Feldpost
von Mechtild Borrmann
Ein alter Koffer legt die Spur zu einer dunklen Geschichte vor dem Krieg. Die Doktrin des Nazi-Staates zerreißt die Freundschaft zwischen zwei Familien und verbietet die Liebe zwischen zwei jungen Männern. In kleinen Schritten beseitigt der Staat Andersdenkende und zementiert seine Macht.
Verbotene Liebe
Eine eigenartige, wie zufällig erscheinende Begegnung führt gegen Ende des Jahres 2000 die Anwältin Cara Russo auf eine dünne Spur in die düstere Vergangenheit des »Dritten Reiches«. Ihr wird ein alter Aktenkoffer voller Papiere zugesteckt, darunter ein verschnürter Stapel Briefe, die alle an eine »Adele Kuhn« adressiert sind. Auf vielen ist ein verblasster roter Stempelaufdruck zu erkennen: »Feldpost«. Cara Russos Neugier ist geweckt: Wer war Adele, was wurde aus ihr, lebt sie noch, und wenn ja, wo?
Nach dem Eingangskapitel mit dem ersten Teil der Rahmenhandlung springen wir zur Haupthandlung in eine andere Zeitebene, das Jahr 1935. Da leben in Kassel zwei miteinander befreundete Familien. Gerhard und Katharina Kuhn bewohnen mit ihren beiden Kindern Adele (15) und Albert (16) eine noble Villa auf der Wilhelmshöhe. Der Familienvater ist ein angesehener Unternehmer, er leitet eine florierende Spedition. Hermann und Sophia Martens leben in der Stadtmitte. Auch sie haben zwei Kinder, Dietlind (15) und Richard (17). Auch der Apotheker Martens ist ein angesehener Bürger, der sich in der städtischen Politik engagiert. Er hat den Ortsverband der NSDAP mitgegründet und vertritt die Partei als Ratsherr.
Seit einem Meinungsstreit haben sich die Beziehungen zwischen den Erwachsenen abgekühlt. Nachdem Gerhard in seiner offenen Art zu reden die aktuelle Entwicklung als »Rückfall in die Barbarei« bezeichnet hatte, warnte ihn Hermann, seine Ansichten über die Braunen im Zaum zu halten. Eine privat geäußerte Meinung, die einer gewissen Gruppe von Menschen missfällt, löst also schon deren Drohung vor ernsten Konsequenzen aus – der Unrechtsstaat ist nah.
Es bleibt nicht bei Worten. Kurze Zeit später wird Gerhard wegen »verleumderischer Äußerungen gegen Führer und Reich« zum Verhör abgeholt und für zwei Tage eingesperrt. Nun ist er bereits als Volksfeind abgestempelt. und muss peu à peu eliminiert werden. Die Behörden, längst unter Parteikuratell gleichgeschaltet, beschlagnahmen seine LkWs für die anstehenden »Reichskriegertage«, und als er sich zu wehren versucht, holt man ihn ohne Begründung direkt aus seinem Büro ab. Wegen »Sabotage« wird er für zwei Jahre einsitzen, seine Firma samt Geschäftskonten werden konfisziert.
Während die Erwachsenen in ihren politischen Überzeugungen zu Feinden werden, vertiefen ihre Kinder ihre Freundschaft noch und geben einander während dieser schweren Zeit Halt. Nur Dietlind distanziert sich, und Richard und Adele werden mit persönlichen Problemen konfrontiert. Adele schwärmt für Richard, fühlt ihre Liebe erwidert und ahnt nicht, was es damit auf sich hat, als ihr Angebeteter ihrem Bruder einen Kuss gibt. Erst sehr viel später wird ihr bewusst, wie tief die Beziehung zwischen den Jungen ist. Sie ist das eigentliche thematische Zentrum des Romans: eine homosexuelle Liebe in einem Unterdrückungsstaat.
Als Vater Kuhn im Mai 1937 aus der Haft entlassen wird, gibt es keinen Grund für Zuversicht. Er ist vernichtet. Arbeit wird er in Kassel nicht finden, seine kränkelnde Ehefrau macht ihm Sorgen, und nach langen Beratungen im Familienkreis beschließt man, dass die Eltern das Land verlassen, bis sich die politische Lage verbessert. Ihre Kinder werden vorerst in Kassel bleiben, wo Adele eine Anstellung als Schreibkraft in der Flugzeugfabrik Fieseler hat. Albert möchte nach seinem Abitur im nahen Göttingen Chemie studieren, wo sich auch Richard für ein Medizinstudium einschreiben will. Um all dies zu finanzieren, soll die Villa verkauft werden.
