Mit dem Schnee kommt der Tod
von Nicola Upson
Was ein glamouröses Weihnachtsfest auf einem idyllischen Inselchen werden soll, gerät zu einem Albtraum mit zwei Mordfällen, üblen Verdächtigungen, Schneesturm, Flut und beängstigender Isolation.
Weihnachten fällt aus
Lassen Sie sich von diesem bezaubernden Cover besser nicht irreführen: Es zeigt die winzige Insel St Michael’s Mount, die in der Bucht von Penzance am äußersten südwestlichen Zipfel von Cornwall aus den Fluten steigt. Nicht nur der Name, sondern auch die Kegelform, die von Ebbe und Flut abhängige Zugänglichkeit, die touristische Attraktivität und die religiöse Bedeutung seit Jahrhunderten lassen sofort an den Mont Saint-Michel in der Normandie denken, der jedoch in jeder Hinsicht sehr viel größer ist. An diesem malerischen Flecken ist der Plot eines recht ungewöhnlichen Kriminalromans verortet.
Ein Aufkleber wie eine Christbaumkugel mit der Aufschrift »Christmas« lässt – trotz des Zusatzes »Crime« – auf eine weihnachtliche Grundstimmung in der Idylle hoffen, und zumindest britische Augen erstrahlen, wenn sie 1938 als das Jahr der Handlung identifizieren. Obwohl viele Leute das mulmige Gefühl hatten, Europa steuere unweigerlich auf einen neuen Krieg zu, war die Welt damals in der nationalen Erinnerung noch in Ordnung, das Land ein Hort der Zivilisiertheit, die Wirtschaft blühte, das Empire umfasste immer noch weite Teile des Globus.
Doch was uns Nicola Upson in ihrem Roman erzählt, lässt nicht viel übrig von Idylle, Harmonie, Friede und Besinnlichkeit. Vielmehr wird kräftig gemeuchelt und intrigiert.
Der bedeutendste Wohnsitz auf der kleinen Insel ist der der traditionsreichen Familie St. Aubyn. Während man bislang das Weihnachtsfest gemeinsam mit den wenigen anderen Dorfbewohnern gefeiert hatte, hat Hilaria, die Hausherrin, erstmals illustre Gäste von auswärts auf ihre Burg geladen. Sie erhofft sich von ihnen großzügige Spenden für den Flüchtlingsfond, den sie vor Kurzem gegründet hat. Die Angestellten geben ihr Bestes, damit die zwölf Besucher und die Gastgeberin ein perfektes gesellschaftliches Glanzlicht genießen können.
Man erwartet Hilarias langjährigen Bekannten Archie Penrose, der zwei Freundinnen mitbringt: die illustre Theater- und Kriminalautorin Josephine Tey und ihre Partnerin, die Drehbuchautorin Marta. Weiter stehen auf der Gästeliste ein Colonel mit Tochter, ein Pfarrer mit Ehefrau, ein Ehepaar Lancaster, eine Mrs Carmichael und ein Fotograf der Times, dessen Chef (selbst ein Spender) darauf baut, dass er eine tolle Story von dem Event zurückbringt. Denn im Rampenlicht wird niemand anderes stehen als der berühmte Filmstar Marlene Dietrich. Die gebürtige Deutsche feiert schon seit einigen Jahren große Erfolge in den USA, während sie alle lukrativen Angebote, für das nationalsozialistische Regime ihres Heimatlandes zu arbeiten, ablehnt.
Auch Archie Penrose reist nicht nur zum Vergnügen auf den St Michael’s Mount. Der Detective Chief Inspector ist von Scotland Yard beauftragt, für die Sicherheit der glamourösen Künstlerin zu sorgen. Denn man befürchtet, der brüskierte Propagandaminister Goebbels könne die Entführung der Schauspielerin heim ins Reich planen. Und in der Tat: Als die Dame von Weltruf das Boot besteigt, um die Insel der St. Aubyns zu erreichen, taucht ein deutscher Beamter am Kai auf.
Schon am Morgen des Heiligen Abends ist es vorbei mit weihnachtlicher Stimmung. Zum Gottesdienst warten die wenigen Bewohner der Insel vergebens auf ihren Reverend Richard Hartley. Grausam misshandelt findet man seine Leiche auf dem steinernen Stuhl von Sankt Michael im engen Kirchturm. Zusammen mit einem weiteren Mordfall, der vorerst nur uns Lesern bekannt wird, steht das Weihnachtsfest unter denkbar schlechten Vorzeichen.
In aller Ruhe stellt uns die Autorin jede Person einzeln vor, und auch die ausführliche Beschreibung der Insel und ihrer Gegebenheiten, der Räumlichkeiten des Herrensitzes sowie des Zeitkolorits nimmt viele Seiten in Anspruch. Schritt für Schritt verlaufen die Recherchen und Verhöre des Kommissars Archie Penrose nach dem klassischen Whodunit-Konzept und überraschen mit einigen unerwarteten Wendungen, so dass man an den Feiertagen gemütlich schmökern, sich auf ein reizvolles Ambiente einlassen und seine Spürnase erproben könnte – würde man nicht ernüchtert durch allerlei brutale Bluttaten und einen ganzen Strauß realitätsnah abgehandelter Themen wie Verrat, Betrug, Angst, Eifersucht, Trauer, Rache, Armut, häusliche Gewalt und Demenz. Weihnachtliche Wohligkeit mag sich jedenfalls nicht recht einstellen.
Nicola Upson, 1970 in Suffolk geboren, ist in Großbritannien als Autorin einer Reihe historischer Kriminalromane seit 2008 sehr erfolgreich. Ihre fiktional gestaltete Hauptfigur hat ein reales Vorbild: ›Josephine Tey‹ war das Pseudonym der schottischen Schriftstellerin Elizabeth MacKintosh (1896-1952), deren Krimi »The Daughter of Time« (1951, dt. »Die Toten im Tower«) 1990 von der British Crime Writers’ Association als bester Kriminalroman aller Zeiten gewählt wurde. Der Zürcher Verlag »Kein & Aber« plant die Herausgabe aller (bislang) zehn Bände von Nicola Upsons Reihe; in der Übersetzung von Anna-Christin Kramer sind bereits »Experte in Sachen Mord« (»An Expert in Murder«, Band 1 von 2008), der hier vorgestellte Band 9 (»The Dead of Winter«, 2020) und »Dorf unter Verdacht« (»Dear Little Corpses«, Band 10 von 2022) erschienen.