Tod nach der Bescherung
Wenn am Weihnachtsbaume die Lichter brennen, muss das Familienfest schlechthin noch lange nicht unter einem guten Stern stehen. Die lieben Verwandten finden (oder raufen) sich zusammen, um für ein paar Stunden traute Harmonie zu wahren, zu schlemmen, Geschenke auszutauschen und möglichst ohne größere Blessuren wieder ihrer Wege zu gehen.
Bei den Melburys aber kommt etwas Schreckliches dazwischen. Sir Osmond Melbury, 66, hat seine ganze Familie auf den Landsitz Flaxmere bei Bristol geladen, um das Fest der Tradition gemäß mit Gottesdienst, Festmahl und Bescherung am Lichterbaum zu zelebrieren. Auch Santa Klaus (Sir Osmond legt Wert auf das etymologisch korrekte »K« aus »Nikolaus«) wird anreisen und allen, die Dienstboten eingeschlossen, ein Geschenk bringen. Leider wird der Patriarch die Feiertage nicht überleben.
Was dahinter steckt und was sich daraus ergibt, das erzählt die englische Autorin Mavis Doriel Hay (1894-1979) in ihrem Krimi »The Santa Klaus Murder« . Der erschien 1936 und wurde in Großbritannien schon vor vier Jahren neu aufgelegt. Barbara Hellers deutsche Übersetzung führt jetzt Klett-Cottas Reihe klassischer Weihnachtskrimis in hübscher Aufmachung (Leinen, Lesebändchen) fort, die 2016 mit »Geheimnis in Weiß« von Joseph Jefferson Farjeon [› Rezension] begann und sicher mit Geheimnissen in weiteren Farben des Regenbogens fortgesetzt wird.
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Gleich zu Anfang des Romans lässt die Autorin den Senior kurz und schmerzlos dahinsinken. Kein schmückendes Beiwerk, keine blutigen Details verstellen die Tatsache, dass ein Pistolenschuss in Sir Osmonds Stirn ihn am Abend des Ersten Weihnachtstages niederstreckt. Motive für die Tat kommen alsbald genug ans Licht, der Kreis der Verdächtigen ist klein, doch wer von ihnen hat den Schuss abgefeuert?
Seit dem frühen Tod seiner Ehefrau stand Sir Osmond seine Schwester Mildred mit Rat und Tat zur Seite. Sie kümmerte sich um seinen Sohn und die drei Töchter. Beider wichtigstes Anliegen war, die Kinder standesgemäß zu verheiraten. Doch die Zeiten geräuschlos arrangierter Ehen waren vorüber. Schon Hilda, die Älteste, mochte sich nicht fügen, und Jennifer, die Jüngste, verweigerte sich Oliver Wiscombe, dem Favoriten ihres Vaters, um geduldig zu warten, bis sie den brotlosen Schriftsteller Philip heiraten kann.
Nachdem Sir Osmond einen Schlaganfall erlitt, verschlechterte sich sein Zustand unübersehbar, und im Hause Melbury kam es zu bemerkenswerten Umbrüchen. Chauffeur Ashmore, seit vielen Jahren ebenso zuverlässig wie die alte Daimler-Limousine, wurde samt dem Automobil gegen einen jungen Fahrer mit schnittigem Sunbeam ausgetauscht. Selbst Tante Mildred wurde verbannt. Eine hübsche junge Sekretärin füllte die Vakanz und avancierte zügig zur rechten Hand des Hausherrn.
Als die jüngere Generation mit Kind und Kegel auf Flaxmere eintrudelt, schwebt noch Mildreds Lebensweisheit aus alten Zeiten über dem Haus (»Familien, die einmal auseinandergebrochen sind, sollten auch getrennt bleiben ... alle wieder in der glücklichen Familienatmosphäre vereinen zu wollen, die man als Kind genossen hat, ist meiner Ansicht nach ein Fehler.«), aber hören kann sie keiner mehr. Sonderlich gut verstehen sich die Paare untereinander nicht, doch was sie im Inneren eint, ist das Ansinnen, dem Familienoberhaupt »den Tod zu wünschen«, und alle treibt um, was aus dem ansehnlichen Erbe wird. Wie hat Sir Osmond seinen Reichtum unter seinen Lieben verteilt? Oder hat er in einem plötzlichen Sinneswandel alles der rassigen Rothaarigen im Büro vermacht?
Oliver Wiscombe, der bei der Zeremonie den Santa Klaus gab, entdeckt nach seinem Auftritt den Leichnam im Arbeitszimmer. Rasch ist Colonel Halstock zur Stelle, um die Ermittlungen zu übernehmen. Der Nachbar und Freund des Dahingeschiedenen rechnet mit einer zügigen Aufklärung, doch jede Befragung kompliziert den Fall. Keiner hat etwas beobachtet, jeder findet ein paar Kleinigkeiten einer Erwähnung nicht wert, und alle sind sich einig, dass man Familien-Interna nicht nach außen tragen sollte.
Aber Colonel Halstock ist hartnäckig. Unbeirrbar verfolgt er seine Strategie, bis er sich durch das Labyrinth der Aussagen hindurchgerätselt hat und am Ende erkennt, wer seinen Freund auf dem Gewissen hat. Für uns Leser mögen sich ein paar Längen und Wiederholungen ergeben, wenn jede Situation aus Sicht mehrerer Personen geschildert wird. Andererseits liegt gerade hierin der intellektuelle Reiz von Krimis nach dem klassischen Whodunit-Prinzip. Es sind die spitzfindigen Unterschiede in den Aussagen, die uns das Mitraten ermöglichen und das Erfolgserlebnis verschaffen, mit dem Ermittler gleichzuziehen.
Reizvoll an diesem weihnachtlichen Krimi ist außerdem der Charme der vergangenen Epoche. Der Landsitz, das feine Interieur, gepflegte Manieren, süffisante upperclass-Konversationen, diskret seine Dienste verrichtendes Personal und ein bisschen Auflehnung gegen starre Konventionen – all das kann man genießen und/oder sich darüber amüsieren. Dem Charakter des Festes der Liebe entsprechend müssen Blutrünstigkeit, Action und Psychoterror draußen bleiben – dass gemordet wird, ist schon frivol genug für eine Lektüre unterm Tannenbaum.