie Bryant, mit dem Etikett »Dorf­trottel« schmeichel­haft einge­ordnet. Aktuell besteht sie aus der Groß­mutter Carolyn (»Granny C«), ihrem Sohn Wheat (»immer zurzeit arbeits­los«) und seiner Frau Charlene (»Hot Mama Yeller« – ihr Künstler­name referiert auf ihre Lieb­lings­farbe, die auch ihr Outfit prägt: »ein gelbes Trägertop von der gleichen Farbe wie ihr gefärbtes und tou­piertes Haar«).

Zum weiteren Kreis der illustren Familie zählen die Nach­fahren von J.W. Milram, der etwa zehn Jahre zuvor gestorben war, kurz nach Carolyns Mann Roy, seinem Mitbe­teilig­ten am Lynch­mord 1955. J.W. wurde »Junior« genannt, folglich heißt sein Sohn »Junior Junior« (»kein Geld und nicht die Bohne von Verstand«). Seine vier Kinder toben gern auf Wheats Grund­stück mit ver­lotter­tem Pool herum. Die Dialoge bei solchen »Fami­lien­treffen« sind so schreck­lich banal wie ordinär, dass sie schon wieder lustig sind, zumal sich sogar die vor­geblich taube Granny Über­schrei­tun­gen der laxen Grenzen der Wortwahl verbittet. Irgend­wann geht sie in sich und denkt reuevoll nach über »die Lüge …, die ich vor so vielen Jahren über diesen Nigger­jungen erzählt hab.« »Schnee von gestern«, wimmelt Charlene die altbe­kannte Litanei ab, die niemand mehr hören mag.

Von wegen. Gleich im nächsten Kapitel überholt der ver­drängte Horror die Gegen­wart der Familie in poten­ziertem Ausmaß. Man findet zwei unvor­stell­bar grausam zugerich­tete Leichen. Die eine hält der lokale Ordnungs­hüter Delroy Digby für die Überreste von Junior Junior, die andere gehört einem unbe­kannten schmäch­tigen Schwarzen. Digby – »Beim Militär hatte er nie etwas anderes getan, als Klo­papier­rollen zu zählen.« – erkennt messer­scharf, dass er der Situation nicht gewach­sen ist, und fordert Verstär­kung an. Aber auch Sheriff Red Jetty und seine Mitar­beiter (»Clowns«) können kein Licht ins Dunkel bringen, während weitere Morde nach gleichem Muster geschehen. Bei jedem unsäglich malträ­tierten weißen Körper liegt die hagere Leiche des myste­riösen Schwarzen, die, kaum von den Cops abtrans­portiert, ver­schwin­det, um beim nächsten Mord, gleichsam wieder­aufer­standen, neben dem neuen weißen Opfer zu posieren.

Nun entsendet man aus der County-Verwal­tung in Hatties­burg zwei Special Detec­tives »zum Arsch der Welt«. Ed Morgan und Jim Davis sind Schwarze, und ihre Abneigung gegen die »Arsch­geigen dahinten mit den Trump-Mützen« trifft auf identi­sche Anti­pathie der indigenen Weißen gegen die »Klug­scheißer« von »Groß­stadt­bullen«, die »uns für Bauern­trampel« halten und »schlei­miger als Rotz auf einer Türklinke« sind.

Mit der Hinrichtung von Wheat Bryant schlägt die Angst um in Hysterie und Aber­glauben – hier muss doch der Teufel seine Hand im Spiel haben. Und ist es nicht an der Zeit, die »gott­gege­benen Rechte der weißen Rasse gegen alle Fremd­artigen zu beschüt­zen, seien sie schwarz, gelb, rot oder jüdisch«? Dazu muss der alte Schwur erneuert werden, »die Befehle meines Oberen, des Groß­drachens des Majes­täti­schen Ordens der Ritter vom Ku-Klux-Klan, buch­staben­getreu zu befolgen«.

