Die Bäume
von Percival Everett
In einem Südstaaten-Kaff nimmt eine mysteriöse Mordserie ihren Anfang, die schließlich die gesamten USA in Hysterie versetzt. Nehmen die unzähligen schwarzen Opfer weißer Lynchjustiz blutige Rache an ihren Mördern? Eine nie zuvor gesehene Mixtur aus Krimi, krassem Humor aller Schattierungen, unsäglichen Grausamkeiten und einem todernsten Thema.
Die Opfer schlagen zurück
Eines schönen Tages im Jahr 1955 betritt der vierzehnjährige Schwarze Emmett Till den Lebensmittelladen von Roy und Carolyn Bryant in Money, Mississippi. Carolyn, eine ansehnliche Mutter zweier Kinder, ist allein im Geschäft. Emmett sucht sich etwas Süßes aus, bezahlt und verlässt den Laden gut gelaunt mit einem »Bye, Babe« und einem bewundernden Pfiff. Als Roy heimkehrt, tischt Carolyn – warum auch immer – ihrem Mann eine eigene Variante auf: Der Junge habe ihre Taille umfasst sowie unsittliche Worte geäußert.
Die Lügengeschichte hat ungeahnte Folgen. Roy und Carolyns Bruder John William Milam nehmen maßlose Rache. Später findet man ihr grausam misshandeltes Opfer mit Stacheldraht um den Hals gewunden, mit einem Einschussloch im Schädel und mit einem Gewicht beschwert im Tallahatchie River.
Der Lynchmord erregt Aufsehen wie auch der anschließende Prozess, an dessen Ende die (weiße) Jury die Angeklagten freispricht. Nur wenige Monate später enthüllen die Täter einem Magazin, das sie dafür bezahlt, die Wahrheit, und auch Carolyn Bryant gibt in einem Interview zu, dass sie sich den entscheidenden Teil ihrer Aussage schlichtweg ausgedacht hatte.
Diesen authentischen Fall nimmt Percival Everett, 1956 in Georgia geborener Afroamerikaner, Professor für Englisch an der University of Southern California und Schriftsteller, zum Ausgangspunkt eines Romanplots, den er während der Präsidentschaft von Donald Trump ansiedelt. Dessen eigentümliche, schlichte Pauschalaussagen über Rassismus und sich selbst hatten ja ebenfalls für einiges Aufsehen gesorgt. Er sei, behauptete er, »die am wenigsten rassistische Person auf der ganzen Welt«, wohingegen schwarze Staatsanwälte »Rassisten« seien, »sehr abartig« und »geistig krank«. Am Ende von Everetts Roman tritt Trump selber mit einer (fiktiven) Ansprache auf, die seinen Stil perfekt persifliert und seine dreist verquere Logik ad absurdum führt: »Niemals würde ich das N-Wort sagen. […] Ich kann das Wort noch nicht einmal mit den Lippen formen. Nigger. Nigger. Nigger. Hab ich nicht gesagt.«
Vielleicht liegt darin der Schlüssel zum Verständnis dieses skurrilen Romans. Ähnlich Trumps Methode spielt er einfach respektlos mit allem, was man üblicherweise für unumstößlich nimmt, stellt Wahrheiten auf den Kopf, verdreht Kausalitäten in ihre Gegenrichtung, vertauscht Opfer und Täter, nimmt keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten, kann infolgedessen ohne Hemmungen Tragisches mit Lachhaftem kombinieren.
Die Handlung beginnt in einem Wohnviertel etwas außerhalb von Money. Dort sind die wenigen Bewohner unter sich in einer homogenen weißen Blase von »hirnlosen, in der Zeit vor dem Bürgerkrieg festklebenden, inzuchtgeschädigten Hinterwäldlern«, darunter noch immer die Familie Bryant, mit dem Etikett »Dorftrottel« schmeichelhaft eingeordnet. Aktuell besteht sie aus der Großmutter Carolyn (»Granny C«), ihrem Sohn Wheat (»immer zurzeit arbeitslos«) und seiner Frau Charlene (»Hot Mama Yeller« – ihr Künstlername referiert auf ihre Lieblingsfarbe, die auch ihr Outfit prägt: »ein gelbes Trägertop von der gleichen Farbe wie ihr gefärbtes und toupiertes Haar«).
Zum weiteren Kreis der illustren Familie zählen die Nachfahren von J.W. Milram, der etwa zehn Jahre zuvor gestorben war, kurz nach Carolyns Mann Roy, seinem Mitbeteiligten am Lynchmord 1955. J.W. wurde »Junior« genannt, folglich heißt sein Sohn »Junior Junior« (»kein Geld und nicht die Bohne von Verstand«). Seine vier Kinder toben gern auf Wheats Grundstück mit verlottertem Pool herum. Die Dialoge bei solchen »Familientreffen« sind so schrecklich banal wie ordinär, dass sie schon wieder lustig sind, zumal sich sogar die vorgeblich taube Granny Überschreitungen der laxen Grenzen der Wortwahl verbittet. Irgendwann geht sie in sich und denkt reuevoll nach über »die Lüge …, die ich vor so vielen Jahren über diesen Niggerjungen erzählt hab.« »Schnee von gestern«, wimmelt Charlene die altbekannte Litanei ab, die niemand mehr hören mag.
