Rezension zu »Das Mädchen mit dem Fingerhut« von Michael Köhlmeier

Das Mädchen mit dem Fingerhut

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 144 S. · ISBN 9783446250550
Sprache: de · Herkunft: de

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Ein kühles Märchen

Rezension vom 19.03.2016 · 14 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Es ist unvermeidlich: Mit dem Titel dieses kleinen Büch­leins kommt einem Hans Christian Ander­sens Märchen vom »Mäd­chen mit den Schwefel­hölzern« in den Sinn, und die Um­schlag­gestal­tung – melan­cho­li­sche Mädchen­augen schauen flehlich zum Be­trach­ter auf – bestärkt die Asso­zia­tion.

Aber viel mehr als bittere Armut und winter­kaltes Bettler­dasein haben die beiden Mädchen nicht gemein. Das zarte sechs­jährige Kind, das einen win­zigen Schatz geschenkt bekommt, anstatt ihn ver­kaufen zu müs­sen wie seine tod­geweihte Ver­wandte, wirkt wie aus dem Nichts in eine Welt geworfen, die namen­los bleibt. Der Schau­platz ist eine belie­bige moderne Groß­stadt, viel­leicht in Deutsch­land oder Öster­reich (der Heimat des Autors).

Die Kleine kennt nicht einmal ihren eigenen Namen. Man hatte sie »Yiza« genannt, was immer das bedeu­ten mag, und dabei bleibt es. Sie kennt auch die Sprache nicht, die die Menschen hier sprechen. Bis auf ein Wort, das ihr »der Onkel« wieder und wieder einge­schärft hat: Wenn sie »Polizei« hört, soll sie schreien, bis ihr die Luft wegbleibt.

»Der Onkel« war ihr einziger Bekannter. Er »gab auf sie acht«. Am Morgen schickte er sie mit klaren An­wei­sun­gen allein zum Betteln in die Geschäfte des Zentrums. Dort traf sie viele gute Menschen, die ihr dies und das gaben, einen Lut­scher, Schoko­lade, ein paar Cent. Am Abend holte sie »der Onkel« am ver­ein­barten Treff­punkt ab. Eines Tages aber nicht mehr, und da ist das Mädchen auf einmal ganz auf sich allein gestellt. Sie nächtigt in einer Obdach­losen­unter­kunft, irrt durch die Stadt, durch­wühlt Con­tainer.

Als besorgte Menschen schließlich die Ord­nungs­hüter zu Hilfe rufen, erkennt Yiza sie nicht als »Polizei«. Statt zu schreien wie am Spieß genießt sie die Fahrt – »sie war schon oft in ihrem Leben in einem Auto ge­sessen«. Die Beamten bringen sie in ein Heim. Dort kümmert sich die gute Schwester Agnes, badet und cremt sie, gewinnt das zarte Wesen lieb, das so niedlich anzu­schauen ist, verwöhnt ihren »Liebling« mit »neuen Sachen« aus der Kleider­aus­gabe und einem Teddy. Dass die Kleine nichts versteht, macht es ihr einfach, gut zu ihr zu sein, sie zu loben, ihr ver­trau­liche Gesten und Sätze zu schenken, zu denen man an­sons­ten viel­leicht nicht den Mut fände.

Die anderen Kinder im Heim haben ihre kindliche Unschuld schon lange verloren und mit ihrer Putzig­keit auch die fürsorg­liche, liebe­volle Zuwen­dung. Zwei Jungen sprechen ihre Sprache: Schamhan, der schon Flaum auf der Ober­lippe hat, und der etwas kleinere Arian. Mit der Schwester gibt es Streite­reien, Miss­ver­ständ­nisse, Zurecht­weisun­gen, Flüche. Yiza versteht kein Wort, aber die gereizte Stim­mung macht ihr Angst. Als die beiden in der Nacht abhauen, schließt sich Yiza ihnen an. Arian steckt ihr einen kleinen messing­farbe­nen Finger­hut auf den verletz­ten Daumen.

Wie »Vater« – »Mutter« – »Kind« ziehen sie in die schreck­liche Welt hinaus, wo sie, nun wieder unge­schützt, auf mär­chen­hafte Gefah­ren treffen. »Nachts kamen sie in einen dichten Nadel­wald.« Die beiden »Großen« kennen die Tricks und Risiken ihres Über­lebens­kampfes. Sie klauen hier und da, brechen in Häuser ein, ver­stecken sich, wissend, dass ihnen jeder­zeit die Abschie­bung droht. Yiza erkrankt, eine Ge­wächs­haus­besit­zerin pflegt sie gesund, hält das verletz­liche, nied­liche kleine Ding aber selbst­süchtig und besitz­ergrei­fend gefangen. Die Handlung nimmt drama­tische Züge an.

