Rezension zu »Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens« von Oliver Bottini

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens

von


Jörg Marthen, Sohn ehemaliger LPG-Bauern, zieht in Rumänien einen landwirtschaftlichen Großbetrieb auf und gerät in Konkurrenz zu internationalen Landaufkäufern. Als seine Tochter Lisa brutal ermordet wird, ermitteln zwei altgediente Kommissare mit Securitate-Vergangenheit in alle Richtungen, sogar bis zurück in die Heimat der Marthens.
Kriminalroman · Dumont · · 414 S. · ISBN 9783832197766
Sprache: de · Herkunft: de

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Verlierer und Profiteure der Zeitläufte

Rezension vom 10.01.2018 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mecklenburg-Vorpommern und Westrumänien sind zwei Regionen Europas, die eher am Rand unseres Bewusst­seins schlummern. Beide gelten als ländlich und rück­ständig. Unser Bild Rumäniens prägen Bilder von trans­silvani­schen Vampiren und verwahr­losten Kinder­heimen am Ende der Ceaușescu-Diktatur.

Oliver Bottini erzählt eine komplexe Geschichte, die sich um diese beiden Schau­plätze rankt. Es geht um die Aufklä­rung einer Serie aktueller Morde und von Verbrechen der Vergangen­heit. Die polizeil­ichen Ermitt­lungen sind spannend, wenn auch wenig über­raschungs­geladen, zumal schon bald enthüllt wird, wer der Mörder ist. Neben dem Krimiplot liegen dem Autor andere Themen ebenso am Herzen, die mit den politi­schen und wirtschaft­lichen Verände­rungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Öffnung zum Westen zusammenhängen.

»Abwicklung« nannte man nach dem Fall der Mauer die Auflösung der volks­eige­nen Betriebe (»VEB«) im Zuge der Repriva­tisie­rung des Staats­eigen­tums der DDR. Die Organi­sation lag in Händen einer neu geschaf­fenen Behörde, der Treu­hand­anstalt, die nach rein wirt­schaft­lichen Kriterien operieren sollte. Die Angebote potenter Konzerne für marode Staatsbe­triebe konnte sie nicht abschlagen, obwohl viele Akteure nichts als raschen Gewinn im Sinn hatten. Den kleinen Leuten blieb oft nicht mehr als Arbeits­losig­keit, verödete Dörfer, der Umzug in den Westen. Dort trafen sie jedoch auf die Konkur­renz billiger Arbeits­kräfte aus den früheren Ostblock­staaten, beispiels­weise Rumänien.

Jörg Marthen, der Protagonist, steht wie sein Freund Maik Winter exempla­risch für die vielen, die von den gewaltigen Umbrüchen betroffen sind und sich redlich bemühen, ihr Schicksal aktiv zu gestalten.

Die Landwirtsfamilie Marthen hat zu DDR-Zeiten die Äcker einer LPG in Prenzlin, Mecklen­burg-Vorpom­mern, bestellt. Als die LPGs nach der Wende aufge­löst werden, erhalten sie ein paar Hektar Land zurück – kaum ausrei­chend, um sich davon zu ernähren. Aber sein Eigentum einer der neuen Groß­grund-GmbHs zu über­lassen, geht Vater Hans Marthen gegen den Strich. An deren Spitze wussten sich die einsti­gen LPG-Bonzen (die »roten Junker«) zu etablie­ren, die jetzt ihre Reiche wieder aufkaufen und alles einebnen lassen, um profitable Mono­kultur zu betreiben. Gegen diese Macht haben Sturköpfe wie Hans Marthen keine Chance. Am Ende gibt er dem Druck nach und verkauft. Darüber kommt es zum Zerwürf­nis mit seinem Sohn Jörg, der den Betrieb später überneh­men wollte und jetzt sein Glück anderswo zu suchen beschließt.

In der Kornkammer Rumänien liegen gigantische Äcker brach. Dort will Jörg Marthen den Neuanfang wagen und im Banat einen moder­nen land­wirt­schaft­lichen Betrieb aufziehen. Doch längst sind auch dort Konkur­renten ganz anderen Kalibers unterwegs, um den verelende­ten und unerfah­renen Klein­bauern für wenig Geld ihr Land abzu­schwat­zen. Systema­tisch akkumu­lieren kapital­starke west­europä­ische Firmen, selbst Ameri­kaner und Araber, riesige Lände­reien für Mais-, Soja- und Getreide-Monokul­turen.

