Rezension zu »Feldpost« von Mechtild Borrmann

Feldpost

von


Ein alter Koffer legt die Spur zu einer dunklen Geschichte vor dem Krieg. Die Doktrin des Nazi-Staates zerreißt die Freundschaft zwischen zwei Familien und verbietet die Liebe zwischen zwei jungen Männern. In kleinen Schritten beseitigt der Staat Andersdenkende und zementiert seine Macht.
Belletristik · Droemer · · 304 S. · ISBN 9783426281802
Sprache: de · Herkunft: de

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Verbotene Liebe

Rezension vom 09.04.2023 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Eine eigenartige, wie zufällig erscheinende Begegnung führt gegen Ende des Jahres 2000 die Anwältin Cara Russo auf eine dünne Spur in die düstere Ver­gangen­heit des »Dritten Reiches«. Ihr wird ein alter Akten­koffer voller Papiere zuge­steckt, darunter ein ver­schnür­ter Stapel Briefe, die alle an eine »Adele Kuhn« adres­siert sind. Auf vielen ist ein ver­blass­ter roter Stempel­aufdruck zu erkennen: »Feldpost«. Cara Russos Neugier ist geweckt: Wer war Adele, was wurde aus ihr, lebt sie noch, und wenn ja, wo?

Nach dem Eingangskapitel mit dem ersten Teil der Rahmen­hand­lung springen wir zur Haupt­hand­lung in eine andere Zeitebene, das Jahr 1935. Da leben in Kassel zwei mitein­ander befreun­dete Familien. Gerhard und Katharina Kuhn bewohnen mit ihren beiden Kindern Adele (15) und Albert (16) eine noble Villa auf der Wilhelms­höhe. Der Familien­vater ist ein ange­sehe­ner Unter­nehmer, er leitet eine florie­rende Spedition. Hermann und Sophia Martens leben in der Stadt­mitte. Auch sie haben zwei Kinder, Dietlind (15) und Richard (17). Auch der Apotheker Martens ist ein ange­sehe­ner Bürger, der sich in der städti­schen Politik engagiert. Er hat den Orts­verband der NSDAP mitge­gründet und vertritt die Partei als Ratsherr.

Seit einem Meinungsstreit haben sich die Bezie­hun­gen zwischen den Erwach­senen abgekühlt. Nachdem Gerhard in seiner offenen Art zu reden die aktuelle Entwick­lung als »Rückfall in die Barbarei« be­zeich­net hatte, warnte ihn Hermann, seine Ansichten über die Braunen im Zaum zu halten. Eine privat geäußerte Meinung, die einer gewissen Gruppe von Menschen missfällt, löst also schon deren Drohung vor ernsten Kon­sequen­zen aus – der Unrechts­staat ist nah.

Es bleibt nicht bei Worten. Kurze Zeit später wird Gerhard wegen »ver­leum­deri­scher Äuße­rungen gegen Führer und Reich« zum Verhör abgeholt und für zwei Tage einge­sperrt. Nun ist er bereits als Volks­feind abge­stem­pelt. und muss peu à peu elimi­niert werden. Die Behörden, längst unter Partei­kuratell gleich­ge­schaltet, beschlag­nahmen seine LkWs für die an­stehen­den »Reichs­krieger­tage«, und als er sich zu wehren versucht, holt man ihn ohne Begrün­dung direkt aus seinem Büro ab. Wegen »Sabotage« wird er für zwei Jahre einsitzen, seine Firma samt Geschäfts­konten werden konfis­ziert.

Während die Erwachsenen in ihren politischen Über­zeugun­gen zu Feinden werden, vertiefen ihre Kinder ihre Freund­schaft noch und geben einander während dieser schweren Zeit Halt. Nur Dietlind distan­ziert sich, und Richard und Adele werden mit persön­lichen Problemen konfron­tiert. Adele schwärmt für Richard, fühlt ihre Liebe erwidert und ahnt nicht, was es damit auf sich hat, als ihr Ange­bete­ter ihrem Bruder einen Kuss gibt. Erst sehr viel später wird ihr bewusst, wie tief die Beziehung zwischen den Jungen ist. Sie ist das eigent­liche thema­tische Zentrum des Romans: eine homo­sexuelle Liebe in einem Unter­drückungs­staat.

Als Vater Kuhn im Mai 1937 aus der Haft entlassen wird, gibt es keinen Grund für Zuver­sicht. Er ist vernich­tet. Arbeit wird er in Kassel nicht finden, seine krän­kelnde Ehefrau macht ihm Sorgen, und nach langen Bera­tungen im Fami­lien­kreis be­schließt man, dass die Eltern das Land verlassen, bis sich die politi­sche Lage verbes­sert. Ihre Kinder werden vorerst in Kassel bleiben, wo Adele eine Anstel­lung als Schreib­kraft in der Flug­zeug­fabrik Fieseler hat. Albert möchte nach seinem Abitur im nahen Göttingen Chemie studieren, wo sich auch Richard für ein Medizin­studium ein­schrei­ben will. Um all dies zu finan­zieren, soll die Villa verkauft werden.

