Mit geballter Faust
von Nicoletta Giampietro
In der aufwühlendsten Phase der italienischen Nachkriegszeit, den „bleiernen Jahren" des Terrorismus, müssen zwei heranwachsende Schwestern schwere Entscheidungen treffen: Sollen sie sich den hehren Zielen der revolutionären Bewegung anschließen oder der differenzierten Weltsicht ihrer Eltern folgen?
Die unwiderstehliche Attraktivität des Guten
Nicoletta Giampietro hat eine bemerkenswerte Vita, 1960 geboren, wuchs sie in Mailand auf, studierte dort und in Tübingen Politikwissenschaften und Geschichte und lebt seit 1986 in Deutschland. Sie spricht fünf Sprachen und verfasst ihre Romane auf Deutsch.
Ihr Debüt von 2019 (»Niemand weiß, dass du hier bist« [› Rezension]) spielt in den Kriegsjahren im besetzten Siena. In ihrem Nachfolgewerk versetzt sie uns wieder in ein politisch bedeutsames Setting, nämlich die Siebzigerjahre in Mailand. Es sind die anni di piombo (»Jahre des Bleis«), in denen Gruppen vom äußersten rechten Rand Anschläge ausführten, um eine neue Ordnung zu errichten und die Linke zu gewaltsamer Gegenwehr zu provozieren. Auch Teile der extremen Linken radikalisierten sich und verübten zahlreiche Attentate, so dass sich die Auseinandersetzung zwischen den Extremisten untereinander und den staatlichen Institutionen andererseits blutig zuspitzte. Ihren Tiefpunkt erreichte die »Bleierne Zeit«, als die Terroristengruppe Brigate Rosse (»rote Brigaden«) den Chef der italienischen Christdemokraten, Aldo Moro, entführte und ermordete. Er war der prominenteste der 370 Menschen, die in dem von Fanatismus und äußerster Gewalt geprägten Zeitraum ihr Leben verloren.
Dieses düstere Kapitel der italienischen Geschichte, das seither wissenschaftlich, filmisch und literarisch vielfältig aufgearbeitet ist, wählt Nicoletta Giampietro zum historischen Hintergrund ihres ergreifenden Romans. Neben der Darstellung der politischen Atmosphäre jener Zeit überzeugt er in zwei weiteren Dimensionen: als eindringliche Familiengeschichte mit lebensnahen Charakteren und als Illustration zur Psychologie der Verführung. Es geht der Autorin darum zu zeigen, wie tief zerrissen die italienische Gesellschaft ist, dass die sich zuspitzende politische Auseinandersetzung selbst stabile, gut funktionierende Familienbande zu spalten vermag. Beispielhaft erleben wir dies an der (etwas zu modellhaften, zu idealisierten) Konstellation eines liebevollen, vertrauensvollen, liberalen und gut situierten Arzthaushaltes, in dem die beiden Schwestern Giulia und Gabriella aufgewachsen sind. Wie reagieren sie auf den Ansturm von Idealen und Anforderungen, der ihnen entgegenschlägt?
Die Handlung des Romans beginnt mit einer öffentlichen Trauerkundgebung historischen Ausmaßes. Drei Tage zuvor, am 12. Dezember 1969, hatte eine Bombenexplosion in einer Bankfiliale siebzehn Menschen getötet und achtundachtzig verletzt. Jetzt sind Tausende auf der Piazza del Duomo in Mailand zusammengekommen, um Mitgefühl und Respekt vor den Opfern zu bekunden und für Frieden zu beten. Auch Giulia (14), Gabriella (16) und ihre Eltern sind darunter. Der Vater hatte in der Nacht des Attentats einen Jungen operiert, der bei der Explosion einen Fuß verloren hatte. Die Gespräche der Eltern und der Umstehenden bringen Bitteres und Neues an die Ohren der Mädchen (»Warum dieses Gemetzel?« Das waren »Anarchisten«!) und lösen bei Gabriella unbändige Wut aus: »Wer so etwas tut, ist kein Mensch.«
Nach den Sommerferien beginnt für Giulia ein neuer Lebensabschnitt. Sie wechselt auf das Liceo, wo sie endlich in die Welt der Großen eintritt und mit Michele und Carmela neue Freunde findet. Gabriella, die angehimmelte, stets vorbildliche große Schwester, erleichtert ihr das Einleben und lässt sie Teil ihres intellektuellen Kreises werden. Sie diskutieren in der Assemblea über ihre Zukunft, über die Radikalisierung, den Terror in der Stadt, sie engagieren sich und nehmen an Demonstrationen teil. Die junge, selbst politisierte Lehrerschaft sieht dem wohlwollend zu, auch wenn Unterricht ausfällt. Wie zuvor die Studenten, werden jetzt auch die Schüler involviert in die Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, die ihre Gegensätze mit wachsender Brutalität gegeneinander ausfechten.