Bei dieser modernen Form des Landraubs helfen immer noch intakte alte Funk­tionärs­seil­schaf­ten. Korrup­tion und gut organi­sierte Krimina­lität funktio­nieren bestens, während das neue demo­krati­sche System wenig ausrich­ten kann. Bald sind fast vierzig Prozent der rumäni­schen Acker­fläche in ausländi­scher Hand, vier Millionen Kleinbauern bleibt dagegen so wenig, dass es kaum zum Über­leben reicht. Das Land muss inzwischen selber teures Getreide im Ausland einkau­fen.

Ein Einzelner wie Jörg Marthen hat bei dieser Ge­menge­lage kaum eine Chance, so sehr er sich abrackern mag. Unter der Belastung zerbricht seine Ehe, und seine Tochter Lisa zieht es zurück nach Prenzlin. Doch ihre Heimat wird sie nie mehr sehen, denn sie wird ermordet. Wer mag diese Tat begangen haben? Lisas Freund, der sich mehr Nähe erhoffte? Ein gedun­gener Mörder im Auftrag eines der Konzerne, die Jörg brechen, ihn aus dem Felde schlagen, sein Land haben wollen?

Mit der Aufklärung des prekären Falles werden die Kriminal­beam­ten Ioan Cozma und Ciprian Rusu (»Cippo«) betraut. Die beiden befreun­deten Mittfünf­ziger sehen schon dem Ruhe­stand entgegen, machen ihre Arbeit aber mit der Sorgfalt alter Schule. Aller­dings hat ihre Dienstzeit bei der Securitate, Ceaușescus gefürchte­ter Geheim­polizei, viele sehr dunkle Flecken auf ihren Westen hinterlas­sen, so dass sie immer gewärtig sind, dass das Institut für die Auf­arbei­tung der kommu­nisti­schen Verbrechen bei ihnen anklopft.

Bottinis wendungsreicher, bis zum Ende fesselnder Roman ist vollge­packt mit aufrüt­telnden zeit­geschicht­lichen Themen, die der Autor gut recher­chiert und handfest aufbereitet hat. Er schildert, wie sich die als Jahr­hundert­ereig­nisse gepriese­nen Entwick­lungen – Mauer­fall und Wieder­vereini­gung, die friedliche Erweite­rung Europas nach Osten hin, die Globali­sierung – aus der Sicht betrof­fener Normal­bürger anfühlen. Ausführ­lich und detail­reich gestaltet er repräsen­tative Einzel­schick­sale, wie es sie zu Tausen­den gegeben hat. Gemein­sam ist ihnen, dass die politi­sche Entwick­lung in ihrem Leben mehr Schaden angerich­tet als Nutzen gebracht hat.

Über dem gesamten Plot lastet schwer das Dunkel der Ceaușescu-Vergangen­heit. Hunderte anonyme Tote, in Erdlöchern verscharrt und erst jetzt geborgen, erinnern an die bis heute nicht aufge­arbeite­ten Hinrich­tungen und Morde während der Dikta­tur. Eine Roman­figur gibt den in der öffent­lichen Erinnerung bewahrten Bildern vernachläs­sigter Kinder in verkom­menen Heimen Leben. Damit sein Volk kräftig wachse, hatte Ceaușescu 1966 per Dekret jegliche Verhütung und Abtrei­bung untersagt, solange eine Familie weniger als vier Kinder hatte. Daher kamen unzäh­lige Babys zur Welt, die bei ihren bitter­armen Eltern uner­wünscht waren. Viele waren behindert, weil ihre Mütter sie in ihrer Not selbst abzu­treiben versucht hatten. Petre ist ein solcher »decrețel«, das fünfte Kind einer Familie. Wie viele andere landet er in Heimen, wo die Securitate die Gesunden auswählt und fördert, während die Miss­gebil­deten in unsäg­lichen Anstalten oder unter­irdi­schen Keller­löchern wegge­sperrt werden.

Nicht nur die fundierte und breit angelegte inhalt­liche Dar­stellungs­leistung, sondern auch die literari­sche Qualität des Romans verdient Anerken­nung. Immer wieder begegnen dem Leser unge­wöhn­liche Formu­lierun­gen und Satzbauten, die die Wirkung zentraler Episoden verstärken (»ein sekunden­kurzer, grotesker Tanz, im Aufprall der Kugeln tänzelte er nach links, dann nach rechts, wieder nach links, der Zopf flog mit, die langen Arme schlacker­ten« – »Die Abende hatten Erlösung gebracht damals, in der Dunkel­heit war das enge Land weit geworden« – »Wieder die Suche nach Marthen, der nicht ans Telefon ging«). Um nicht die Übersicht über die unzäh­ligen Figuren zu verlieren, ist das sechs­seitige Namens­register sehr hilfreich.

Oliver Bottinis uneingeschränkt zu empfehlender Roman lässt nieman­den weg­schauen, so deprimie­rend, schmerz­voll und düster sein Stoff ist.


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