Auf Identitätssuche im brutalen Balkan-Bürgerkrieg
Am Ende der Romans kann man es kaum noch verkraften. Man lebt im Delirium zweier drogensüchtiger Menschen. Jeden Tag aufs Neue beschaffen sie sich ihren Stoff, ziehen ihre Linien durch die Nase, betrinken sich bis zum Erbrechen. Beide sind auf der Flucht: Sie leiden an ihrer Vergangenheit, und ihren jetzigen Zustand können sie selbst nicht mehr ertragen.
Der eine ist ein junger Mann, Sohn erfolgreicher kroatischer Einwanderer in der Schweiz, erst neunzehn Jahre alt und soeben von seiner Freundin verlassen. Angetrieben von einem diffusen Motiv-Mix aus Heimatgefühl und Heimatlosigkeit, Frustration und Rebellion, Romantik und Melodramatik verlässt er klammheimlich sein Elternhaus, um im 4WD-Zweitwagen seiner Mutter in den Bürgerkrieg zu ziehen, der in Kroatien "los geht". Kann der Irrsinn tödlicher Kämpfe, kann die vage Hoffnung auf einen "gerechten Sieg" über einen Feind, der gar nicht seiner ist, ihm Erfüllung bringen, ihm Entscheidungen über sein weiteres Leben erleichtern?
Im Land seiner Vorväter angekommen, nimmt ihn die 6-Mann-Kampfeinheit "Falke" auf, steckt ihn in eine Uniform und stattet ihn mit einem passenden Waffenarsenal aus. Noch nie hat er eine Waffe in der Hand gehabt, scheint aber ein Naturtalent zu sein, denn egal wohin er zielt: Treffer, versenkt. Geschätzt und anerkannt findet er hier eine neue Familie und verliebt sich in Marina, eine seiner Kampfgefährtinnen. Dass er sich aber mitnichten im Sandkasten eines Spielplatzes befindet, macht der Autor Michael Bozikovic in aller Härte deutlich. Nachtmärsche, Eingraben in Erdlöcher, Granatenbeschüsse durch Panzer, partisanenähnliche Nahkämpfe, Verluste in der kleinen Truppe, und auch der junge Mann wird schwer verletzt. Marina lebt, aber Näheres sieht er erst zu einem späteren Zeitpunkt. Er kämpft um die Liebe, verliert und ertränkt sich in Drogenexzessen ...
Martin, der Protagonist des zweiten Handlungsstrangs, ist von seiner Frau Helena zum Teufel gejagt worden. In ihren Augen ist er ein Waschlappen, bringt nichts zustande. Dass sich sein gerade fertiges Manuskript zum Bestseller entwickeln werde, glaubt sie nicht. Warum kriegt Martin nicht die Kurve? Schon mittags ist er betrunken, treibt sich in Bars herum, hat seine Dealer, die ihn mit Stoff versorgen, und er hat eine Waffe. In zugedröhntem Zustand spannt er den Hahn, zählt von fünf an rückwärts und ... Im Übrigen zieht sich der Handlungsstrang um Martin bisweilen zähflüssig, wenn sich dessen Gedankengänge – sofern er denn bei klarem Verstand ist – permanent um seine verlorene Beziehung mit Helena winden.
Der Autor schärft die jeweils eigene Identität seiner beiden Hauptpersonen durch einen streng separierten Sprachstil: Präteritum bei Martin, Präsens bei dem Neunzehnjährigen; vor allem aber stilisiert er letzteren in dessen Erzählstrang konsequent zur unpersönlichen, namenlosen Gestalt: "Man" ist adoleszent, "man" schießt, "man" wird erwischt, niemand hört "einen" ... Das leuchtet zwar irgendwie ein, aber über so viele Seiten hin wirkt es gekünstelt und umständlich •"man ... sagt den Vornamen", S. 88) – und die unvermeidlich mitschwingende verallgemeinernde Funktion des "man" passt gar nicht.
Trotz der sprachlich untermauerten Trennung sind die Parallelen zwischen den Figuren verblüffend: Beide rennen vor ihrer Realität davon, beide sind im Teufelskreis der sie benebelnden Drogen gefangen, beide werden von ihren inneren Qualen, tiefen seelischen Verletzungen und Depressionen zum Selbstmord getrieben. Und es gibt noch mehr Verknüpfungen: Man erliest, dass "man" sehr wohl einen Namen hat, nämlich "Julien", und "Julien" heißt auch der Protagonist in Martins Manuskript. Welche Beziehung besteht zwischen ihnen? Sie sind sich näher, als man es für möglich hält.
"Drift" ist ein literarisch beeindruckender Roman, will kein leichter Stoff, schon gleich keine entspannende Unterhaltung sein. Hier wird nichts beschönigt – weder der brutale Bürgerkrieg, der uns – anonym wie sein Protagonist – so nahe kommt, dass wir die Panzer rollen hören, noch der Seelen-Krieg, den die beiden Menschen auskämpfen, ohne ihn je für sich gewinnen zu können. Der Autor Michel Bozikovic lässt uns in Abgründe der Gewalt schauen und gleichzeitig in die Todesspirale zweier Menschen, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen, die Kontrolle über ihr Denken verlieren, in hoffnungsloser Verzweiflung im Rausch versinken. Menschen, die sich selbst zerstören, einen inneren Krieg mit sich führen, nirgendwo mehr einen Lichtblick sehen, kann man nicht mehr aufhalten – diese grausame Erkenntnis schmerzt auch den Leser, dem der Autor seine Figuren so nahe zu bringen vermag, dass der Punkt kommt, wo man eigentlich nicht mehr weiter lesen möchte, wie Menschen unter Alkohol, Drogen und Nikotin zwischen Halluzinationen und Wahn durch die Zeit taumeln. Der depressiven Stimmung kann man sich kaum mehr entziehen.