Trauriger Tiger
von Neige Sinno
Neige Sinno verarbeitet in diesem ungewöhnlichen, freimütigen Buch ihre traumatischen Kindheitserfahrungen, indem sie die Auswirkungen von Missbrauch beleuchtet und die komplexe Täter-Opfer-Dynamik reflektiert. Sie verzichtet auf Drastik und Sensationalismus und fordert die Leser zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den psychologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Gewalt heraus.
Etwas, von dem niemand weiß, ist nicht geschehen
Neige Sinno, geboren 1977 in der französischen Region Hautes-Alpes, veröffentlichte 2023 ein sehr persönliches Buch mit dem Titel »Triste Tigre«, das in Frankreich sogleich Furore gemacht hat und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet wurde (darunter Prix littéraire Le Monde, Prix Goncourt des lycéens und der italienische Premio Strega Europeo 2024). Nun liegt es bei DTV in deutscher Übersetzung von Michaela Meßner vor. In ihrem Buch beschreibt die Autorin ihre Auseinandersetzung mit ihren eigenen Erfahrungen von Missbrauch und Trauma und lässt die Leser an ihrem Prozess teilhaben, die Ereignisse der Kindheit zu verstehen und zu verarbeiten. Wir erhalten dabei intime Einblicke in ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrem Stiefvater, die von schwierigen und belastenden Erfahrungen geprägt war.
Erst in der Mitte des Buches erschließt sich uns Neiges Familiengeschichte. Ihre Mutter und ihr biologischer Vater führen mit ihren zwei Töchtern Neige und Rose ein freizügiges, naturnahes Hippieleben abseits bürgerlicher Konventionen. Bald verliebt sich die Mutter in einen attraktiven, charismatischen und angesehenen Bergführer, Mitte 20, heiratet ihn, bekommt später zwei weitere Kinder von ihm. Von Anfang an dominiert der Stiefvater die ganze Familie. Neige, ein intelligentes Mädchen von etwa sechs Jahren, lehnt ihn ab, provoziert ihn in Taten, Worten und Kleidung.
Als es zu sexuellen Übergriffen kommt, erträgt Neige das ihr durch Erniedrigung und Gewalt zugefügte Leid im Stillen, bis ihre Pubertät einsetzt und der Mann von ihr ablässt. Selbst danach schweigt sie noch lange, um ihrer ahnungslosen Mutter und der Familie unangenehme Folgen zu ersparen. Erst mit etwa 16 Jahren öffnet sie sich einer guten Freundin gegenüber, um das Erlebte zu teilen, mit 21 zeigt sie ihren Stiefvater an. Der Prozess gegen ihn endet mit seiner Verurteilung zu neun Jahren Haft und bedeutet einen Wendepunkt in der Geschichte.
Doch in ihrem Buch geht Sinno weit über das bloße Wiedergeben der Fakten hinaus. Immer wieder stellt sie sich die Frage nach dem »Warum« ihrer Entscheidung, die schmerzvollen Erlebnisse aufzuschreiben, und was sie sich von dieser literarischen Auseinandersetzung erhofft. Keinesfalls möchte sie ein Memoir im klassischen Sinne verfassen, sondern vielmehr das komplexe Thema erlittener Gewalt und ihrer Auswirkungen auf die Psyche in all seiner Tiefe und Vielschichtigkeit ergründen.
So folgt »Trauriger Tiger« keiner linearen Erzählstruktur, sondern springt in der Zeit und den Themen hin und her, was den Text zu einem schwierigen, aber auch sehr differenzierten Leseerlebnis macht. Zentrale Anliegen sind Sinnos Reflexionen über ihre Einstellung zum Stiefvater als junges Mädchen. Sie hinterfragt dabei auch ihr eigenes Verhalten und stellt sich die schwierige Frage, ob sie durch ihre Reaktionen und ihre Ablehnung oder gar durch eigene Aktionen dazu beigetragen haben könnte, dass der Missbrauch überhaupt begann. Immer wieder versucht Neige Sinno, ihre eigene Sichtweise mit der ihres Stiefvaters abzugleichen, sowohl der Opfer- als auch der Täter-Perspektive gerecht zu werden. Sie setzt sich sogar mit der Opferrolle auseinander, die der Stiefvater im Prozess für sich eingefordert hat: Das kleine Mädchen habe den »Mechanismus«, der ihn zu seinen Übergriffen getrieben habe, »durch ihre bloße Existenz ausgelöst.«
Überdies begrenzt die Autorin ihre Sicht nicht auf ihre persönliche Geschichte, sondern erweitert sie durch die Herbeiziehung zahlreicher literarischer Auseinandersetzungen mit den psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten von Missbrauch. Sie stellt Bezüge zu Schriftstellern wie dem Marquis de Sade, Oscar Wilde, Virginia Woolf, Vladimir Nabokov, William Faulkner und Annie Ernaux her, zieht Märchen und Sagen heran, dazu die Arbeiten von Journalisten, Historikern und Soziologen, in deren Werken sie ihre eigenen Erfahrungen gespiegelt sieht. Ihre weit ausholenden Reflexionen über die Täter-Opfer-Dynamik und die gesellschaftliche Wahrnehmung von sexueller Gewalt sind ein weiterer Schwerpunkt des Buches. Unter anderem analysiert sie, wie Sprache und gesellschaftliche Normen den Blick auf Opfer und Täter beeinflussen. So erläutert sie beispielsweise, was die von Opfern häufig verwendete Formulierung »Ich wurde vergewaltigt« über die Wahrnehmung des Tathergangs und des Täters aussagt: Die passivische Konstruktion benennt sowohl die Tat als auch deren Objekt, während das Subjekt der Handlung nicht erwähnt wird. Der »Vergewaltiger verschwindet … aus dem Wortlaut.« Sinnos Analyse der Grammatik und der Sprachwahl ist ein weiteres markantes Beispiel für ihre gedankenreiche Beschäftigung mit den psychologischen und sprachlichen Mechanismen, die Missbrauch begleiten.
Auf jegliche Ausprägung von Mitleidheischen oder Sensationalismus (etwa in Gestalt einer detaillierten Schilderung von Missbrauchshandlungen) lässt sich die Autorin nicht ein. Sie wünscht, dass sich ihre Leser auf die psychologischen und emotionalen Konsequenzen solcher Taten konzentrieren. Die seelischen Narben, die durch Missbrauch entstehen, wiegen ebenso schwer wie die körperlichen Folgen, und es stellt eine besondere Herausforderung dar, diese Wunden in einer Gesellschaft zu verarbeiten, die oft nur oberflächlich über solche Themen spricht.
Das Schreiben und der Erkenntnisweg dabei mag Neige Sinnos Methode gewesen sein, mit allen Façetten des Erlebten fertigzuwerden. Für sich selbst hat sie damit eine »Ausgangstür« gefunden. Entstanden ist ein mutiges, herausforderndes Werk, das die Leser sowohl intellektuell als auch emotional beansprucht. Es zeigt auf eindringliche Weise, wie tief und nachhaltig Missbrauch das Leben von Betroffenen prägen kann und dass Heilung ein langwieriger und oft schmerzhafter Prozess ist. Wenngleich die Autorin nirgendwo zu einfachen Antworten vordringt und ihre Ratlosigkeit kaum mildern kann, endet ihr Buch nicht in Hoffnungslosigkeit. Auch wenn die Lektüre teilweise als unangenehm empfunden werden kann, trägt sie dazu bei, Tabus um das Thema zu brechen und ein tieferes Verständnis zu fördern.