Diesen Plot füllt Mechtild Borrmann mit einer Unmenge an Ereignissen und Überraschungen zu einer prallvollen, komplexen Erzählung. Nicht nur die Schauplätze und die Zeit (bis 1945) wechseln mit jedem Kapitel, sondern auch die erzählenden Hauptfiguren mit ihren Perspektiven. Besonders reizvoll ist die Strukturierung des Erzählflusses: Der Inhalt des vorangegangenen Kapitels wird in Teilen wieder aufgenommen, aber aus der neuen Erzählperspektive relativiert, anders eingefärbt dargestellt. Damit können beispielsweise verschiedene Motivationen von Lügen aufgedeckt werden – was aus guten Absichten wird, was sich aus egoistischen Verdrehungen entwickeln kann und dergleichen. So hält die Autorin die Spannung bis zum Schluss hoch: Was geschieht als Nächstes? Wo liegt die Wahrheit?
Die private Handlung rührt an, aber ebenso bedeutend ist die Darstellung der politischen Entwicklung.
Zu Beginn der Dreißigerjahre setzten immer mehr Bürger auf eine neu erstarkende Bewegung, die ihre Ziele geschickt als etwas »Gutes« und »Großes« für das Land anzupreisen wusste und entschiedener auftrat als ihre zerstrittenen Mitbewerber um die Macht. Doch niemand hätte sich vorstellen können, wie rasant eine tatkräftige, zielbewusste Regierung mit willigen Helfern und hochmodernen Medien das Leben der gesamten Gesellschaft und jedes Einzelnen bis ins Privateste hinein nach ihren radikalen Vorstellungen umformen würde.
Was gestern noch normal, harmlos, vergnüglich war, war morgen ein Verbrechen. Ein Wort, ein Witz, der Laden um die Ecke, altvertrautes Schulwissen war plötzlich verpönt oder verboten. Selbstverständliche Freiheiten des Alltags – zu tratschen, zu schäkern, zu schimpfen, zu lieben, zu lesen, Radio zu hören – wurden zu Risiken. Auf einmal musste jeder ständig auf der Hut sein, um nicht aufzufallen – das könnte die Existenz kosten. Aus Freunden wurden Feinde, aus Vertrauenspersonen Gesinnungsschnüffler für den Staat.
Im zweiten Teil der Rahmenhandlung führen Cara Russos Recherchen sie bis in ihre Gegenwart. Sie begegnet Dr. Richard Martens, der sie bei ihren Nachforschungen unterstützt. Sein Vater hatte den Kuhns ihr Haus abgekauft, als sie ins Ausland ziehen wollten. Das war ein zweischneidiges Geschäft. Die Not der Kuhns drückte den Kaufpreis, und doch sicherte Hermann Martens ihnen damit eine Zukunftsperspektive. Aber vor allem für seine eigene Familie war die Villa auf der Wilhelmshöhe ein gutes Investment. Seine Tochter Dietlind verbrachte darin ihr ganzes weiteres Leben.
Auf weitere Überlebende treffen Russo und Dr. Martens nicht – alle Spuren verlieren sich irgendwann, irgendwo. So gibt es, obwohl alle Figuren auf Liebe, Zusammenhalt und Hoffnung setzen, am Ende der traurigen Geschichte kein glückliches Wiedersehen.
Mechtild Borrmann schildert in ihrem Roman erneut eine hochbrisante Phase unserer Historie und erzählt deren Auswirkungen auf zwei politisch konträre Familien. In den Mittelpunkt des Plots rückt sie die verbotene Beziehung zwischen zwei jungen Männern. Albert Kuhn drohen für seine »anormale Veranlagung« vier Jahre Zuchthaus. Wenn er einer »Entmannung« zustimmt, kann die Gefängnisstrafe auf zwei Jahre verkürzt werden. So bestimmte es der »Schwulen-Paragraf« (§ 175) des deutschen Strafgesetzbuches seit dem 1. Januar 1872. Das Verbot (auch einvernehmlicher) homosexueller Handlungen (mit unterschiedlichen Bestrafungen) bestand in der DDR bis 1989, in der BRD bis 1994. Unter diesem Damoklesschwert konnten Homosexuelle ihre Liebe nur im Geheimen leben. Albert und Richard bedienen sich für ihren intimen Briefwechsel eines Tricks: Jeder adressiert seine »Feldpost« an Adele und drückt der vorgeblichen Geliebten (in Wahrheit Botin) seine tiefe Liebe und seine Hoffnung auf ein Wiedersehen nach Kriegsende aus.
Für ihre fiktionale Gestaltung recherchierte die Autorin auch im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Die 1998 gegründete Sammlung umfasst mehr als 25.000 persönliche Briefe oder Tagebucheinträge ganz normaler Bürger.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2023 aufgenommen.