Rezension zu »Sein Garten Eden« von Paul Harding

Sein Garten Eden

von


Ein farbiger ehemaliger Sklave zieht mit seiner weißen Frau auf eine kleine Insel. Über hundert Jahre lang leben und vermehren sich dort ihre Nachfahren und wenige Zugezogene. Ihr Dasein ist entbehrungsreich, ihre Gemeinschaft solidarisch, ihre körperliche Verfassung beeinträchtigt – eine Gefahr für die Zivilisation, sagen Wissenschaft und Behörden.
Belletristik · Luchterhand · · 320 S. · ISBN 9783630873787
Sprache: de · Herkunft: us

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Eden, Hölle und Genetik

Rezension vom 27.09.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Man darf sich Benjamin Honey im Jahr 1793 als glücklichen Menschen vorstellen. Seine ersten fünfzehn Lebens­jahre musste er als Sklave verbrin­gen, dann erlangte er seine Freiheit und wohl auch seine Würde als »Ameri­kaner, Bantu, Igbo«. Näheres über seine Wege ist nicht über­liefert, und ganz sicher wären die Zeugnisse über ihn wider­sprüch­lich. Jeden­falls lebte er als freier Mann im Staate Maine, heiratete ein Mädchen aus Irland und zog mit ihr auf das unbe­wohnte Insel­chen Malaga Island direkt vor der Küste. Nur eine Brücke trennte sie dort vom Festland, wo sie zwar nominell Bürger wie alle anderen waren, aber als schwarz-weißes Paar gewiss nicht von allen so behandelt worden waren. In Jute-Säckchen hat Benjamin Samen unter­schied­licher Apfel­sorten mitge­bracht und legt nun in seiner neuen Heimat mit einigem Erfolg »seinen Garten Eden« an.

Dieser Benjamin Honey ist der Stammvater der Personen­gruppe, von deren Schicksal der 1967 in Massa­chu­setts geborene Schrift­steller und Musiker Paul Harding in seinem Roman »The Other Eden« erzählt. Harding tut das auf ganz eigene, so rea­litäts­nahe wie bezau­bernde, so Anteil nehmende wie Distanz wahrende, so poetische wie nüch­terne Weise, dass das Buch 2023 für den Booker Prize und den National Book Award nominiert wurde.

Zum Protagonisten wird Benjamin Honey allerdings nur zu Beginn des Buches. In seiner lite­rari­schen Version der ganzen Ge­schich­te be­schränkt sich der Autor auf den ersten drei Seiten darauf, die wenigen einiger­maßen ver­bürg­ten Infor­matio­nen über Benjamins Leben zu­sammen­zu­fassen. Die Jahr­zehnte des mühsamen Aufbaus einer Lebens­grund­lage für seine Familie über­springt der Autor und beginnt seine eigent­liche Erzählung erst mehr als ein Jahr­hundert später, im Jahr 1911.

In der Zwischenzeit sind nur wenige andere Menschen aus allen Wind­rich­tun­gen auf die Insel geflohen oder ver­schla­gen worden und bilden mit den Nach­fahren der Honeys eine zwanglose, anspruchs- und regellose Gemein­schaft. Über Genera­tionen haben sich alle wahllos mitein­ander vermehrt. Die Folgen sieht Matthew Diamond, ein weißer Missionar und pensio­nierter Lehrer, als er 1911 die Insel betritt. Da findet er »Destil­late aus anglo­ameri­kani­schen Vätern und schotti­schen Groß­vätern, irischen Müttern und kongole­sischen Groß­müttern, kap­verdi­schen Onkeln und Penobscot-Tanten« vor sich. Ihr Aussehen mag an den einen oder anderen Vorfahren erinnern oder auch von Erb­schäden zeugen, aber darüber macht sich hier keiner Gedanken. Jeder hilft jedem beim Hausbau, beim Nähen und Flicken der einfachen Kleidung, bei der Feld­arbeit, und manche ent­wickeln dabei großes Geschick. Was die Erde abwirft, reicht so gerade zum Überleben. Apple Island (so ist die Insel im Roman benannt) ist in gewisser Hinsicht ein be­schei­denes, bitter­armes Paradies, wo jedes Indivi­duum genau so in den Tag hinein lebt, wie es beliebt. Mit der Zivili­sation jenseits der Brücke auf dem Festland hat man bis auf seltene Ge­legen­heits­arbeiten wenig zu tun. Was man dort von ihnen hält, ahnt niemand.

