Rezension zu »Trauriger Tiger« von Neige Sinno

Trauriger Tiger

von


Neige Sinno verarbeitet in diesem ungewöhnlichen, freimütigen Buch ihre traumatischen Kindheitserfahrungen, indem sie die Auswirkungen von Missbrauch beleuchtet und die komplexe Täter-Opfer-Dynamik reflektiert. Sie verzichtet auf Drastik und Sensationalismus und fordert die Leser zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den psychologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Gewalt heraus.
Belletristik · dtv · · 304 S. · ISBN 9783423284226
Sprache: de · Herkunft: fr

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Etwas, von dem niemand weiß, ist nicht geschehen

Rezension vom 23.11.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Neige Sinno, geboren 1977 in der französischen Region Hautes-Alpes, veröf­fent­lichte 2023 ein sehr persön­liches Buch mit dem Titel »Triste Tigre«, das in Frank­reich sogleich Furore gemacht hat und mit unzäh­ligen Preisen ausge­zeichnet wurde (darunter Prix litté­raire Le Monde, Prix Goncourt des lycéens und der italie­nische Premio Strega Europeo 2024). Nun liegt es bei DTV in deutscher Über­setzung von Michaela Meßner vor. In ihrem Buch be­schreibt die Autorin ihre Aus­ein­ander­set­zung mit ihren eigenen Erfah­rungen von Miss­brauch und Trauma und lässt die Leser an ihrem Prozess teil­haben, die Ereig­nisse der Kindheit zu verstehen und zu verar­beiten. Wir erhalten dabei intime Einblicke in ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrem Stief­vater, die von schwie­rigen und belas­tenden Erfah­rungen geprägt war.

Erst in der Mitte des Buches erschließt sich uns Neiges Fami­lien­ge­schichte. Ihre Mutter und ihr biologi­scher Vater führen mit ihren zwei Töchtern Neige und Rose ein frei­zügiges, natur­nahes Hippie­leben abseits bürger­licher Konven­tionen. Bald verliebt sich die Mutter in einen attrak­tiven, charis­mati­schen und ange­sehe­nen Berg­führer, Mitte 20, heiratet ihn, bekommt später zwei weitere Kinder von ihm. Von Anfang an dominiert der Stief­vater die ganze Familie. Neige, ein intelli­gentes Mädchen von etwa sechs Jahren, lehnt ihn ab, provo­ziert ihn in Taten, Worten und Kleidung.

Als es zu sexuellen Übergriffen kommt, erträgt Neige das ihr durch Ernied­rigung und Gewalt zugefügte Leid im Stillen, bis ihre Pubertät einsetzt und der Mann von ihr ablässt. Selbst danach schweigt sie noch lange, um ihrer ahnungs­losen Mutter und der Familie unan­ge­nehme Folgen zu ersparen. Erst mit etwa 16 Jahren öffnet sie sich einer guten Freundin gegenüber, um das Erlebte zu teilen, mit 21 zeigt sie ihren Stief­vater an. Der Prozess gegen ihn endet mit seiner Verur­teilung zu neun Jahren Haft und bedeutet einen Wende­punkt in der Ge­schichte.

Doch in ihrem Buch geht Sinno weit über das bloße Wieder­geben der Fakten hinaus. Immer wieder stellt sie sich die Frage nach dem »Warum« ihrer Ent­schei­dung, die schmerz­vollen Erleb­nisse aufzu­schrei­ben, und was sie sich von dieser literari­schen Aus­ein­ander­set­zung erhofft. Keines­falls möchte sie ein Memoir im klassi­schen Sinne verfassen, sondern vielmehr das komplexe Thema erlit­tener Gewalt und ihrer Aus­wirkun­gen auf die Psyche in all seiner Tiefe und Viel­schich­tigkeit ergründen.

