Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens
von Oliver Bottini
Jörg Marthen, Sohn ehemaliger LPG-Bauern, zieht in Rumänien einen landwirtschaftlichen Großbetrieb auf und gerät in Konkurrenz zu internationalen Landaufkäufern. Als seine Tochter Lisa brutal ermordet wird, ermitteln zwei altgediente Kommissare mit Securitate-Vergangenheit in alle Richtungen, sogar bis zurück in die Heimat der Marthens.
Verlierer und Profiteure der Zeitläufte
Mecklenburg-Vorpommern und Westrumänien sind zwei Regionen Europas, die eher am Rand unseres Bewusstseins schlummern. Beide gelten als ländlich und rückständig. Unser Bild Rumäniens prägen Bilder von transsilvanischen Vampiren und verwahrlosten Kinderheimen am Ende der Ceaușescu-Diktatur.
Oliver Bottini erzählt eine komplexe Geschichte, die sich um diese beiden Schauplätze rankt. Es geht um die Aufklärung einer Serie aktueller Morde und von Verbrechen der Vergangenheit. Die polizeilichen Ermittlungen sind spannend, wenn auch wenig überraschungsgeladen, zumal schon bald enthüllt wird, wer der Mörder ist. Neben dem Krimiplot liegen dem Autor andere Themen ebenso am Herzen, die mit den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Öffnung zum Westen zusammenhängen.
»Abwicklung« nannte man nach dem Fall der Mauer die Auflösung der volkseigenen Betriebe (»VEB«) im Zuge der Reprivatisierung des Staatseigentums der DDR. Die Organisation lag in Händen einer neu geschaffenen Behörde, der Treuhandanstalt, die nach rein wirtschaftlichen Kriterien operieren sollte. Die Angebote potenter Konzerne für marode Staatsbetriebe konnte sie nicht abschlagen, obwohl viele Akteure nichts als raschen Gewinn im Sinn hatten. Den kleinen Leuten blieb oft nicht mehr als Arbeitslosigkeit, verödete Dörfer, der Umzug in den Westen. Dort trafen sie jedoch auf die Konkurrenz billiger Arbeitskräfte aus den früheren Ostblockstaaten, beispielsweise Rumänien.
Jörg Marthen, der Protagonist, steht wie sein Freund Maik Winter exemplarisch für die vielen, die von den gewaltigen Umbrüchen betroffen sind und sich redlich bemühen, ihr Schicksal aktiv zu gestalten.
Die Landwirtsfamilie Marthen hat zu DDR-Zeiten die Äcker einer LPG in Prenzlin, Mecklenburg-Vorpommern, bestellt. Als die LPGs nach der Wende aufgelöst werden, erhalten sie ein paar Hektar Land zurück – kaum ausreichend, um sich davon zu ernähren. Aber sein Eigentum einer der neuen Großgrund-GmbHs zu überlassen, geht Vater Hans Marthen gegen den Strich. An deren Spitze wussten sich die einstigen LPG-Bonzen (die »roten Junker«) zu etablieren, die jetzt ihre Reiche wieder aufkaufen und alles einebnen lassen, um profitable Monokultur zu betreiben. Gegen diese Macht haben Sturköpfe wie Hans Marthen keine Chance. Am Ende gibt er dem Druck nach und verkauft. Darüber kommt es zum Zerwürfnis mit seinem Sohn Jörg, der den Betrieb später übernehmen wollte und jetzt sein Glück anderswo zu suchen beschließt.
In der Kornkammer Rumänien liegen gigantische Äcker brach. Dort will Jörg Marthen den Neuanfang wagen und im Banat einen modernen landwirtschaftlichen Betrieb aufziehen. Doch längst sind auch dort Konkurrenten ganz anderen Kalibers unterwegs, um den verelendeten und unerfahrenen Kleinbauern für wenig Geld ihr Land abzuschwatzen. Systematisch akkumulieren kapitalstarke westeuropäische Firmen, selbst Amerikaner und Araber, riesige Ländereien für Mais-, Soja- und Getreide-Monokulturen.
