Gott hat sein Land verlassen
Der in Ägypten geborene amerikanische Journalist Omar El Akkad lässt uns in seinem Debütroman »American War« in eine düstere Zukunft schauen. Wenn sein Erzähler die Geschichte niederschreibt, in etwa hundert Jahren, wird es die Weltmacht USA nicht mehr geben. Die ursprüngliche Staatengemeinschaft hat sich dann über Umwelt- und andere Fragen derart zerstritten, dass 2074 der Zweite Amerikanische Bürgerkrieg entbrannte. Das Land zerfiel in drei Teile. Die südöstliche Region, wo »die Roten« herrschten, spaltete sich als »Freie Südstaaten« ab. Der südwestliche Streifen von Südtexas bis Kalifornien wurde zu einem Protektorat Mexikos (Nimm das, Donald!). Die »Vereinigten Staaten von Amerika«, das war nur noch der große Rest im Norden, regiert von »den Blauen«. Deren Forderung, auf die letzten Ressourcen fossiler Brennstoffe zu verzichten und stattdessen alternative Energiequellen auszubauen, empfanden »die Roten« als demütigende Gängelung. Mehr als zwei Jahrzehnte lang verwüsteten die gewaltsamen Auseinandersetzungen das Land. Noch am Tag der Wiedervereinigung (2095) setzte ein Südstaaten-Rebell in der nördlichen Hauptstadt Columbus, Ohio, einen Erreger aus, der für ein weiteres Jahrzehnt Tod und Verderben über das geschundene Land brachte.
Schon lange vor Kriegsausbruch hatte der Klimawandel seinen Tribut gefordert. Flache Küstengegenden, New Orleans und Florida zum Beispiel, wurden nach und nach vom ansteigenden Wasser der Weltmeere verschluckt. Übermäßige Hitze und Trockenheit machten ganze Regionen unbewohnbar. Wo schon die Natur die Menschen in Not stürzte, raubte ihnen der Bürgerkrieg die letzten Besitztümer. Die einstmals wohlhabenden USA verkamen zu einem verelendeten, entvölkerten Land.
Andere Staaten haben die Leerräume eingenommen, die der Niedergang Amerikas freigemacht hat. China ist die neue globale Führungsmacht. Im Nahen Osten hat die Fünfte Frühlingsrevolution die Despoten vertrieben. Nordafrikanische Länder haben sich zum »Bouazizi-Reich« zusammengeschlossen und gedeihen endlich in einigermaßen demokratischen Strukturen. All diese Länder genießen ihren Aufschwung, ihren Wohlstand und ihre neue Funktion als direkte Versorger der hilfsbedürftigen Amerikaner.
Zu Beginn des Krieges ist die Lage in den »Freien Südstaaten« besonders schlimm. Sie widersetzen sich vehement allen Vorgaben der Regierung des Nordens, schaffen es aber nicht, eine eigene Ordnung aufrechtzuerhalten. Rote Rebellen ziehen durchs Land, horten Waffen und bedrohen die einfachen Bürger, die doch nichts anderes wollen, als in ihrer Armut wenigstens unbehelligt zu leben. Wer kann und politisch bedrängt wird, versucht, sich nach Norden abzusetzen, wo man auf ein friedlicheres Leben hoffen kann und wo die Nahrungs- und Gesundheitsversorgung besser ist.
Vordergründig dient El Akkads dystopischer Entwurf nicht als politische Warnung an uns Heutige, sondern gibt lediglich das Setting für eine spannende familiäre Abenteuergeschichte. Deren Heldin ist Sara T. (»Sarat«), Töchterchen der Flüchtlingsfamilie Chestnut, die sich auf den Weg nach Norden macht und Schreckliches durchlebt.
Doch andererseits erinnert uns manches Detail unmissverständlich an gewisse Missstände der Gegenwart. In der Tat verfolgt der Autor eine allgemeinere Absicht. Entsetzt über die amerikanische Politik, die im Kampf gegen den Terrorismus mit selbstherrlichem Sendungsbewusstsein weite Landstriche ferner Länder verwüstet, deren politische Strukturen zerstört und zivile Opfer ungerührt in Kauf genommen hat, will er den Spieß umdrehen und seinen Landsleuten vor Augen führen, wie es wäre, wenn »God's own country« zum Schauplatz eines enthemmten, aus der Ferne gesteuerten Krieges würde.