Die Politik nimmt selbst in dem Zimmer, das die beiden Schwestern gemeinsam bewohnen, immer mehr Raum ein. An Gabriellas Wand hängen Poster von Che Guevara und Karl Marx, und eines Tages liegen Stapel von Flugblättern herum, die Gabriella vor Unterrichtsbeginn in der Schule verteilen will. Sie laden ein zu einer Demonstration der Lotta Continua (»Ständiger Kampf«), einer linksradikalen außerparlamentarischen Gruppierung und Rivalin der Brigate Rosse. Erste Heimlichkeiten und Vertuschungen (»die Eltern flippen aus … sag ihnen nichts«) befremden und besorgen Giulia und stürzen sie schließlich in einen Konflikt, als sie aus den Abendnachrichten erfährt, dass die Demonstration völlig aus dem Ruder gelaufen ist, und Gabriella sich erst spät heimlich ins Haus schleicht – verletzt, verdreckt und stinkend. Giulia ist zerrissen zwischen der Sorge um ihre Schwester, ihrer Not, die Vorgänge nicht recht zu verstehen, dem Wunsch, die Eltern zu Rate zu ziehen, und der Gefahr, ihr Vertrauensverhältnis zu Gabriella zu verlieren.
Aus dem Charakter der kindlich-naiven, gänzlich unpolitischen Giulia entwickelt die Autorin eine kritische Beobachterin einer gefährlichen Entwicklung. Nachdem die verschiedenen politischen Gruppierungen, untereinander im Konkurrenzkampf, bereits die empfänglichen Teile der Studentenschaft für ihre radikalen Ziele und Aktivitäten begeistern konnten, versuchen sie nun, Nachwuchs aus jüngeren Kreisen zu requirieren.
Bald ist Gabriella völlig aufgegangen in den Idealen der Lotta Continua und ihrem Sendungsbewusstsein. Unwissende Schüler müssen aufgeklärt werden über globales Unrecht wie den Vietnamkrieg, wobei hinter allem mächtige Kapitalisten stecken, die Menschen ausbeuten und unterdrücken. Ihre eigenen Methoden dagegen preisen sie als basisdemokratisch, rein rational und den Willen der Völker repräsentierend. Sie veranstalten »Mobilisationswochen« mit Informationsständen und Debatten. Wer sich kritisch zu den vorgebrachten Theorien äußert oder auch nur schweigt, wird kurzerhand als »Faschist«, Spalter oder konterrevolutionärer Feind abgestempelt.
Auch bei Giulia verfangen die simplifizierenden Erklärungen über die Unrechtspolitik. Sich einem gerechten Kampf anzuschließen, kann doch nicht falsch sein. Umso überraschender treffen Einwände, Sorgen und Entsetzen der Eltern auf ihren Enthusiasmus. Während das Mädchen von friedlichen Menschenansammlungen auf Mailands Straßen schwärmt, berichten die Eltern von Steinwürfen, erbitterten Kämpfen mit der Polizei, immer jüngeren Verletzten auf Vaters Krankenstation und formulieren ihre Argumente, warum es nicht richtig sein kann, die Welt verbessern zu wollen, indem man jeden politisch Andersdenkenden zum Feind erklärt und mit Gewalt vernichtet.
Die Ruhe, mit der die Eltern ihre Ansichten vertreten, ihr umfassendes Hintergrundwissen, die Verweise auf andere, komplexe Krisenherde in der Welt (Militärputsch in Chile, Attentat der Palästinenser während der Olympiade in München …) und die Offenheit, die sie bei Gesprächen mit ihren Kindern und deren Freunden über brisante Themen wie Verhütung, Abtreibung, Gleichstellung der Frau bewiesen hatten, führen Giulia zu einer differenzierteren Betrachtungsweise als der ihrer bereits indoktrinierten Schwester. Deren zunehmende Radikalisierung können auch die Eltern nicht aufhalten – zu stark ist der propagandistische Einfluss der Compagni (»Genossen«), zu groß ihre Empfänglichkeit für die große und gute weltpolitische Sache.
Die Entwicklung des (durchaus vorhersehbaren) Plots erreicht ihren Wendepunkt, als Gabriella Spendengelder für die Revolution in Chile eintreiben soll und dafür auch Giulia und deren Freund einspannt. Während Michele an diesem Punkt aussteigt, lässt sich Giulia wieder überzeugen. Die Folgen sind für beide dramatisch. Als die Eltern herausbekommen, wohin ihre Gebühren für die Geigenstunden gegangen sind, ziehen sie autoritär die Reißleine. Michele aber wird jetzt von den eigenen Kameraden zum »dreckigen Faschisten« erklärt, gegen den sich primitivster Hass entladen darf. Da machen sich bei Giulia Zweifel breit am Wert der Lobreden, die Gabriella ihr für ihre heldenhafte Teilnahme an einer besonders aggressiv verlaufenen Demonstration hält (»gelebter Antifaschismus«).
Neben der eindringlichen Familiengeschichte mit der überzeugenden, feinfühligen Gestaltung der Charaktere liefert Nicoletta Giampietro ein Lehrstück über die Mechanismen, mit denen politische Aktivisten jeder Couleur guten Willen, Begeisterungsfähigkeit, Unerfahrenheit und Unwissen junger Menschen seit jeher ausnutzen, um sie zum Mitmachen zu verführen und gegen Andersdenkende aufzuhetzen. Man kennt die Verheerungen, die dadurch im Lauf der Geschichte immer wieder aufs Neue angerichtet wurden, sowohl in der Seele der jungen Menschen als auch in deren Familien als auch in der Gesellschaft, und doch wiederholt sich dieses Geschehen bis zum heutigen Tag auch in »aufgeklärten« Ländern wie unserem. Seien die postulierten Ziele auch noch so edel, die Manipulation von Kindern und Jugendlichen zu Werkzeugen vermeintlich guter Ideologien bleibt verwerflich.