Rezension zu »Die Stadt der Anderen« von Patrícia Melo

Die Stadt der Anderen

von


Patrícia Melo porträtiert Obdachlose und andere aus der Gesellschaft Gefallene, die sich mitten in São Paulo ohne Rechte und ohne Hoffnung durchs Leben schlagen. Vielen gelten sie als menschlicher Abfall, niemand nimmt sich ihrer an.
Belletristik · Unionsverlag · · 400 S. · ISBN 9783293006027
Sprache: de · Herkunft: br

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Rechtlos im Abseits der Gesellschaft

Rezension vom 16.05.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die Praça da Matriz ist der Zentralplatz der pulsie­renden bra­siliani­schen Zwölf­milli­onen­stadt São Paulo. Die Bürger der Stadt und die Verwal­tung möchten, dass ihre Stadt und besonders ihr Schau­fenster, die Praça, einen sauberen Eindruck machen. Doch die Obdach­losen, die sich über Tag und in der Nacht ausge­rechnet hier aufhalten, stören diesen Wunsch erheblich. Schwer­wiegende Konflikte sind un­vermeid­lich, zumal niemand von den Sorgen und Inte­ressen der Menschen am Rande der Stadt­gesell­schaft wissen will. Sie haben die unter­schied­lichs­ten Schick­sale hinter sich, und viele von ihnen schaffen es nicht zu überleben, ohne ins krimi­nelle Milieu abzu­driften.

Gelöst wird das Problem der ›Stören­friede‹ – jeden­falls an der Ober­fläche –, indem man Aushilfs­kräfte, denen jeder Job recht ist, mit großen Räum­fahr­zeugen über den Platz rollen lässt. Wasser­werfer spülen alles weg, was nicht festge­schraubt oder ein­beto­niert ist, vor allem aber das erbärm­liche Hab und Gut der Ärmsten, wie etwa den Müll, den sie sammeln, um ihn gegen ein paar Münzen zum Recyceln zu verkaufen. Doch die Vertrei­bung wirkt nur kurz: Sind die städti­schen Spezial­fahr­zeuge ver­schwun­den, kehrt der Abfall zusammen mit dem mensch­lichen ›Unrat‹ zurück.

Von diesen Menschen auf der Praça da Matriz erzählt Patrícia Melo in ihrem 2022 er­schiene­nen und jetzt von Barbara Mesquita über­setzten Roman »Menos que um«. Souverän beherrscht die Autorin die Klaviatur der litera­rischen Töne vom (domi­nieren­den) locke­ren, unter­halt­samen Erzählen über reportage­haftes Beschrei­ben, brutalen Realis­mus bis zu Poesie, Ironie und bei­ßende Satire. Ein auf­fällig häufig einge­setztes Stil­merk­mal sind die Seiten füllenden Aufzäh­lungen, zum Beispiel von Groß­stadt­müll, unter dem schnell mal ein Kind begraben und erstickt werden kann. Im Übrigen geht es im beschrie­benen Unter­schicht­milieu ruppig und vulgär zu, aber auch emotional und einfühl­sam.

In kurzen Kapiteln lernen wir verschie­dene Personen kennen, wodurch wenigs­tens einige der unzäh­ligen Namen­losen Gesichter und Ge­schich­ten erhalten. Manche Hand­lungs­stränge er­stre­cken sich über mehrere Kapitel. Obdachlos wird man hier schnell. Ohne Arbeit und ohne Lohn verliert man in der schnell­lebigen Riesen­stadt seine feste Bleibe, ehe man sich’s versieht. Dann reduziert sich die Existenz auf die einzigen Aufgaben, Hunger und Durst für kurze Zeit zu stillen und irgendwie zu überleben. Neben dem Müll­sam­meln gibt es noch die Optio­nen des Bettelns, der Pro­stitu­tion, der Be­schaf­fungs­krimi­nalität. Wie kann man sich Würde und Moral bewahren, wenn sanitäre Anlagen fehlen und die Notdurft erledigt werden muss, wo man sich gerade aufhält, und wenn Laden­besitzer heißes Öl auf die Bürger­steige kippen, damit man sich nicht hier nieder­lässt? Alkohol und Drogen locken als ein­facher Trost in all dem Elend und erwei­sen sich oft genug als beson­ders schmerz­hafter Weg aus einem Leben ohne Hoff­nung. Unter mancher von Ratten zerfres­senen Iso­matte oder Pappe kann man einen Toten ent­decken.