In gewisser Weise erinnert die Geschichte von drei prekären Tage­dieben, die sich von Quartier zu Quar­tier, von Gefahr zu Gefahr durch eine un­durch­sich­tige Er­wach­senen­welt schlagen, an Aben­teurer­klassi­ker von Charles Dickens oder Mark Twain. Noch viel frappie­render aber wirkt sie wie auf die gegen­wärtige Lage in Europa abge­stimmt: Klau­kinder, Men­schen­handel, entwur­zelte Migran­ten, Helfer und Profi­teure. Die Szenerie besteht aus Stan­dard­ele­men­ten unseres Groß­stadt-All­tags: Super­märkte, Müll­con­tainer, U-Bahn, Inter­net. Doch die deut­liche, bereits im Titel ange­legte Ver­qui­ckung mit uralten Mär­chen­ele­men­ten (die gute Fee, die böse Hexe, der Zauber­wald, Wan­der­schaft, Prü­fun­gen, Be­schüt­zer und Er­retter, Gut und Böse, Ding­symbole) enthebt sie der Tages­aktua­lität. Die Anony­misie­rung der Orte und Figuren (man weiß nicht, woher sie kommen, wohin sie ziehen werden, sie können ver­schlepp­te Roma­kinder oder Kriegs­flücht­linge sein) macht sie aus­tausch­bar, lässt sie für viele andere Be­trof­fene stehen, ver­weist auf das Exis­ten­zielle von Yizas Situa­tion und Werde­gang.

Seltsamerweise geht die Erzählung aber nicht unter die Haut. Sie bleibt im Kopf, nicht im Herzen. Zum einen sorgt der re­strin­gierte, spröde Sprach­stil für eine kühle Atmos­phäre. Der all­wissen­de Erzähler be­schränkt sich auf das mini­male Sprach­poten­zial (Basis­wort­schatz, Kernsätze, Frag­mente und Ellip­sen) eines Kindes mit ein­fachem, fata­listi­schem Welt­bild und verzich­tet damit auf die Mög­lich­kei­ten, die ihm bei­spiels­weise der Stil von Volks- oder Kunst­märchen geboten hätte (zwar auch schlicht, aber auf ›er­wach­sene‹ Weise auf Effekte hin geformt). Zum anderen nimmt keine einzige Figur eine runde mensch­liche Ge­stalt an. Die meisten sind als »Frau«, »Mann«, »Freund« etiket­tierte aus­tausch­bare Chiffren, nur wenige er­halten Namen. Solche Schat­ten­ge­stal­ten, ziemlich blutleer und seelen­los, schaffen Distanz zum Nach­den­ken und spiegeln unsere eis­kalte, abwei­sende Gesell­schaft wider, lassen aber halt auch kaum Empathie zu. Eine eigen­artig karge, kühle Poesie prägt den Text.

Gegen Ende lässt der Autor die kleine Yiza in die Zukunft träumen. Sie würde Arian heir­aten, von ihm umsorgt und be­schützt werden. Er träumt davon, einmal bei einem wich­tigen Fuß­ball­spiel ein Tor zu schießen und von allen Zu­schauern be­jubelt zu werden. Als Ehepaar, so ver­sprechen sich Yiza und Arian, wollen sie ein­ander »jeden Tag loben«.

Die Ermunterung, den Mitmenschen zu loben, ist eine der subtilen Bot­schaften, die dieses Büch­lein an den Leser richtet. Sie ist freund­lich und be­den­kens­wert, aber leider von eher peri­pherer Wirk­kraft in einer Ge­sell­schaft, die die Menschen haupt­sächlich nach Leis­tungs­fähig­keit und Pro­duk­tivität bewertet und schon ihre Kinder auf Effizienz trimmt. Yiza verweist auf den Extrem­fall dieser Ent­wick­lung: Kinder, denen Kri­mi­nelle Kind­heit und Mensch­sein rauben, damit sie als seelen­lose Appa­rate Geld ein­sam­meln.


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»Das Mädchen mit dem Fingerhut« von Michael Köhlmeier
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Kommentare

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Zu »Das Mädchen mit dem Fingerhut« von Michael Köhlmeier wurden 1 Kommentare verfasst:

tinabender schrieb am 21.12.2016:

Es ist zu kurz gefasst, diese Text als "Ermunterung, den Menschen zu loben" aufzufassen. Die darin feinsinnig erzählte Kritik wendet sich an uns, die wir Spendenfreudigkeit und Barmherzigkeit vom Kindchenschema abhängig machen. Der Text bietet noch viel mehr. Und er geht unter die Haut, denn der "der re­strin­gierte, spröde Sprach­stil" vermittelt, welche Sprache ein Kind beherrschen kann, wenn es scheinbar nie die Möglichkeit bekam, differenzierte Facetten der Sprache zu erlernen, da die Geborgenheit und der Schutz vertrauter Menschen fehlt. Es berührt und schockiert zutiefst. Und: nein - sie träumt nicht mehr. Arian hat getötet, die Vertrautheit und Wäreme kehren nicht wieder.

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