Die Stadt der Anderen
von Patrícia Melo
Patrícia Melo porträtiert Obdachlose und andere aus der Gesellschaft Gefallene, die sich mitten in São Paulo ohne Rechte und ohne Hoffnung durchs Leben schlagen. Vielen gelten sie als menschlicher Abfall, niemand nimmt sich ihrer an.
Rechtlos im Abseits der Gesellschaft
Die Praça da Matriz ist der Zentralplatz der pulsierenden brasilianischen Zwölfmillionenstadt São Paulo. Die Bürger der Stadt und die Verwaltung möchten, dass ihre Stadt und besonders ihr Schaufenster, die Praça, einen sauberen Eindruck machen. Doch die Obdachlosen, die sich über Tag und in der Nacht ausgerechnet hier aufhalten, stören diesen Wunsch erheblich. Schwerwiegende Konflikte sind unvermeidlich, zumal niemand von den Sorgen und Interessen der Menschen am Rande der Stadtgesellschaft wissen will. Sie haben die unterschiedlichsten Schicksale hinter sich, und viele von ihnen schaffen es nicht zu überleben, ohne ins kriminelle Milieu abzudriften.
Gelöst wird das Problem der ›Störenfriede‹ – jedenfalls an der Oberfläche –, indem man Aushilfskräfte, denen jeder Job recht ist, mit großen Räumfahrzeugen über den Platz rollen lässt. Wasserwerfer spülen alles weg, was nicht festgeschraubt oder einbetoniert ist, vor allem aber das erbärmliche Hab und Gut der Ärmsten, wie etwa den Müll, den sie sammeln, um ihn gegen ein paar Münzen zum Recyceln zu verkaufen. Doch die Vertreibung wirkt nur kurz: Sind die städtischen Spezialfahrzeuge verschwunden, kehrt der Abfall zusammen mit dem menschlichen ›Unrat‹ zurück.
Von diesen Menschen auf der Praça da Matriz erzählt Patrícia Melo in ihrem 2022 erschienenen und jetzt von Barbara Mesquita übersetzten Roman »Menos que um«. Souverän beherrscht die Autorin die Klaviatur der literarischen Töne vom (dominierenden) lockeren, unterhaltsamen Erzählen über reportagehaftes Beschreiben, brutalen Realismus bis zu Poesie, Ironie und beißende Satire. Ein auffällig häufig eingesetztes Stilmerkmal sind die Seiten füllenden Aufzählungen, zum Beispiel von Großstadtmüll, unter dem schnell mal ein Kind begraben und erstickt werden kann. Im Übrigen geht es im beschriebenen Unterschichtmilieu ruppig und vulgär zu, aber auch emotional und einfühlsam.
In kurzen Kapiteln lernen wir verschiedene Personen kennen, wodurch wenigstens einige der unzähligen Namenlosen Gesichter und Geschichten erhalten. Manche Handlungsstränge erstrecken sich über mehrere Kapitel. Obdachlos wird man hier schnell. Ohne Arbeit und ohne Lohn verliert man in der schnelllebigen Riesenstadt seine feste Bleibe, ehe man sich’s versieht. Dann reduziert sich die Existenz auf die einzigen Aufgaben, Hunger und Durst für kurze Zeit zu stillen und irgendwie zu überleben. Neben dem Müllsammeln gibt es noch die Optionen des Bettelns, der Prostitution, der Beschaffungskriminalität. Wie kann man sich Würde und Moral bewahren, wenn sanitäre Anlagen fehlen und die Notdurft erledigt werden muss, wo man sich gerade aufhält, und wenn Ladenbesitzer heißes Öl auf die Bürgersteige kippen, damit man sich nicht hier niederlässt? Alkohol und Drogen locken als einfacher Trost in all dem Elend und erweisen sich oft genug als besonders schmerzhafter Weg aus einem Leben ohne Hoffnung. Unter mancher von Ratten zerfressenen Isomatte oder Pappe kann man einen Toten entdecken.
Seno Chacoy, der erste im Reigen der Protagonisten, ist – wie die meisten Zuwanderer – gerade wegen der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Metropole gekommen. Tatsächlich bekommt er den oben beschriebenen Job bei der Stadtreinigung und soll einfach »dieses Gesindel« davonspülen. Es ist die Hochzeit der Corona-Pandemie, als Regierungen sich alles erlauben und ihren Bürgern alles versagen durften, und da wurden Mitmenschen im Handumdrehen zu Tod bringenden Feinden erklärt, denn wer »mit Hunden, Ratten und Kakerlaken zusammen schläft, überträgt [die Seuchen] genauso wie die Tiere. Schlimmer als die Chinesen«.
Obwohl Senos Chef ihm eingeschärft hatte, sich nicht von Menschenrechtsaktivisten erwischen zu lassen, bemerkt Seno nicht, dass er fotografiert wird. Er wird gefeuert, mit seinem Hüftschaden einen neuen Job zu finden ist ein Ding der Unmöglichkeit, und somit ist sein Schicksal besiegelt.
