Il Commissario Ricciardi: Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme
von Maurizio de Giovanni
Übersicht über die Kriminalromane und Fernsehfilme
Ein Gentleman-Kommissar in den Dreißigerjahren
»Il commissario Ricciardi« ist eine Reihe von Kriminalromanen des Autors Maurizio de Giovanni (1958 in Neapel geboren). Auf deren Grundlage und unter dem gleichen Titel strahlte RAIuno im Frühjahr 2021 und 2023 eine Fernsehserie aus, deren erste Staffel sechs, deren zweite Staffel vier Episoden umfasst. (Für den deutschsprachigen Raum wurde sie noch nicht synchronisiert.).
Die historische Situation – Die Hauptfigur – Das Team – Die Frauen – Die Fernsehserie – Liste aller Romane – Liste aller Fernsehfilme
Die historische Situation
Die Romane und Fernsehfilme spielen im Neapel der frühen 1930er Jahre. Da saß der italienische Faschismus schon fest im Sattel und arbeitete daran, seine Macht zu stabilisieren und jede Opposition auszuschalten. Benito Mussolini war seit 1922 Ministerpräsident des Königreichs Italien, seit 1925 Duce del Fascismo und Regierungschef. In den Büchern und Filmen wird die politische Lage und Entwicklung explizit kaum erläutert oder greifbar (nicht annähernd mit »Babylon Berlin« vergleichbar), die Atmosphäre aber spürbar und gelegentlich von den Figuren thematisiert. Ein Agent der Geheimpolizei OVRA, der in den Handlungsgang involviert ist und einige Charaktere unter Druck setzt, repräsentiert die Unterdrückungsmacht am konkretesten.
Ricciardi selber steht dem Faschismus kritisch gegenüber (ohne dass seine Einstellung näher differenziert würde) und macht daraus auch kein Hehl, etwa gegenüber seinem linientreuen Vorgesetzten. Aber als Widerständler tritt er nicht in Erscheinung. Offensichtlich versucht er, vor allem nicht weiter aufzufallen, um seine Arbeit, Kapitalverbrechen aufzuklären, erfolgreich tun zu können. Sein geschätzter Freund Bruno Modo, der medico legale, nimmt dagegen kein Blatt vor den Mund, riskiert Kopf und Kragen und wird sogar ins Gefängnis gesteckt. Immer wieder hält Ricciardi ihn deshalb zur Mäßigung an.
Sehr deutlich wird, wie Machtausübung, Korruption, Vetternwirtschaft, Bedrohung und Gewalt ein immer engmaschigeres Netz über das Alltagsleben legen. Wir sehen faschistische Gruppen, die laut und aggressiv auftreten und missliebige Bürger, die sich kritisch geäußert haben, einschüchtern und konkret bedrohen. Ricciardis Vorgesetzter, vicequestore Angelo Garzo, nimmt jede Gelegenheit wahr, von den Ruhmestaten des Duce zu raunen, seine exquisiten Beziehungen nach oben herauszukehren und faschistische Glaubenssätze zu referieren. Nicht nur, dass er sich dadurch als kriecherischer Karrierist entblößt; er kann mit seinem Gehabe auch nicht gegen einen aufrechten Ehrenmann wie Ricciardi bestehen.
Die Hauptfigur
Luigi Alfredo Ricciardi ist commissario bei der Mordkommission in Neapel. Einem solchen Broterwerb nachzugehen hätte er gar nicht nötig, denn er ist einziger Stammhalter der Barone von Malomonte (einem fiktiven Ort im Cilento). Er wurde am 1. Juni 1900 geboren, sein Vater verstarb früh, und er verlor im Kindesalter auch seine innig geliebte Mutter, eine Opernsängerin von chronisch angeschlagener Gesundheit. Bis zu deren Tod stand ihr die treue Haushälterin Rosa Vaglio zur Seite, danach betrachtet es Rosa als ihre Lebensaufgabe, den nunmehr verwaisten Jungen zu erziehen und zu versorgen, und sie verwaltet auch seine Einkünfte aus den Landgütern. Als Ricciardi in eine komfortable Wohnung in Neapel zieht, um Jura zu studieren, folgt sie ihm, führt weiterhin seinen Haushalt, serviert ihm ein sorgsam zubereitetes Abendessen und kommt zuverlässig all ihren Pflichten nach, auch nachdem er nach glänzend bestandenem Examen der Squadra mobile della Regia Questura beitritt.