Seno Chacoy, der erste im Reigen der Protago­nisten, ist – wie die meisten Zuwan­derer – gerade wegen der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Metropole gekommen. Tat­säch­lich bekommt er den oben beschrie­benen Job bei der Stadt­reini­gung und soll einfach »dieses Gesindel« davonspülen. Es ist die Hoch­zeit der Corona-Pan­demie, als Regie­rungen sich alles erlauben und ihren Bürgern alles versagen durf­ten, und da wurden Mit­men­schen im Hand­um­drehen zu Tod brin­gen­den Feinden erklärt, denn wer »mit Hunden, Ratten und Kaker­laken zusam­men schläft, überträgt [die Seuchen] genauso wie die Tiere. Schlimmer als die Chinesen«.

Obwohl Senos Chef ihm einge­schärft hatte, sich nicht von Menschen­rechts­akti­visten erwischen zu lassen, bemerkt Seno nicht, dass er foto­grafiert wird. Er wird gefeuert, mit seinem Hüft­schaden einen neuen Job zu finden ist ein Ding der Un­mög­lich­keit, und somit ist sein Schicksal besiegelt.

Als nächsten lernen wir Farol Baixo kennen, der aus gutem Grund den Beinamen »der Lügner« trägt. Er trifft seinen schwarzen Kumpel Chilves bei der Mauer, die sieben Villen mit Pools, gepfleg­ter Garten­anlage und Hub­schrau­ber­lande­platz von der Außen­welt ab­schottet. Doch »die Reichen flüchten gerade aus der Stadt … aus Angst«, so dass fünf der Villen leer­stehen. Chilves, der einen Karren über die Straßen schiebt, um Pappe und Dosen zu sammeln, erträumt sich, mit Freundin Jessica eine davon zu besetzen und darin zu leben. Aber Jessica, die keine Papiere, wohl aber einen Putzjob hat, will mit einem Einbruch nichts zu tun haben, und Chilves hat selber Skrupel, den von Kameras über­wachten elektri­schen Zaun zu über­winden. Er weiß, dass Schwarze wie er als »Weg­werf­ware« gelten und von Poli­zisten und Miliz am schlimms­ten traktiert, geprügelt und getreten werden.

Hervorzuheben ist an diesem sozial­kritischen Gesell­schafts­roman, dass die Autorin sich keines­wegs auf eine einzige Sicht­weise reduziert, sondern das Problem differen­ziert und aus unter­schied­lichen Per­spek­tiven präsen­tiert. Was sie hier teils unter­halt­sam, teils ergrei­fend, teils schockie­rend, aber ohne Pathos anpran­gert, beruht nach eigener Aussage auf Recher­chen in São Paulo und Inter­views mit Ange­hörigen der vorge­stellten Gruppen.

So muss Douglas, der wahrhaft mit­füh­lende Held des dritten Kapitels, in einer Zwischen­ebene agieren. Als Toten­gräber auf dem alten Friedhof ist er für die Pflege und Instand­haltung der verwahr­losten Grün­anlagen und Grab­stätten zuständig. Dazu gehört, dass er immer wieder Betrun­kene, Graffiti-Sprayer und Junkies davon­jagen und ihre Hinter­lassen­schaften besei­tigen muss. Selbst­verständ­lich ist es untersagt, auf dem Friedhof zu nächtigen, und deshalb ist es eines Tages seine Pflicht, eine schmäch­tige schwarze Frau mit zwei Hunden zu ver­scheu­chen, die sich auf einer Grab­platte einen Esstisch gedeckt hat. Es bricht ihm schier das Herz, als er die verwirrt erschei­nende Alte von dannen ziehen sieht, mit einer Tasche auf dem Kopf, einer weiteren auf dem Rücken und einem Strand­stuhl über der Schulter hängend. Doch sie kehrt immer wieder zurück. Es ist das Grab ihres Sohnes, der drei Jahre zuvor als Fünf­zehn­jähriger geradezu grundlos von einem Poli­zisten erschos­sen wurde. Indem Douglas der Sache nachgeht, wird er in eine kleine Thriller-Handlung invol­viert.