Als nächsten lernen wir Farol Baixo kennen, der aus gutem Grund den Beinamen »der Lügner« trägt. Er trifft seinen schwarzen Kumpel Chilves bei der Mauer, die sieben Villen mit Pools, gepflegter Gartenanlage und Hubschrauberlandeplatz von der Außenwelt abschottet. Doch »die Reichen flüchten gerade aus der Stadt … aus Angst«, so dass fünf der Villen leerstehen. Chilves, der einen Karren über die Straßen schiebt, um Pappe und Dosen zu sammeln, erträumt sich, mit Freundin Jessica eine davon zu besetzen und darin zu leben. Aber Jessica, die keine Papiere, wohl aber einen Putzjob hat, will mit einem Einbruch nichts zu tun haben, und Chilves hat selber Skrupel, den von Kameras überwachten elektrischen Zaun zu überwinden. Er weiß, dass Schwarze wie er als »Wegwerfware« gelten und von Polizisten und Miliz am schlimmsten traktiert, geprügelt und getreten werden.
Hervorzuheben ist an diesem sozialkritischen Gesellschaftsroman, dass die Autorin sich keineswegs auf eine einzige Sichtweise reduziert, sondern das Problem differenziert und aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert. Was sie hier teils unterhaltsam, teils ergreifend, teils schockierend, aber ohne Pathos anprangert, beruht nach eigener Aussage auf Recherchen in São Paulo und Interviews mit Angehörigen der vorgestellten Gruppen.
So muss Douglas, der wahrhaft mitfühlende Held des dritten Kapitels, in einer Zwischenebene agieren. Als Totengräber auf dem alten Friedhof ist er für die Pflege und Instandhaltung der verwahrlosten Grünanlagen und Grabstätten zuständig. Dazu gehört, dass er immer wieder Betrunkene, Graffiti-Sprayer und Junkies davonjagen und ihre Hinterlassenschaften beseitigen muss. Selbstverständlich ist es untersagt, auf dem Friedhof zu nächtigen, und deshalb ist es eines Tages seine Pflicht, eine schmächtige schwarze Frau mit zwei Hunden zu verscheuchen, die sich auf einer Grabplatte einen Esstisch gedeckt hat. Es bricht ihm schier das Herz, als er die verwirrt erscheinende Alte von dannen ziehen sieht, mit einer Tasche auf dem Kopf, einer weiteren auf dem Rücken und einem Strandstuhl über der Schulter hängend. Doch sie kehrt immer wieder zurück. Es ist das Grab ihres Sohnes, der drei Jahre zuvor als Fünfzehnjähriger geradezu grundlos von einem Polizisten erschossen wurde. Indem Douglas der Sache nachgeht, wird er in eine kleine Thriller-Handlung involviert.
Kollektiven Widerstand leisten siebenundzwanzig obdachlose Familien, denen eine Räumungsklage droht, nachdem sie ein seit Jahren leerstehendes bankrottes Kaufhaus besetzt hielten. Solche Solidarität findet man durchaus unter manchen Verzweifelten, die versuchen, ihr letztes bisschen Menschlichkeit nicht auch noch zu verlieren. Andere schaffen es dagegen nur noch, an ihr eigenes Fortkommen zu denken. Sie beklauen ihre Nächsten, hintergehen und verraten sie, töten sogar auf bestialische Weise.
Eine weitere Person, die nicht so recht in das Kaleidoskop der vom Schicksal gebeutelten, von der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen zu passen scheint, ist der Schriftsteller Iraquitan. Auch er gerät unvermittelt in eine Notlage, als die Polizei all seine persönlichen Dokumente und seinen Rucksack mit Kleidung, Medikamenten und Decke konfisziert. Jetzt wartet er in der endlosen »Schlange der Armen & Abgehängten«, die sich an einem Tisch am Rand der Praça juristische Hilfe erhoffen. Seit etlichen Jahren schon setzt sich hier eine Anwältin für die »Opfer« ein und hört sich die Probleme jedes Einzelnen an. Dem Schriftsteller kann sie jedoch nur den aussichtslosen Weg durch die Schikanen der Ämter eröffnen, und mehr kann sie eigentlich auch allen anderen Fragestellern nicht bieten. Längst ist ihr ursprünglicher Enthusiasmus bitterer Frustration gewichen. Sie hat nicht nur ihren »beschissenen Job satt«, sondern verflucht ihr Heimatland Brasilien, dieses »beschissene Land«, das »seine Bürger auf vielfältige Weise« tötet.
Der Schriftsteller aber ist ein aufmerksamer Zeitzeuge und Zuhörer, der alles, was er vernimmt und sieht, in seinem »Heft der Kategorisierten Worte« protokolliert. Damit dokumentiert er die Lage der »Gebrochenen Menschen«, von denen wir lesen. Diesen armseligen Schriftsteller von der klapperdürren Gestalt, der nach Zwiebeln und Schweiß riecht, entwickelt Patrícia Melo zu einer satirischen Figur, der unverhofft ein Glückslos zufällt. Als »Avantgarde-Autor« gehypt, lässt er allerlei mit sich machen, solange er am Ende seine Miete bezahlen kann.
Patrícia Melo verleiht eine Vielfalt von Stimmen an eine Bevölkerungsgruppe, von der die Öffentlichkeit üblicherweise nichts hört als die Klagen anderer über sie. Die Zahl der Menschen, die in diese Gruppe hineinfallen, wo es keinen Schutz und keine Gerechtigkeit gibt, wo der Einzelne jeglicher Willkür ausgesetzt ist, nimmt seit Jahren unübersehbar zu. Weder die wechselnden Regierungen noch die korrupten Behörden noch die gewalttätige Polizei noch die sozial besser gestellten Schichten der Gesellschaft nehmen sich des Problems an. Doch auch die Autorin, die heute in der Schweiz lebt, kann offenbar keine Lösungsansätze anbieten. Die Rolltreppe abwärts scheint keine Stopptaste zu haben.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2024 aufgenommen.