Erzählt wird Sarats Geschichte von einem alten Mann, der sich im Prolog vorstellt. Er gehört zu der »Generation der Wunder«, zu den wenigen Menschen, die durch glückliche Umstände dem Wüten des Bürgerkriegs, den Terroranschlägen, der tödlichen Seuche entkam. Als Sechsjähriger wurde er aus seinem Elternhaus in Georgia entführt und nach Alaska verschleppt. Sein gesamtes Erwachsenenleben verbrachte er damit, die Chronik der furchtbaren Ereignisse, die einen blühenden Kontinent in Leid und Verderben gestürzt haben, zu studieren. Wie und warum er selber in diese Zusammenhänge verstrickt ist, versteht er erst viele Jahre später.
Dem Leser geht es nicht anders als dem Erzähler. Obwohl der Prolog die Geschehnisse der vielen Jahrzehnte vorausverweisend umreißt, erschließt sich seine volle Bedeutung erst am Ende der Lektüre.
Trotz der schlimmen Bedingungen ist die sechsjährige Sarat im Jahr 2075 ein glückliches Kind. Mit Zwillingsschwester Dana, dem älteren Bruder Simon und den Eltern haust sie in einem heruntergekommenen Wellblechcontainer im Mississippidelta. In einem Verschlag halten sie ein paar Hühner, mit einer aufgespannten Plane fangen sie Regenwasser auf. Winterstürme und Sommerhitze setzen ihnen zu, die Kämpfe haben ihre Lebensgrundlagen zerstört. Das Leben am Fluss ist für das aufgeweckte Kind ein Abenteuer, doch die Eltern möchten der Not und den drohenden Kriegsgefahren entkommen.
Als der Vater durch ein Selbstmordattentat roter Rebellen ums Leben kommt, ergreift die Mutter die letzte Chance, mit ihren drei Kindern dem Grauen zu entfliehen. Ein Bus bringt sie auf gefährlicher, streng kontrollierter Route in ein Flüchtlingslager am Tennessee River, der Grenze zu drei Staaten. Im durchreglementierten, kargen »Camp Patience« verbringt die kleine Familie mühselige Jahre.
Hier lernt Sarat einen wesentlich älteren Mann kennen, der sie einerseits geistig fördert, ihr andererseits Lügengeschichten über Gräuel der »Blauen« einflüstert und sie so zur lebenden Waffe der roten Rebellen formt. Seine Saat geht auf, als ein hinterhältiges Massaker der »Blauen« nahezu das gesamte Lager ausrottet: Das Mädchen wird zur Mörderin und mutiert nach Jahren in einem Straflager (das an Guantanamo erinnert) zum hässlichen, Tod bringenden Racheengel.
»American War« , von Gabriele Kempf-Allié und Manfred Allié ins Deutsche übersetzt, ist ein grausames Buch. Die Handlungsweise der Terroristin Sarat wird kaum ein Leser gut heißen. Aber ihr Leidensweg ist so schmerzvoll und entmenschlichend, dass man zumindest nachvollziehen kann, warum sie schließlich nur noch aus Hass und Racheverlangen besteht.
Umso berührender ist der letzte Teil des Romans, in dem ein Funken liebender Empathie bei Sarat aufblitzt. Nach Jahren der Einzelhaft und Folter wird sie in die Freiheit entlassen. Ein menschliches Wrack, das sich selbst verachtet, weil sie unter Druck viele Personen – auch ganz unbeteiligte – verraten hat. Sie möchte mit niemandem Kontakt haben.
Als Dreißigjährige kehrt Sarat zu ihrem Bruder zurück, der das Massaker im »Camp Patience« schwer verletzt überlebt hatte. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, der die seltsame kahlköpfige Tante auf Schritt und Tritt beobachtet. Sie haust in einer verbarrikadierten Scheune, schläft auf der nackten Erde, ihr Körper ist von Narben überzogen, und sie spricht mit keinem. Verstehen kann er Sarat nicht, aber er hat sie gern, wie auch sie den kleinen neugierigen Jungen zu schätzen lernt.
Omar El Akkads Zukunftsroman kehrt die politischen Verhältnisse unserer Welt um, ohne dass die Menschen dann besser geworden wären, und siedelt in seinem Schreckensszenario eine außerordentlich spannende Handlung um ein entsetzliches Einzelschicksal an. Trotz der ungeschönten Grausamkeit mancher Szenen ist »American War« gute Unterhaltungsliteratur, deren Verweise auf unsere Gegenwart nachdenklich machen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2017 aufgenommen.