Matthew Diamond kommt voller guter Vorsätze auf die Insel. Die Bewohner für das Christen­tum zu missio­nieren ist nicht sein Haupt­anliegen, sondern Erziehung und Bildung. Wissen­schaft­lich ist er dazu ganz auf der Höhe seiner Zeit. Seit Ende des 19. Jahr­hun­derts war die neue Lehre von der Erb­gesund­heit (Eugenik) aufge­kommen und hatte vor allem in Europa, den USA und Japan über alle politi­schen Lager hinweg viele Anhänger gewonnen. Man stützte die Theorie durch medizi­nische Studien und leitete konkrete Maßnahmen ab, wie das Erbgut der Be­völke­rung bewahrt und ver­bessert werden könne. Durch die Ver­brechen der Natio­nal­sozia­listen und japani­scher Streit­kräfte geriet der einst als fort­schritt­lich ange­sehene Ansatz nach dem 2. Weltkrieg in Verruf und wird heute meist als rassis­tisch geächtet.

Unter dem noch ungetrübten wissen­schaft­lichen Blick­winkel der Eugenik ist Matthew Diamond besorgt über die vorge­funde­nen Zustände. Schwarz und Weiß unter einem Dach, das Fehlen jeglichen Bewusst­seins für Hygiene, körper­liche Anoma­litäten, verwil­derte oder in ihrer Ent­wick­lung zurück­ge­blie­bene Kinder – welche Krank­heiten und andere Übel mögen diese Menschen wohl ver­breiten können? Schmutz, Häss­lich­keit und Unord­nung widern ihn an.

Andererseits erkennt er auch erstaun­liche Fähig­keiten und Talente, die er als förde­rungs­würdig erachtet. Mit Hilfe der Erwach­senen errichtet er eine Schule. Dort erteilt er Unter­richt in Lesen und Schreiben. Viele Kinder bleiben bald wieder weg, andere kann er auch für Kunst, Musik und Latein begeis­tern. Vor allem der junge Ethan beein­druckt Matthew durch sein Zeichen­talent derart, dass er dafür plädiert, er solle es auf dem Festland weiter­ent­wickeln. Tatsäch­lich, wenn auch schweren Herzens, lassen die Eltern ihren begabten Sohn in die Fremde ziehen, damit er dort sein Glück finden möge. Wie es ihm ergeht, lesen wir im II. Kapitel. Zusammen mit Passagen aus Text­doku­menten der Zeit begleiten die Erzäh­lung wunder­bare Be­schrei­bun­gen der Kreide­zeich­nungen, die Ethan Honey ange­fertigt hat, als er in der Fremde von Erinne­rungen und Heim­weh geplagt wurde.

Ein Jahr nach Matthews Ankunft schicken die staat­lichen Behörden eine Truppe von Wissen­schaft­lern, Ärzten, Reportern und Foto­grafen auf die Insel, um deren Bewohner metho­disch korrekt zu vermessen. Ein typischer Befund lautet dann »Mulatte, hoch­gradig geistes­schwach«. Matthew steht mit ambi­valen­ten Gefühlen am Rande, mischt sich aber nicht ein. Schließ­lich folgt der Gou­ver­neur den fun­dier­ten Erkennt­nissen der Wissen­schaft und lässt den Familien – größten­teils Analpha­beten – seinen Räu­mungs­be­schluss über­bringen. Auch ange­sichts der an­schließen­den grau­samen Vertrei­bung schweigt Matthew wieder.