So folgt »Trauriger Tiger« keiner linearen Erzähl­struktur, sondern springt in der Zeit und den Themen hin und her, was den Text zu einem schwie­rigen, aber auch sehr diffe­renzier­ten Lese­erleb­nis macht. Zentrale Anliegen sind Sinnos Re­flexio­nen über ihre Ein­stellung zum Stief­vater als junges Mädchen. Sie hinter­fragt dabei auch ihr eigenes Verhalten und stellt sich die schwie­rige Frage, ob sie durch ihre Reak­tionen und ihre Ableh­nung oder gar durch eigene Aktionen dazu beige­tragen haben könnte, dass der Miss­brauch über­haupt begann. Immer wieder versucht Neige Sinno, ihre eigene Sicht­weise mit der ihres Stief­vaters abzu­gleichen, sowohl der Opfer- als auch der Täter-Per­spek­tive gerecht zu werden. Sie setzt sich sogar mit der Opfer­rolle ausein­ander, die der Stief­vater im Prozess für sich einge­fordert hat: Das kleine Mädchen habe den »Mecha­nismus«, der ihn zu seinen Über­griffen getrieben habe, »durch ihre bloße Existenz ausge­löst.«

Überdies begrenzt die Autorin ihre Sicht nicht auf ihre persön­liche Geschichte, sondern erweitert sie durch die Herbei­ziehung zahl­reicher literari­scher Aus­ein­ander­set­zun­gen mit den psycho­logischen und gesell­schaft­lichen Aspekten von Miss­brauch. Sie stellt Bezüge zu Schrift­stellern wie dem Marquis de Sade, Oscar Wilde, Virginia Woolf, Vladimir Nabokov, William Faulkner und Annie Ernaux her, zieht Märchen und Sagen heran, dazu die Arbeiten von Jour­nalisten, Histo­rikern und Sozio­logen, in deren Werken sie ihre eigenen Erfah­rungen gespie­gelt sieht. Ihre weit aus­holen­den Re­flexio­nen über die Täter-Opfer-Dynamik und die gesell­schaft­liche Wahr­neh­mung von sexueller Gewalt sind ein weiterer Schwer­punkt des Buches. Unter anderem analy­siert sie, wie Sprache und ge­sell­schaft­liche Normen den Blick auf Opfer und Täter beein­flussen. So erläutert sie bei­spiels­weise, was die von Opfern häufig ver­wendete Formu­lierung »Ich wurde verge­waltigt« über die Wahr­neh­mung des Tather­gangs und des Täters aussagt: Die passi­vische Kon­struk­tion benennt sowohl die Tat als auch deren Objekt, während das Subjekt der Handlung nicht erwähnt wird. Der »Verge­walti­ger ver­schwin­det … aus dem Wort­laut.« Sinnos Analyse der Grammatik und der Sprach­wahl ist ein weiteres markantes Beispiel für ihre gedan­ken­reiche Be­schäfti­gung mit den psycho­logi­schen und sprach­lichen Mecha­nismen, die Miss­brauch begleiten.

Auf jegliche Ausprägung von Mitleid­heischen oder Sensa­tiona­lismus (etwa in Gestalt einer detail­lierten Schil­derung von Miss­brauchs­hand­lungen) lässt sich die Autorin nicht ein. Sie wünscht, dass sich ihre Leser auf die psycho­logi­schen und emotio­nalen Kon­sequen­zen solcher Taten konzen­trieren. Die seeli­schen Narben, die durch Miss­brauch entstehen, wiegen ebenso schwer wie die körper­lichen Folgen, und es stellt eine besondere Heraus­forde­rung dar, diese Wunden in einer Gesell­schaft zu verar­beiten, die oft nur ober­fläch­lich über solche Themen spricht.

Das Schreiben und der Erkenntnisweg dabei mag Neige Sinnos Methode gewesen sein, mit allen Façetten des Erlebten fertig­zu­wer­den. Für sich selbst hat sie damit eine »Aus­gangs­tür« gefunden. Ent­standen ist ein mutiges, heraus­fordern­des Werk, das die Leser sowohl intellek­tuell als auch emotional bean­sprucht. Es zeigt auf ein­dring­liche Weise, wie tief und nach­haltig Miss­brauch das Leben von Betrof­fenen prägen kann und dass Heilung ein lang­wieriger und oft schmerz­hafter Prozess ist. Wenn­gleich die Autorin nirgendwo zu einfachen Antworten vordringt und ihre Rat­losig­keit kaum mildern kann, endet ihr Buch nicht in Hoff­nungs­losig­keit. Auch wenn die Lektüre teilweise als unan­genehm empfunden werden kann, trägt sie dazu bei, Tabus um das Thema zu brechen und ein tieferes Ver­ständ­nis zu fördern.


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