Rezension zu »Milano Criminale« von Paolo Roversi

Milano Criminale

von


Kriminalroman · Ullstein · · Gebunden · 464 S. · ISBN 9783550088759
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Lombardei

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Räuber und Gendarm über zwei Jahrzehnte

Rezension vom 18.08.2013 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Sieben bewaffnete Männer raubten am 27. Februar 1958 in einem filmreifen Coup einen Geldtransporter aus und erbeuteten die gigantische Summe von 600 Millionen Lire. Der Überfall fand am helllichten Tage statt, und viele An­woh­ner der Via Osoppo wurden Augenzeugen. Antonio (knapp 14) und Roberto (10) waren darunter, und was sie da gerade beobachtet hatten, beeinflusste ihr zukünftiges Leben maßgeblich.

Für Antonio ist es »der Tag seiner Berufung«. Ab jetzt hat er nur noch ein Ziel vor Augen: Er will »Bulle« werden. Roberto dagegen mischt mit zwei jüngeren Kumpanen Giambellino auf, den ärmsten und gefähr­lichsten Stadtteil von Mailand. Sie beginnen mit kleinen Diebereien und Unfug (wie der Befreiung einiger Tiger aus den Käfigen eines Wanderzirkus), aber Robertos Ziel ist es, schnell und viel Geld zu machen, so wie seine wahren neuen Helden mit ihrem spektakulären Raub; er will genauso werden wie sie.

Mit dem spannenden Auftakt und der gegenläufigen Perspektive der beiden Nachbarsjungen beginnt Paolo Roversi seinen Kriminalroman »Milano Criminale« Paolo Roversi: »Milano Criminale« bei Amazon kaufen 
(öffnet neuen Browser-Tab) von 2011, den Esther Hansen übersetzt hat. Die Erwartungshaltung des Lesers wird von Anbeginn auf den Werdegang der Jungen ausgerichtet, auf eine Verbrecherjagd, auf ein cleveres Katz-und-Maus-Spiel des Bösen gegen den Guten, das in einem zünftigen Showdown kulminiert, und wenn Antonio am Ende Roberto verhaftet, hat das Gute gesiegt …

Aber der Autor hat eine andere Intention. Der umtriebige Paolo Roversi ist Journalist, Essayist, Drehbuch­autor und Historiker, und er möchte es nicht bei den individuellen Schicksalen belassen. Vielmehr bettet er sie ein in den soziopolitischen Kontext inklusive der Kriminalgeschichte der Fünfziger bis zum Ende der Siebziger Jahre. So lesen wir weniger einen packenden, aktionsreichen Krimi als eine Art Chronik, in deren Verlauf der Autor einen Verbrecher nach dem anderen samt zugehörigen Gangs auferstehen lässt. Zu diesem Produkt fleißiger Archiv-Recherchen fügt sich der rationale Stil, dessen sich der Erzähler befleißigt.

Angereichert wird das Zeitkolorit durch nationale und internationale Ereignisse, die weit über den Krimi-Plot hinaus weisen: 1958 wird in Italien die legalisierte Prostitution abgeschafft, die staatlich lizenzierten Bordelle werden geschlossen (»Gesetz Merlin«). Bei einem bis heute ungeklärten Flugzeugabsturz im Ok­tober 1962 stirbt Enrico Mattei, der Manager des staatlichen Ölkonzerns Eni. Auf ihrer Europatournee ge­ben die Beatles im Juni 1965 ein Konzert in Mailand. 1968 wird Martin Luther King erschossen. In den Siebziger Jahren erschüttert die studentische Protestbewegung Rom, Mailand, Turin und Bologna, die Ro­ten Bri­ga­den verbreiten Terror, die Konfrontationen mit den Sicherheitskräften eskalieren – all das und mehr findet Eingang in Roversis Handlungsgeschehen.

Zwischen all diesen nationalen und internationalen, politischen und sozialen Wegmarken begleitet der Autor seine beiden Protagonisten Antonio und Roberto. Der eine wird zum Schwerverbrecher, der andere klettert die Karriereleiter bei der Mailänder Polizei hoch. Während Robertos Freundin ihm bei manchen Überfällen den Rücken frei hält, ficht Antonios Ehefrau, als die Studentenunruhen toben, heiße Debatten mit ihrem Mann aus, der »auf der anderen Seite« steht und seine Aufgabe, die staatliche Ordnung auf­recht­zu­erhal­ten, ernst nimmt.

Anfangs bekommt Antonio auch von der armen Bevölkerung heftigen Gegenwind zu spüren. Angestachelt durch die Zeitungen, steht die auf Seiten der Gangster, die sich bei den reichen Banken bedienen; die Stimmung schlägt aber um, als ihre Methoden immer bedrohlicher und skrupelloser werden.

»Milano Criminale« ist eine breit angelegte, aufschlussreiche Lektüre. Doch obwohl das Buch unter der Genreflagge »noir metropolitano« segelt, fehlt ihm ausgerechnet in dieser Kategorie der rechte Rücken­wind. Das Zuviel an Episoden und Politik, das Zuwenig an Empathie des nüchternen Erzählstils geht zu Lasten eines geradlinigen, nervenaufreibenden Krimis mit nachhaltigen Eindrücken.


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