Würde und Werte
Pietro ist ein Stadtkind. Er wächst in den Siebzigerjahren in Mailand heran, wo sein Vater Giovanni als Chemiker in einer Fabrik arbeitet. Es ist die Zeit der heftigen Arbeitskämpfe in Norditalien. Obwohl der Vater die Anliegen der Arbeitnehmer teilt, schließt er sich den wilden Streiks nicht an. Das liegt nicht nur daran, dass er als Einzelgänger und Freidenker keine Gruppenzugehörigkeit empfindet. Vielmehr sind ihm der Großstadt-Moloch und die Aufgeregtheit der Arbeitswelt zuwider. In ihm rührt sich eine generelle Zivilisationsskepsis und die Sehnsucht nach einem anderen Leben.
Das findet er in der Bergwelt der Dolomiten, die seine Frau und er (beide im Veneto geboren und aufgewachsen) lieben gelernt und wo sie 1971 geheiratet hatten. Um der Mailänder »Hölle« wenigstens zeitweise zu entkommen, mieten Pietros Eltern ein Haus in dem abgelegenen Vierzehn-Seelen-Dorf Grana. Während der Vater an Werktagen in die Fabrik zurück muss, verbringen Mutter und Sohn ein Leben weitab von Lärm, Getriebe und Modernität der Industriestadt.
Die Antithese Stadt versus Natur ist einer der zentralen Aspekte in Paolo Cognettis beeindruckendem Roman. Aber die Wildnis wird hier in keiner Weise simplifiziert, idyllisiert oder romantisiert, sondern behält all ihre Wucht und Würde. Funktionalisiert wird sie als Katalysator für innere Vorgänge der Protagonisten.
Im ersten Teil (»Berge der Kindheit«) lässt Cognetti den Jungen erzählen, wie sich die schwierige Beziehung zu seinem Vater vollzieht. Für Pietro ist das keine geruhsame beiderseitige Annäherung, sondern zunächst eine schmerzliche Phase zunehmenden Unverständnisses und Befremdens dem Vater gegenüber. Der entwickelt während seiner Aufenthalte in Grana eine regelrechte Obsession für die Dreitausender des Monte-Rosa-Massivs, wo das Dorf in einer Talschlucht liegt. Der frühmorgendlich beginnende, gnadenlose Aufstieg ist die Fortführung eines Wettkampfes, den er zeitlebens gegen sich, »gegen irgendwen oder was« austrägt. Bei so einem »Wettlauf« ist keine Zeit für eine Pause, die Betrachtung der Landschaft oder ein Gespräch. Ist die höchste Höhe erreicht, geht es ernüchtert wieder ins Tal hinab. Im Laufe der Jahre arbeitet der Vater alle umliegenden Gipfel ab und registriert sie in einer Wanderkarte »wie ein General seine Eroberungen«. Aber mit seiner Begeisterung gelingt es ihm, seinen kleinen Sohn anzustecken. Er lehrt ihn das Bergsteigen, und das ist »vielleicht die einzig richtige Erziehung, die mir von meinem Vater jemals zuteil wurde«.
Später widersetzt sich Pietro dem dominanten Vater. Ihm nicht mehr in die Berge zu folgen bedeutet für den jungen Mann eine Art »Befreiungsakt«. Die Distanz zu dem »Dickkopf und Draufgänger« vergrößert sich mit der Zeit mental und räumlich. Erst Jahre nach dem Tod des Vaters, der seinem Sohn so viele Spuren hinterlassen und ein Grundstück in den Bergen vermacht hat, fürchtet Pietro, dass er in Folge seiner Abwesenheit vielleicht »Wichtiges verpasst«, seine Zeit mit Nebensächlichem vertrödelt habe.
Im Weiler Grana gibt es außer dem Ich-Erzähler ein einziges weiteres Kind, den ein Jahr älteren Bruno. Von dem wortkargen, schlichten Jungen, der nur die Grundschule besucht hat, lernt Pietro, sich auf die unwägbaren Eigenheiten der Jahreszeiten einzustellen und die Vielfältigkeit der Berge zwischen Verlockung, Schönheit, Gefahr und Gewalt zu würdigen. Diese Eindrücke prägen ihn nachhaltig, und das Leben in und mit der Natur wird zum Kern seines Wesens gehören.