Kollektiven Widerstand leisten sieben­und­zwanzig obdach­lose Familien, denen eine Räu­mungs­klage droht, nachdem sie ein seit Jahren leer­stehen­des bank­rottes Kaufhaus besetzt hielten. Solche Solida­rität findet man durchaus unter manchen Verzwei­felten, die versuchen, ihr letztes bisschen Mensch­lich­keit nicht auch noch zu verlieren. Andere schaffen es dagegen nur noch, an ihr eigenes Fort­kommen zu denken. Sie beklauen ihre Nächsten, hinter­gehen und verraten sie, töten sogar auf bestia­lische Weise.

Eine weitere Person, die nicht so recht in das Kaleido­skop der vom Schicksal gebeu­telten, von der Gesell­schaft ausge­stoße­nen Menschen zu passen scheint, ist der Schrift­steller Ira­quitan. Auch er gerät unver­mittelt in eine Notlage, als die Polizei all seine persön­lichen Dokumente und seinen Rucksack mit Kleidung, Medika­menten und Decke konfis­ziert. Jetzt wartet er in der endlosen »Schlange der Armen & Abgehängten«, die sich an einem Tisch am Rand der Praça juris­tische Hilfe erhoffen. Seit etlichen Jahren schon setzt sich hier eine Anwältin für die »Opfer« ein und hört sich die Probleme jedes Einzelnen an. Dem Schrift­steller kann sie jedoch nur den aus­sichts­losen Weg durch die Schikanen der Ämter eröffnen, und mehr kann sie eigent­lich auch allen anderen Frage­stellern nicht bieten. Längst ist ihr ur­sprüng­licher Enthu­sias­mus bitte­rer Frus­tration gewichen. Sie hat nicht nur ihren »beschis­senen Job satt«, sondern verflucht ihr Heimat­land Brasilien, dieses »beschis­sene Land«, das »seine Bürger auf viel­fältige Weise« tötet.

Der Schriftsteller aber ist ein aufmerk­samer Zeit­zeuge und Zuhörer, der alles, was er vernimmt und sieht, in seinem »Heft der Kate­gori­sier­ten Worte« proto­kolliert. Damit doku­mentiert er die Lage der »Ge­broche­nen Menschen«, von denen wir lesen. Diesen arm­seligen Schrift­steller von der klapper­dürren Gestalt, der nach Zwiebeln und Schweiß riecht, ent­wickelt Patrícia Melo zu einer satiri­schen Figur, der unver­hofft ein Glücks­los zufällt. Als »Avant­garde-Autor« gehypt, lässt er allerlei mit sich machen, solange er am Ende seine Miete bezahlen kann.

Patrícia Melo verleiht eine Vielfalt von Stimmen an eine Bevölke­rungs­gruppe, von der die Öffent­lich­keit üblicher­weise nichts hört als die Klagen anderer über sie. Die Zahl der Menschen, die in diese Gruppe hinein­fallen, wo es keinen Schutz und keine Ge­rechtig­keit gibt, wo der Einzelne jeglicher Willkür ausge­setzt ist, nimmt seit Jahren unüber­sehbar zu. Weder die wech­seln­den Regie­rungen noch die korrupten Behörden noch die gewalt­tätige Polizei noch die sozial besser gestell­ten Schichten der Gesell­schaft nehmen sich des Problems an. Doch auch die Autorin, die heute in der Schweiz lebt, kann offenbar keine Lösungs­ansätze anbieten. Die Roll­treppe abwärts scheint keine Stopp­taste zu haben.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Früh­jahr 2024 aufge­nommen.


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