Paul Harding ist ein heraus­ragender Erzähler. Dank der groß­artigen deutschen Über­setzung von Silvia Mora­wetz können auch wir uns begeis­tern, wie fein, zart­fühlend und prägnant er unter­schied­lichste Charak­tere, deren schlich­tes Dasein unter tristen Lebens­bedin­gungen als auch ihr kleines Glück zu be­schrei­ben vermag. Es entsteht das Bild einer über­schau­baren Gemein­schaft, die mit all ihrer Kraft zu­sammen­hält und dabei immer zuver­sicht­lich nach vorne sieht. Aber eine natur­nahe Idylle, wie manche zivili­sations­müde Zeitge­nossen sie sich erträumen, ist die abge­sonderte Insel­welt keines­wegs. Ein­dring­liche Episoden der Ab­hängig­keit von den Unbilden der Natur und von blutiger Grau­sam­keit, Miss­brauch, Ge­wissens­nöten, Mord und Selbst­mord lassen keine Illusio­nen auf­kommen.

In seinen Schilderungen lässt der Autor zwar eine gewisse Nähe zu seinen Figuren zu, auch Faszi­nation für einige Gestalten mit ab­sonder­lichem Aussehen oder Handeln, woraus Mitgefühl entsteht, aber nie legt Harding es darauf an, Mitleid zu erzeugen. Schnell zieht er sich wieder zurück auf seinen Beob­ach­tungs­posten. So spüren wir von Anfang an, dass dieser eigen­artigen Men­schen­gruppe in ihrer Fragi­lität wohl irgend­wann Unheil drohen wird, wenn sie ins Blickfeld der ›Außen­welt‹, ihrer Normen sowie mensch­licher und behörd­licher Intole­ranz gerät.

Mit dem Auftritt Matthew Diamonds und später der staat­lichen Abge­sandten sehen wir ein interes­santes Zu­sammen­spiel zwischen ›der‹ Wissen­schaft und den Theorien und Maß­nahmen, die sie und die Politik aus ›ge­sicher­ten‹ Er­kennt­nissen abge­leitet haben. Die gründ­liche In­augen­schein­nahme der Insel­be­wohner bestätigt schlüssig, was die Eugenik postu­liert hat: Aus der Ver­mischung des Erbgutes resul­tieren minder­wertige, degene­rierte Nach­fahren mit ver­stärk­ter Veran­lagung für Faulheit, psychi­sche Defekte, mora­lische Ver­derbt­heit und Ver­brechen. Um die ›genetisch intakte‹ Bevöl­kerung vor der Aus­breitung des Übels zu schützen, muss der Staat ent­schieden handeln. »Das Beste wäre, die Hütten mitsamt dem ganzen Unrat nieder­zubren­nen«, sagt Gou­ver­neur Frederick Plaisted einem Repor­ter.

Nach über einem Jahr­hundert drasti­scher Erfah­rungen mit men­schen­verach­ten­dem, Tod brin­gen­dem Rassis­mus ist es heute billig, sich über die damalige Denk- und Hand­lungs­weise zu echauf­fieren. Darauf fällt Paul Harding nicht herein. Im III. Kapitel bes­chreibt er die konse­quente Räumung der Insel scho­nungs­los, aber faktisch. Der behörd­liche Akt schafft unter den macht­losen Opfern eine »Art Hölle«. Sie »hocken alle zusammen wie Ratten in einem Nest. Verdreckt, zerlumpt, Tiere … Sehen einen bloß an, blöde und be­schränkt«.

Wie schön, dass die deutsche Über­setzung diffa­mie­rende Ausdrücke des Original­texts bei­behält anstatt sie durch be­schöni­gende Ab­milde­rungen zu ver­fälschen. Wie traurig, dass dafür heut­zutage eine »editori­sche Notiz« als Warnung oder voraus­eilende Ent­schuldi­gung erforder­lich erscheint.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2024 aufgenommen.


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