Während Bruno all dies genug ist – er wird als Bergbauer sein Auskommen finden und die Berge nie verlassen –, weitet Pietro seine Kreise. Als junger Mann verlässt er dieses »Paradies«, macht eine Ausbildung zum Dokumentarfilmer, lebt in Turin, reist bis in den Himalaya. Aus Nepal stammt die Legende, auf die sich der Titel des Romans bezieht und aus der sich eine philosophische Frage ableitet: Der gigantische Gipfel Sumeru bildet den Mittelpunkt der Welt. Acht Berge umschließen ihn. Welcher dieser Orte bringt die wahre Erfüllung?
Die Kameradschaft der beiden Jungen reift über die Jahre zu einer ehrlichen, verantwortungsvollen Männerfreundschaft, die so intensiv und fest ist, dass Pietro später seinen langen Auslandsaufenthalt abbricht, um Brunos Hilferuf aus der Heimat zu folgen.
»Acht Berge« ist eine ruhige, beruhigende Lektüre, deren Werte, Reize und Wirkungen entdeckt und geschätzt werden wollen. So ist die Spannung zwischen Vater und Sohn unterschwellig immer vorhanden, ohne dass sie nach außen gekehrt werden müsste. Von der Mutter abgesehen, sind alle Figuren introvertiert, und ihre Befindlichkeiten werden stark beeinflusst von der Natur und den Grundstimmungen der Jahreszeiten vom Aufbruch im Frühjahr, Hochgefühlen im Sommer, Entspannung und Reifung im Herbst bis zur langen, dunklen Einsamkeit des Winters.
Die geradezu archaische Nähe zur Natur, die auch der Autor Paolo Cognetti zu lieben gelernt hat – 1978 in Mailand geboren und weit gereist, verbringt er inzwischen mindestens die Hälfte des Jahres in einer abgelegenen Berghütte – führt unweigerlich zu einer kritischen Sichtweise des modernen Menschen. Heftig und aggressiv äußert sich Vater Giovanni über Touristen, Skifahrer und Bergsteiger, die auf bequeme Art über die Natur herfallen. Die gewaltigen zerstörerischen Eingriffe, um den Massen die Bergwelt zu »erschließen«, rauben ihr ihre Würde und machen ihn (und den Autor) wütend. Der bescheidene Bergbauer Bruno ist Sinnbild eines verantwortlichen, respektvollen, nachhaltigen, nicht romantischen, sondern anstrengenden Umgangs mit der Landschaft. Lässt der Mensch in seinen Bemühungen der Nutzbarmachung nach, erobert sich die Natur ihren Raum schnell zurück. Versagt er ihr den Respekt, schlägt sie unerbittlich und brutal zurück.
Dieser Roman umfasst ein ganzes Leben und erzählt die Entwicklungsgeschichte einer aufrichtigen, unverbrüchlichen Freundschaft. Er ist ein Plädoyer für althergebrachte zwischenmenschliche Grundwerte und Verhaltensweisen – Zuverlässigkeit, Standhaftigkeit, Wertschätzung, Vertrauen bilden, sich treu bleiben, Maß halten, einfache Dinge achten. Am Ende geht es um die ewigen Fragen, wie und wo sich der Mensch selbst findet, was ihn glücklich macht.
Paolo Cognettis Buch »Le otto montagne« (von Christiane Burkhardt übersetzt) trifft etliche Bedürfnisse unserer Zeit – nach Entschleunigung, nach beruhigenden Gewissheiten, nach Bewahrung, nach menschlicher Wärme und nach Befreiung vom Sog der Digitalisierung, die das Individuum von sich und der Realität entfremdet. Es ist bezeichnend, dass dieser sehr persönliche Roman mit seinem sanften, klaren Stil 2017 mit dem bedeutenden Premio Strega ausgezeichnet wurde.