Diesen Plot füllt Mechtild Borrmann mit einer Unmenge an Ereig­nissen und Über­raschun­gen zu einer prall­vollen, komplexen Erzählung. Nicht nur die Schau­plätze und die Zeit (bis 1945) wechseln mit jedem Kapitel, sondern auch die erzäh­lenden Haupt­figuren mit ihren Per­spek­tiven. Besonders reizvoll ist die Struktu­rierung des Erzähl­flusses: Der Inhalt des voran­gegan­genen Kapitels wird in Teilen wieder aufge­nommen, aber aus der neuen Erzähl­perspek­tive relati­viert, anders einge­färbt darge­stellt. Damit können bei­spiels­weise ver­schie­dene Motiva­tionen von Lügen aufge­deckt werden – was aus guten Absichten wird, was sich aus egois­tischen Ver­drehun­gen ent­wickeln kann und der­gleichen. So hält die Autorin die Spannung bis zum Schluss hoch: Was geschieht als Nächstes? Wo liegt die Wahrheit?

Die private Handlung rührt an, aber ebenso bedeutend ist die Darstel­lung der politi­schen Ent­wick­lung.

Zu Beginn der Dreißigerjahre setzten immer mehr Bürger auf eine neu erstar­kende Bewegung, die ihre Ziele geschickt als etwas »Gutes« und »Großes« für das Land anzu­preisen wusste und ent­schiede­ner auftrat als ihre zer­stritte­nen Mitbe­werber um die Macht. Doch niemand hätte sich vor­stellen können, wie rasant eine tat­kräf­tige, ziel­bewuss­te Regierung mit willigen Helfern und hoch­moder­nen Medien das Leben der gesamten Gesell­schaft und jedes Einzelnen bis ins Priva­teste hinein nach ihren radikalen Vorstel­lungen umformen würde.

Was gestern noch normal, harmlos, vergnüg­lich war, war morgen ein Ver­brechen. Ein Wort, ein Witz, der Laden um die Ecke, altver­trautes Schul­wissen war plötzlich verpönt oder verboten. Selbst­ver­ständ­liche Frei­heiten des Alltags – zu tratschen, zu schäkern, zu schimpfen, zu lieben, zu lesen, Radio zu hören – wurden zu Risiken. Auf einmal musste jeder ständig auf der Hut sein, um nicht aufzu­fallen – das könnte die Existenz kosten. Aus Freunden wurden Feinde, aus Ver­trauens­perso­nen Gesin­nungs­schnüff­ler für den Staat.

Im zweiten Teil der Rahmen­handlung führen Cara Russos Recher­chen sie bis in ihre Gegen­wart. Sie begegnet Dr. Richard Martens, der sie bei ihren Nach­for­schun­gen unter­stützt. Sein Vater hatte den Kuhns ihr Haus abge­kauft, als sie ins Ausland ziehen wollten. Das war ein zwei­schnei­diges Geschäft. Die Not der Kuhns drückte den Kauf­preis, und doch sicherte Her­mann Martens ihnen damit eine Zukunfts­perspek­tive. Aber vor allem für seine eigene Familie war die Villa auf der Wilhelms­höhe ein gutes Invest­ment. Seine Tochter Dietlind ver­brachte darin ihr ganzes weiteres Leben.

Auf weitere Überlebende treffen Russo und Dr. Martens nicht – alle Spuren verlieren sich irgend­wann, irgend­wo. So gibt es, obwohl alle Figuren auf Liebe, Zu­sammen­halt und Hoffnung setzen, am Ende der traurigen Ge­schich­te kein glück­liches Wieder­sehen.

Mechtild Borrmann schildert in ihrem Roman erneut eine hoch­bri­sante Phase unserer Historie und erzählt deren Aus­wirkun­gen auf zwei politisch konträre Familien. In den Mittel­punkt des Plots rückt sie die verbotene Beziehung zwischen zwei jungen Männern. Albert Kuhn drohen für seine »anormale Veran­lagung« vier Jahre Zuchthaus. Wenn er einer »Ent­man­nung« zustimmt, kann die Ge­fängnis­strafe auf zwei Jahre verkürzt werden. So bestimmte es der »Schwulen-Paragraf« (§ 175) des deutschen Straf­gesetz­buches seit dem 1. Januar 1872. Das Verbot (auch ein­ver­nehm­licher) homo­sexueller Hand­lungen (mit unter­schied­lichen Bestra­fungen) bestand in der DDR bis 1989, in der BRD bis 1994. Unter diesem Da­mokles­schwert konnten Homo­sexuelle ihre Liebe nur im Geheimen leben. Albert und Richard bedienen sich für ihren intimen Brief­wechsel eines Tricks: Jeder adres­siert seine »Feldpost« an Adele und drückt der vorgeb­lichen Geliebten (in Wahrheit Botin) seine tiefe Liebe und seine Hoffnung auf ein Wieder­sehen nach Kriegs­ende aus.

Für ihre fiktionale Gestaltung recherchierte die Autorin auch im Deutschen Tage­buch­archiv in Emmen­dingen. Die 1998 gegrün­dete Sammlung umfasst mehr als 25.000 persön­liche Briefe oder Tage­buch­ein­träge ganz normaler Bürger.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblings­bücher im Frühjahr 2023 aufgenommen.


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