Doch nichts und niemand kann die Welle weiterer Morde an bekannt rassis­tischen Weißen aufhalten, die über das Land rollt, noch die Täter identi­fizieren. Die Detec­tives aus Missis­sippi und vom FBI ziehen von einem Tatort zum anderen, landen in einer grotesken Leichen­ver­wertungs­anstalt (»Sie killen, wir kühlen. Kann ich Ihnen helfen?«), doch in ihren Erkennt­nissen kommen sie nicht weiter. Mit den Ver­brechen und den Ermittler­teams reist auch der Horror durchs Land, bis ins Weiße Haus, wo Donald Trump eine Breaking-News-Ansprache hält, in der er mehr über sich selbst redet und preisgibt, als er wohl beab­sichtigt.

Percival Everetts Roman »Trees« – der Titel spielt auf die Bäume an, an denen Lynch­opfer aufge­hängt zu werden pflegten – entfaltet seine einzig­artige Wirkung auf mehreren Ebenen, und die Über­setzung von Niko­laus Stingl kann sie insgesamt brillant über­tragen. Zunächst ist er rein sprach­lich urko­misch. Da wird geka­lauert – schlicht oder mit Hinter­sinn (Der Diner in Money heißt »Dinah« nicht etwa wie seine Besit­zerin, sondern weil sie schwach in Recht­schrei­bung ist.). Einzelne Szenen sprühen von Ironie, Satire und Zynismus, sind prallvoll mit gelenkten Miss­ver­ständ­nissen, sprach­lichen Fallen­stellun­gen, tumben oder cleveren Repliken, dass sie wie das Drehbuch eines Slap­sticks oder einer bissig-bös­artigen Bühnen­show abrollen. Dies alles im bereits ange­sproche­nen Umfeld der be­fremd­lichen Leichtig­keit, mit der splatter­mäßig ausge­breitete Leichen­zustände und unbe­schwert lach­hafte Passa­gen neben­einander­gefügt werden.

Ein weiteres Spielfeld für Everetts literari­sche Meister­schaft sind die Charakter­zeich­nungen eines zweige­teilten Figuren­kabinetts. Jede Figur ist ein Indivi­duum – inner­halb der Klischees ihrer Gruppe: dick, dumm, dreist, moralisch verkom­men und kaum ihrer Mutter­sprache mächtig die Weißen, dagegen keine einzige negativ konno­tierte Figur unter den Schwarzen. Insbe­sondere die intelli­genten Ermittler lassen je nach Umständen jeden rassis­tischen Anwurf besonnen an sich ablaufen oder beherr­schen in der Gegen­rede über Argu­men­tieren hinaus jeden Ton der Sprach­klavia­tur von Witz, Spott, Ironie, Gehäs­sigkeit bis Zynismus. Der Autor lässt der pau­schalen Über­legen­heit der Schwarzen freien Lauf.

Indem er die seit Jahr­hunder­ten geläu­figen Vorur­teile gegen Dunkel­häutige einfach umdreht und gegen weiße Ameri­kaner richtet, schlägt Everett deren Rassismus mit ihren eigenen Waffen. Sein Spiel mit rassis­tischen Klischees ist ein litera­risches Mittel, ein Element seiner Satire wie das Konzept, die vielen doku­mentier­ten histo­rischen Lynch­morde mit verdop­pelter Bruta­lität rächen zu lassen.

Percival Everetts exzentrischer Roman, fertig­gestellt im Mai 2020, ist ein literari­scher Gedenk­stein, der unzäh­ligen Lynch­opfern ihre Namen zurück­gibt. Auf zehn Seiten in der Mitte des Buches sind sie aufge­listet. Das nach vielen Jahren der Diskus­sion im März 2022 von Joe Biden präsen­tierte Gesetz, das gewalt­tätige Hass­ver­brechen als eigen­ständi­gen Straf­tatbe­stand defi­niert, trägt die Bezeich­nung »Emmett Till Anti­lynching Act«.


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