Bei dieser modernen Form des Landraubs helfen immer noch intakte alte Funktionärsseilschaften. Korruption und gut organisierte Kriminalität funktionieren bestens, während das neue demokratische System wenig ausrichten kann. Bald sind fast vierzig Prozent der rumänischen Ackerfläche in ausländischer Hand, vier Millionen Kleinbauern bleibt dagegen so wenig, dass es kaum zum Überleben reicht. Das Land muss inzwischen selber teures Getreide im Ausland einkaufen.
Ein Einzelner wie Jörg Marthen hat bei dieser Gemengelage kaum eine Chance, so sehr er sich abrackern mag. Unter der Belastung zerbricht seine Ehe, und seine Tochter Lisa zieht es zurück nach Prenzlin. Doch ihre Heimat wird sie nie mehr sehen, denn sie wird ermordet. Wer mag diese Tat begangen haben? Lisas Freund, der sich mehr Nähe erhoffte? Ein gedungener Mörder im Auftrag eines der Konzerne, die Jörg brechen, ihn aus dem Felde schlagen, sein Land haben wollen?
Mit der Aufklärung des prekären Falles werden die Kriminalbeamten Ioan Cozma und Ciprian Rusu (»Cippo«) betraut. Die beiden befreundeten Mittfünfziger sehen schon dem Ruhestand entgegen, machen ihre Arbeit aber mit der Sorgfalt alter Schule. Allerdings hat ihre Dienstzeit bei der Securitate, Ceaușescus gefürchteter Geheimpolizei, viele sehr dunkle Flecken auf ihren Westen hinterlassen, so dass sie immer gewärtig sind, dass das Institut für die Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen bei ihnen anklopft.
Bottinis wendungsreicher, bis zum Ende fesselnder Roman ist vollgepackt mit aufrüttelnden zeitgeschichtlichen Themen, die der Autor gut recherchiert und handfest aufbereitet hat. Er schildert, wie sich die als Jahrhundertereignisse gepriesenen Entwicklungen – Mauerfall und Wiedervereinigung, die friedliche Erweiterung Europas nach Osten hin, die Globalisierung – aus der Sicht betroffener Normalbürger anfühlen. Ausführlich und detailreich gestaltet er repräsentative Einzelschicksale, wie es sie zu Tausenden gegeben hat. Gemeinsam ist ihnen, dass die politische Entwicklung in ihrem Leben mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht hat.
Über dem gesamten Plot lastet schwer das Dunkel der Ceaușescu-Vergangenheit. Hunderte anonyme Tote, in Erdlöchern verscharrt und erst jetzt geborgen, erinnern an die bis heute nicht aufgearbeiteten Hinrichtungen und Morde während der Diktatur. Eine Romanfigur gibt den in der öffentlichen Erinnerung bewahrten Bildern vernachlässigter Kinder in verkommenen Heimen Leben. Damit sein Volk kräftig wachse, hatte Ceaușescu 1966 per Dekret jegliche Verhütung und Abtreibung untersagt, solange eine Familie weniger als vier Kinder hatte. Daher kamen unzählige Babys zur Welt, die bei ihren bitterarmen Eltern unerwünscht waren. Viele waren behindert, weil ihre Mütter sie in ihrer Not selbst abzutreiben versucht hatten. Petre ist ein solcher »decrețel«, das fünfte Kind einer Familie. Wie viele andere landet er in Heimen, wo die Securitate die Gesunden auswählt und fördert, während die Missgebildeten in unsäglichen Anstalten oder unterirdischen Kellerlöchern weggesperrt werden.
Nicht nur die fundierte und breit angelegte inhaltliche Darstellungsleistung, sondern auch die literarische Qualität des Romans verdient Anerkennung. Immer wieder begegnen dem Leser ungewöhnliche Formulierungen und Satzbauten, die die Wirkung zentraler Episoden verstärken (»ein sekundenkurzer, grotesker Tanz, im Aufprall der Kugeln tänzelte er nach links, dann nach rechts, wieder nach links, der Zopf flog mit, die langen Arme schlackerten« – »Die Abende hatten Erlösung gebracht damals, in der Dunkelheit war das enge Land weit geworden« – »Wieder die Suche nach Marthen, der nicht ans Telefon ging«). Um nicht die Übersicht über die unzähligen Figuren zu verlieren, ist das sechsseitige Namensregister sehr hilfreich.
Oliver Bottinis uneingeschränkt zu empfehlender Roman lässt niemanden wegschauen, so deprimierend, schmerzvoll und düster sein Stoff ist.