
Gespenster der Vergangenheit steigen aus dem Teufelsmoor
Paul Wendland, 35 Jahre alt, ist stolz auf seine Herkunft. Als Kind hat er in der "Künstlerkolonie" Worpswede gelebt. Dort hatte sein Großvater, Paul Kück, einem Bauern ein Haus direkt am Teufelsmoor abgekauft. Das großzügige Anwesen mit einem Grundstück von über 2000 Quadratmetern bot Platz für alle fünf Brüder, die Frauen und Kinder – und seine lebensgroßen Skulpturen.
Pauls Mutter, eine waschechte Achtundsechzigerin, hat einen absoluten Indien-Tick. Sie vertieft sich in Schriften über den Schöpfergott Brahma und versenkt sich in Krishna mit seinen heiligen Kühen. (Als ob es in Worpswede nicht genügend normale norddeutsche Milchkühe gäbe, gibt der Erzähler zu bedenken ...). Pauls Geburt inszenierte sie bewusst in einem Schrank, wo sie sich an der Kleiderstange festklammerte, allerdings bei "höchster Beckenfreiheit".
Nach der Trennung von ihrem Mann, Ulrich Wendland, lässt sie sich auf Lanzarote nieder, wo sie sich in kreativen und psychologischen Kursen verwirklicht. Um Pauls Vitaminbedarf zu versorgen, schickt sie ihm Care-Pakete mit frischem Salat nach Berlin; dass der Versandweg allerdings neun Tage in Anspruch nimmt, liegt nicht in ihrem Wahrnehmungsbereich ... (Rinke kann hübsch satirisch charakterisieren ...)
Die Künstlerkolonie Worpswede ernennt Paul Kück zum "Künstler des Jahrhunderts"; man nannte ihn auch schon den Rodin des Nordens. Derweil schickt seine Tochter seinen Enkel Paul nach Worpswede, um Haus und Skulpturenpark durch bauliche Maßnahmen vor dem Absinken ins Moor zu retten.
Bei der Trockenlegung des Kückschen Geländes tauchen gigantische, Furcht einflößende Skulpturen aus den moorigen Tiefen auf: Kück hatte Hitlers Reichsbauernführer in Bronze gegossen. Diese unliebsamen Kunstwerke müssen schnellstens verschwinden. Doch Paul stößt auf immer mehr Geheimnisse und Lügen. Seine Großeltern haben grausames Unrecht getan – und seine eigenen Eltern haben ihm ein Leben lang eine Lüge vorgelebt.
Andere Protagonisten – namens Nullkück und Ohlrogge – bestreiten weite Teile der Romanhandlung. Ihre Verhaltensweisen sind von starken Gefühlen geprägt. Nullkück, ein liebebedürftiger Mensch, ist ständig an Pauls Seite. Täglich gibt es Buchweizenpfannekuchen. Mit dem Traktor entsorgen sie die Vergangenheit.
Ohlrogge, verschmähter Maler, wird zerfressen von Hass und Wut auf die Kücks. Immer auf der Suche, ob er nicht irgend etwas in Großvater Pauls Vergangenheit aufdecken kann, wendet er sich auch an einen Historiker, der sich in Worpswede an die Arbeit macht. Späte Rache wäre Ohlrogge eine Genugtuung. Für das Ausleben seiner kalten Rachsucht wird er Jahre büßen müssen (Dabei würde man seine Gülle-Aktion heute womöglich als künstlerische Performance bewerten ...).
Eine ganze Galerie von Nebencharakteren erheitern den Leser, wie zum Beispiel die übereifrigen, sich selbst überschätzenden Hobbymaler aus Ohlrogges Sommerkursen oder der russische Profi-Stipendiat, der für sein Stipendium hauptsächlich Tetris auf seinem Gameboy spielt ...
Moritz Rinke lässt das Dorf im Wendland mit Moor und Butterkuchen eindrucksvoll aufleben. Seine Figuren sind teils historisch-authentisch, wie Fritz Modersohn und Heinrich Vogeler, teils fiktional. Amüsant ist seine Zeichnung des Dorfbordells, in dem die Gruppe der Parkinson-Kranken immer Vorrang hat. Rinke spielt virtuos mit Sprache; eine Prise Ironie und skurriler Humor sind oft dabei, und viele Szenen sind total irrwitzig.
Offenkundig nimmt der Autor das Brimborium, das Künstler oft umgibt, nicht allzu ernst. Darüber hinaus entlarvt er ziemlich derb Paul Kücks Rolle in Gesellschaft und Geschichte. Ob das dem realen Tourismusziel Worpswede wohl Auftrieb gibt?
Ein anspruchsvoller, spannender Roman – und ein echtes Lesevergnügen.