Who is who?
Die literarische Gestaltung in Miguel Syjucos Debütroman "Die Erleuchteten" •übersetzt von Hannes Riffel) imitiert die Schnelllebigkeit und den Medienkonsum unserer Zeit und spielt mit der Allverfügbarkeit von Information. Wir zappen nach Lust und Laune durch die TV-Programme, recherchieren und surfen im Internet, bloggen und kommunizieren elektronisch, und auch wir Leser der "Erleuchteten" werden zwischen all den kleinen, durch das Schriftbild voneinander abgesetzten Inhalten hin- und hergeswitcht. Gleichwohl hält uns das Medium Buch in seiner schlichten wie starren "chronologischen" Struktur fest: Wir lesen Seite für Seite weiter, egal ob sie aus Papier oder elektronisch vor uns liegt. Zurückblättern macht kaum Sinn; wir müssen uns dem verwirrenden Prinzip stellen.
Den Leser zu verwirren muss dem Autor Spaß gemacht haben. Er spielt mit unserer Neugier und unserem Verstand, entwickelt seine Story realistisch, versetzt sie dazu immer wieder mit Zitaten inklusive Quellenangaben sowie Bruchstücken aus mehr als 100 Jahren philippinischer Historie. Wir vertrauen ihm, glauben festen Boden unter unseren Füßen – und schon entzieht er ihn uns durch Absurditäten und Fantasien.
Doch worum geht es überhaupt? Der philippinische Schriftsteller Crispin Salvador lebt in New York im selbst gewählten Exil. Als Literaturdozent hat er diverse Bücher herausgegeben, schreibt für Zeitungen, hält Vorlesungen. Seine temporeichen, leidenschaftlich monologisierenden Vorträge begeistern seine Studenten. Unter seinesgleichen wird er weniger geschätzt, am wenigsten von anderen philippinischen Literaten; in jenen Kreisen hält man ihn für einen infamen, egozentrischen Intellektuellen, der sich 1972, bevor Ferdinand Edralin Marcos das Kriegsrecht ausrief, bequem aus Manila abgesetzt und später, bei einem Kongress, seine Gegner düpiert habe.
Als man ihn eines Tages tot aus dem Hudson River zieht, stellt sich für die ermittelnde Polizei die Frage, ob der zurückgezogen lebende Autor sein Ende selbst gesucht hat oder ermordet wurde. Die großen Zeitungen zerreißen sich das Maul: Salvador sei kein authentischer philippinischer Autor gewesen, zu mittelmäßig für einen Mord ...
Für Student Miguel, selbst ein philippinischer Emigrant, ist der Tod seines Mentors Anlass, sich mit dessen Leben näher zu beschäftigen. Er hatte sich auch privat mit ihm ausgetauscht, gerne mit ihm Cheeseburger gegessen. Vielleicht findet er eine Erklärung für den rätselhaften Tod in Salvadors letztem Werk "The Bridges Ablaze", einer umfangreichen, noch unvollständigen Abrechnung mit dem politischen System der Philippinen – doch leider ist das Manuskript verschollen.
Nun will Miguel eine Biografie seines großen Vorbilds verfassen, ihn posthum würdigen, ihm ein Denkmal setzen. Gleichzeitig soll damit eine Anklageschrift gegen sein Heimatland entstehen, und außerdem will er darin die Schuld zum Ausdruck bringen, die er •Miguel) selbst den philippinischen Toten gegenüber empfindet.
Mit diesen Intentionen bucht Miguel einen Flug nach Manila, um sich auf eine "atemberaubende Spurensuche" •so die Cover-Ankündigung) zu begeben. Sie etabliert den zweiten Handlungsstrang, der auf Miguels Vorgeschichte basiert. Als fünftes von sechs Kindern wurde er in einer politisch ambitionierten Familie auf den Philippinnen geboren. Als die Eltern starben, übernahmen die Großeltern seine Erziehung. Doch er entfremdet sich ihnen, will sich nicht politisch einbinden lassen, reist schließlich nach New York, um dort Literaturwissenschaften zu studieren.
