Ein kühles Märchen
Es ist unvermeidlich: Mit dem Titel dieses kleinen Büchleins kommt einem Hans Christian Andersens Märchen vom »Mädchen mit den Schwefelhölzern« in den Sinn, und die Umschlaggestaltung – melancholische Mädchenaugen schauen flehlich zum Betrachter auf – bestärkt die Assoziation.
Aber viel mehr als bittere Armut und winterkaltes Bettlerdasein haben die beiden Mädchen nicht gemein. Das zarte sechsjährige Kind, das einen winzigen Schatz geschenkt bekommt, anstatt ihn verkaufen zu müssen wie seine todgeweihte Verwandte, wirkt wie aus dem Nichts in eine Welt geworfen, die namenlos bleibt. Der Schauplatz ist eine beliebige moderne Großstadt, vielleicht in Deutschland oder Österreich (der Heimat des Autors).
Die Kleine kennt nicht einmal ihren eigenen Namen. Man hatte sie »Yiza« genannt, was immer das bedeuten mag, und dabei bleibt es. Sie kennt auch die Sprache nicht, die die Menschen hier sprechen. Bis auf ein Wort, das ihr »der Onkel« wieder und wieder eingeschärft hat: Wenn sie »Polizei« hört, soll sie schreien, bis ihr die Luft wegbleibt.
»Der Onkel« war ihr einziger Bekannter. Er »gab auf sie acht«. Am Morgen schickte er sie mit klaren Anweisungen allein zum Betteln in die Geschäfte des Zentrums. Dort traf sie viele gute Menschen, die ihr dies und das gaben, einen Lutscher, Schokolade, ein paar Cent. Am Abend holte sie »der Onkel« am vereinbarten Treffpunkt ab. Eines Tages aber nicht mehr, und da ist das Mädchen auf einmal ganz auf sich allein gestellt. Sie nächtigt in einer Obdachlosenunterkunft, irrt durch die Stadt, durchwühlt Container.
Als besorgte Menschen schließlich die Ordnungshüter zu Hilfe rufen, erkennt Yiza sie nicht als »Polizei«. Statt zu schreien wie am Spieß genießt sie die Fahrt – »sie war schon oft in ihrem Leben in einem Auto gesessen«. Die Beamten bringen sie in ein Heim. Dort kümmert sich die gute Schwester Agnes, badet und cremt sie, gewinnt das zarte Wesen lieb, das so niedlich anzuschauen ist, verwöhnt ihren »Liebling« mit »neuen Sachen« aus der Kleiderausgabe und einem Teddy. Dass die Kleine nichts versteht, macht es ihr einfach, gut zu ihr zu sein, sie zu loben, ihr vertrauliche Gesten und Sätze zu schenken, zu denen man ansonsten vielleicht nicht den Mut fände.
Die anderen Kinder im Heim haben ihre kindliche Unschuld schon lange verloren und mit ihrer Putzigkeit auch die fürsorgliche, liebevolle Zuwendung. Zwei Jungen sprechen ihre Sprache: Schamhan, der schon Flaum auf der Oberlippe hat, und der etwas kleinere Arian. Mit der Schwester gibt es Streitereien, Missverständnisse, Zurechtweisungen, Flüche. Yiza versteht kein Wort, aber die gereizte Stimmung macht ihr Angst. Als die beiden in der Nacht abhauen, schließt sich Yiza ihnen an. Arian steckt ihr einen kleinen messingfarbenen Fingerhut auf den verletzten Daumen.
Wie »Vater« – »Mutter« – »Kind« ziehen sie in die schreckliche Welt hinaus, wo sie, nun wieder ungeschützt, auf märchenhafte Gefahren treffen. »Nachts kamen sie in einen dichten Nadelwald.« Die beiden »Großen« kennen die Tricks und Risiken ihres Überlebenskampfes. Sie klauen hier und da, brechen in Häuser ein, verstecken sich, wissend, dass ihnen jederzeit die Abschiebung droht. Yiza erkrankt, eine Gewächshausbesitzerin pflegt sie gesund, hält das verletzliche, niedliche kleine Ding aber selbstsüchtig und besitzergreifend gefangen. Die Handlung nimmt dramatische Züge an.
In gewisser Weise erinnert die Geschichte von drei prekären Tagedieben, die sich von Quartier zu Quartier, von Gefahr zu Gefahr durch eine undurchsichtige Erwachsenenwelt schlagen, an Abenteurerklassiker von Charles Dickens oder Mark Twain. Noch viel frappierender aber wirkt sie wie auf die gegenwärtige Lage in Europa abgestimmt: Klaukinder, Menschenhandel, entwurzelte Migranten, Helfer und Profiteure. Die Szenerie besteht aus Standardelementen unseres Großstadt-Alltags: Supermärkte, Müllcontainer, U-Bahn, Internet. Doch die deutliche, bereits im Titel angelegte Verquickung mit uralten Märchenelementen (die gute Fee, die böse Hexe, der Zauberwald, Wanderschaft, Prüfungen, Beschützer und Erretter, Gut und Böse, Dingsymbole) enthebt sie der Tagesaktualität. Die Anonymisierung der Orte und Figuren (man weiß nicht, woher sie kommen, wohin sie ziehen werden, sie können verschleppte Romakinder oder Kriegsflüchtlinge sein) macht sie austauschbar, lässt sie für viele andere Betroffene stehen, verweist auf das Existenzielle von Yizas Situation und Werdegang.
Seltsamerweise geht die Erzählung aber nicht unter die Haut. Sie bleibt im Kopf, nicht im Herzen. Zum einen sorgt der restringierte, spröde Sprachstil für eine kühle Atmosphäre. Der allwissende Erzähler beschränkt sich auf das minimale Sprachpotenzial (Basiswortschatz, Kernsätze, Fragmente und Ellipsen) eines Kindes mit einfachem, fatalistischem Weltbild und verzichtet damit auf die Möglichkeiten, die ihm beispielsweise der Stil von Volks- oder Kunstmärchen geboten hätte (zwar auch schlicht, aber auf ›erwachsene‹ Weise auf Effekte hin geformt). Zum anderen nimmt keine einzige Figur eine runde menschliche Gestalt an. Die meisten sind als »Frau«, »Mann«, »Freund« etikettierte austauschbare Chiffren, nur wenige erhalten Namen. Solche Schattengestalten, ziemlich blutleer und seelenlos, schaffen Distanz zum Nachdenken und spiegeln unsere eiskalte, abweisende Gesellschaft wider, lassen aber halt auch kaum Empathie zu. Eine eigenartig karge, kühle Poesie prägt den Text.
Gegen Ende lässt der Autor die kleine Yiza in die Zukunft träumen. Sie würde Arian heiraten, von ihm umsorgt und beschützt werden. Er träumt davon, einmal bei einem wichtigen Fußballspiel ein Tor zu schießen und von allen Zuschauern bejubelt zu werden. Als Ehepaar, so versprechen sich Yiza und Arian, wollen sie einander »jeden Tag loben«.
Die Ermunterung, den Mitmenschen zu loben, ist eine der subtilen Botschaften, die dieses Büchlein an den Leser richtet. Sie ist freundlich und bedenkenswert, aber leider von eher peripherer Wirkkraft in einer Gesellschaft, die die Menschen hauptsächlich nach Leistungsfähigkeit und Produktivität bewertet und schon ihre Kinder auf Effizienz trimmt. Yiza verweist auf den Extremfall dieser Entwicklung: Kinder, denen Kriminelle Kindheit und Menschsein rauben, damit sie als seelenlose Apparate Geld einsammeln.