Von wegen. Gleich im nächsten Kapitel überholt der verdrängte Horror die Gegenwart der Familie in potenziertem Ausmaß. Man findet zwei unvorstellbar grausam zugerichtete Leichen. Die eine hält der lokale Ordnungshüter Delroy Digby für die Überreste von Junior Junior, die andere gehört einem unbekannten schmächtigen Schwarzen. Digby – »Beim Militär hatte er nie etwas anderes getan, als Klopapierrollen zu zählen.« – erkennt messerscharf, dass er der Situation nicht gewachsen ist, und fordert Verstärkung an. Aber auch Sheriff Red Jetty und seine Mitarbeiter (»Clowns«) können kein Licht ins Dunkel bringen, während weitere Morde nach gleichem Muster geschehen. Bei jedem unsäglich malträtierten weißen Körper liegt die hagere Leiche des mysteriösen Schwarzen, die, kaum von den Cops abtransportiert, verschwindet, um beim nächsten Mord, gleichsam wiederauferstanden, neben dem neuen weißen Opfer zu posieren.
Nun entsendet man aus der County-Verwaltung in Hattiesburg zwei Special Detectives »zum Arsch der Welt«. Ed Morgan und Jim Davis sind Schwarze, und ihre Abneigung gegen die »Arschgeigen dahinten mit den Trump-Mützen« trifft auf identische Antipathie der indigenen Weißen gegen die »Klugscheißer« von »Großstadtbullen«, die »uns für Bauerntrampel« halten und »schleimiger als Rotz auf einer Türklinke« sind.
Mit der Hinrichtung von Wheat Bryant schlägt die Angst um in Hysterie und Aberglauben – hier muss doch der Teufel seine Hand im Spiel haben. Und ist es nicht an der Zeit, die »gottgegebenen Rechte der weißen Rasse gegen alle Fremdartigen zu beschützen, seien sie schwarz, gelb, rot oder jüdisch«? Dazu muss der alte Schwur erneuert werden, »die Befehle meines Oberen, des Großdrachens des Majestätischen Ordens der Ritter vom Ku-Klux-Klan, buchstabengetreu zu befolgen«.
Doch nichts und niemand kann die Welle weiterer Morde an bekannt rassistischen Weißen aufhalten, die über das Land rollt, noch die Täter identifizieren. Die Detectives aus Mississippi und vom FBI ziehen von einem Tatort zum anderen, landen in einer grotesken Leichenverwertungsanstalt (»Sie killen, wir kühlen. Kann ich Ihnen helfen?«), doch in ihren Erkenntnissen kommen sie nicht weiter. Mit den Verbrechen und den Ermittlerteams reist auch der Horror durchs Land, bis ins Weiße Haus, wo Donald Trump eine Breaking-News-Ansprache hält, in der er mehr über sich selbst redet und preisgibt, als er wohl beabsichtigt.
Percival Everetts Roman »Trees« – der Titel spielt auf die Bäume an, an denen Lynchopfer aufgehängt zu werden pflegten – entfaltet seine einzigartige Wirkung auf mehreren Ebenen, und die Übersetzung von Nikolaus Stingl kann sie insgesamt brillant übertragen. Zunächst ist er rein sprachlich urkomisch. Da wird gekalauert – schlicht oder mit Hintersinn (Der Diner in Money heißt »Dinah« nicht etwa wie seine Besitzerin, sondern weil sie schwach in Rechtschreibung ist.). Einzelne Szenen sprühen von Ironie, Satire und Zynismus, sind prallvoll mit gelenkten Missverständnissen, sprachlichen Fallenstellungen, tumben oder cleveren Repliken, dass sie wie das Drehbuch eines Slapsticks oder einer bissig-bösartigen Bühnenshow abrollen. Dies alles im bereits angesprochenen Umfeld der befremdlichen Leichtigkeit, mit der splattermäßig ausgebreitete Leichenzustände und unbeschwert lachhafte Passagen nebeneinandergefügt werden.
Ein weiteres Spielfeld für Everetts literarische Meisterschaft sind die Charakterzeichnungen eines zweigeteilten Figurenkabinetts. Jede Figur ist ein Individuum – innerhalb der Klischees ihrer Gruppe: dick, dumm, dreist, moralisch verkommen und kaum ihrer Muttersprache mächtig die Weißen, dagegen keine einzige negativ konnotierte Figur unter den Schwarzen. Insbesondere die intelligenten Ermittler lassen je nach Umständen jeden rassistischen Anwurf besonnen an sich ablaufen oder beherrschen in der Gegenrede über Argumentieren hinaus jeden Ton der Sprachklaviatur von Witz, Spott, Ironie, Gehässigkeit bis Zynismus. Der Autor lässt der pauschalen Überlegenheit der Schwarzen freien Lauf.
Indem er die seit Jahrhunderten geläufigen Vorurteile gegen Dunkelhäutige einfach umdreht und gegen weiße Amerikaner richtet, schlägt Everett deren Rassismus mit ihren eigenen Waffen. Sein Spiel mit rassistischen Klischees ist ein literarisches Mittel, ein Element seiner Satire wie das Konzept, die vielen dokumentierten historischen Lynchmorde mit verdoppelter Brutalität rächen zu lassen.
Percival Everetts exzentrischer Roman, fertiggestellt im Mai 2020, ist ein literarischer Gedenkstein, der unzähligen Lynchopfern ihre Namen zurückgibt. Auf zehn Seiten in der Mitte des Buches sind sie aufgelistet. Das nach vielen Jahren der Diskussion im März 2022 von Joe Biden präsentierte Gesetz, das gewalttätige Hassverbrechen als eigenständigen Straftatbestand definiert, trägt die Bezeichnung »Emmett Till Antilynching Act«.