Die Erzählung der Erlebnisse Miguels in Manila wird immer wieder unterbrochen durch eingeschobene Auszüge aus einem Zeitungsinterview mit Salvador in "The Paris Review", aus Salvadors Werken, wie "The Enlightened" und "Manila Noir", aus der "im Entstehen begriffenen Biografie Crispin Salvador: Eight Lives Lived von Miguel Syjuco"; sie wird aufgelockert durch running gags, Witze um einen Studenten, Zeitungsausschnitte •aus der Internetausgabe "Philippine-Gazette.com.ph"), einen Internet-Blog •in dem auch crispin1037@salvador.gob.sv schreibt) und so weiter ...
In diesem bunten Kaleidoskop verschiedener Textsorten, -bausteine und Stile erschließen sich dem Leser die eigentlich interessanten Fragmente und Zusammenhänge nur häppchenweise: das Leben der Protagonisten und ihre Verflechtung mit der neueren Geschichte der Philippinen. Die wurden schon 1565 spanische Kolonie. Von 1896 bis 1898 fand unter der Führung des Katipunan-Geheimbunds die Philippinische Revolution statt, die in ihrer Endphase praktisch in den Spanisch-Amerikanischen Krieg überging. Die Marcos-Diktatur •1972-1986) brachte furchtbare Repressalien gegen die Bevölkerung, bis das Land 1987 eine Präsidialrepublik wurde. Der Buchtitel, "Die Erleuchteten", bezieht sich auf die privilegierten Wohlstandsfamilien in der philippinischen Gesellschaft. Die Salvadors gehören seit Generationen dazu: Sie sind Unternehmer, die mit Zuckerplantagen und Beziehungen in politischen Kreisen zu Ansehen und Reichtum gelangten. Sie konnten ihre Kinder im Ausland studieren lassen, und die brachten freiheitliche, aufklärerische Ideen ins Land.
Dieses Panoptikum aus privaten und historischen, fiktionalen und realen Ereignissen ist in seiner sprachlichen und formalen Gestaltung experimentell und witzig, originell und geistreich, aber nach meinem Empfinden zu artifiziell und gesucht konstruiert – und gewiss nicht "atemberaubend". Der sehr breit angelegte, vielschichtige Erzählstrom hat mich nicht in seinen Bann ziehen können. Immer wieder haben mich die Stil- und Themenwechsel herausgerissen, mir die Spannungsbögen gebrochen, die Zusammenhänge verborgen.
Darüber hinaus scheint mir das Spiel mit der Perspektive überdreht und rätselhaft: Who is who? Der reale Autor, Miguel Syjuco, fungiert als •namensgleicher) fiktionaler Erzähler und tritt als Protagonist auf; ein weiterer Erzähler ist Crispin Salvador, eine rein fiktive Gestalt, deren Lebenslauf jedoch viele Parallelitäten zu dem des Autors aufweist. Das story-telling geht fließend von einem Erzähler zum anderen über. Das Vexierspiel hat Methode, wie der Prolog ankündigt und der Epilog aufgreift:
"Die zersplitterten Tatsachen sind hier zu Ihrer Begutachtung zusammengetragen, wie bei einem zerbrochenen Spiegel."
- Miguel Syjuco, auf dem Weg nach Manila, am 1. Dezember 2002" (S. 28)
"Und mit dieser Fiktion der Möglichkeiten, verflochten mit den Möglichkeiten der Fiktion, habe ich mein eigenes ungelebtes Leben dort hineingewebt [...] in dem Bewusstsein, dass wir nur dann erleuchtet sind, wenn wir etwas Neues beginnen, von dem wir dachten, dass es das Ende ist.
- Crispin Salvador, auf dem Weg nach Manila, am 1. Dezember 2002" (S. 444)
Miguel Syjuco, 1976 in Manila geboren, erhielt 2008 für "Ilustrado" den Man Asian Literary Prize, Asiens "Booker Prize".