Ricciardi ist ein zurückhaltender, introvertierter, von Natur aus sanfter Mensch, der eigentlich niemanden um sich herum braucht oder wünscht. Sein Auftreten ist stets korrekt und elegant, aber unauffällig (meist trägt er über dem Anzug einen offenen grauen, knielangen Mantel). Dank seiner Erziehung, seiner Bildung und seines unabhängigen, geradlinigen Charakters weiß er sich in jeder Umgebung angemessen zu verhalten und seine Ziele zu verfolgen, ohne sich jemals zu verbiegen. Das gilt für festliche Bälle in höchsten Kreisen ebenso wie angesichts neugieriger oder aggressiver Gaffer, wo er sich mit wenigen deutlichen Worten Respekt verschaffen kann. Mit seinem markanten Gesicht, dem melancholischen Blick aus grünen Augen, den dichten schwarzen Haaren, die er nach der Mode der Zeit nach hinten bürstet und mit Brillantine fixiert, ist er ein attraktiver Mann. Vor allem, wenn ihn Sorgen bewegen, fällt ihm eine widerspenstige Haarlocke in die Stirn, die er dann mit einer eleganten kleinen Handbewegung wieder an ihre zugedachte Stelle bannt.
Commissario Ricciardi verfügt über eine merkwürdige, einzigartige Gabe, die sich ihm schon als Junge offenbarte. Am Ort eines unnatürlichen Todes erscheint ihm der Getötete oder Selbstmörder wie in einer Vision und wiederholt unentwegt den letzten Satz oder Gedanken seines Lebens. Was Ricciardi selber als bedrückenden Fluch empfindet, neutralisierend als il fatto umschreibt und als sein Geheimnis hütet, hat ihn – neben seinem Gerechtigkeitssinn – doch auch in seiner Berufswahl bestärkt und verschafft ihm bei seinen Mordermittlungen wertvolle Hinweise.
Das Team
Als einzelgängerischer Typ ist Teamgeist keine Stärke des commissario Ricciardi. Er löst seine Fälle eher mit Hilfe seiner Intelligenz, seiner Intuition und seiner Gabe. Nur zwei Personen spielen bei seiner Arbeit regelmäßig eine hilfreiche Rolle, und die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein:
Bruno Modo, der medico legale, ist ein ausgeprägter Individualist und Rationalist, eigenwillig, furchtlos, sorglos und mit einer Neigung zum Sarkasmus – eine Kombination, mit der er sich des öfteren politische Scherereien einhandelt. Seine Analysen sind wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und akribisch, und er trägt sie Ricciardi, eher philosophisch-musisch veranlagt, gern mit der leicht arroganten Selbstgewissheit des kompetenten Naturwissenschaftlers vor. Trotz der Verschiedenheit ihrer Charaktere schätzen die beiden einander und stehen füreinander ein. Oft treffen sie sich zu einem kleinen mittäglichen Imbiss im feinen Caffè Gambrinus an der Piazza del Plebiscito.
Ganz anderer Natur ist der brigadiere Raffaele Maione, treuer Begleiter des commissario und seine rechte Hand. Er ist schon etwas älter, aber ebenso ernsthaft und diszipliniert wie Ricciardi, trägt stets eine makellos gepflegte Uniform und ist darin eine stolze und eindrucksvolle Erscheinung. Während die beiden an einem Tatort recherchieren, sich in einer aufgewühlten Menschenmenge Orientierung verschaffen oder von ihrem herrischen Vorgesetzten instruiert werden, werfen sie sich vielsagende Blicke zu und brauchen keine Worte, um einander zu verstehen. Maiones bedingungslose Loyalität Ricciardi gegenüber wurzelt darin, dass der commissario einst den Mord an Maiones Erstgeborenem, dem jungen Polizisten Luca, aufklären konnte.
Maione obliegt es insbesondere, bei den einfachen Leuten in den engen Gassen, wo die Gerüchte sich mit Schallgeschwindigkeit verbreiten, die Ohren aufzuhalten. Er wohnt mit Frau und etlichen Kindern (die materiellen und emotionalen Sorgen in seiner Familie belasten ihn häufig) selber mitten in den Quartieri Spagnoli, kennt dort alles und jeden und ist eine respektierte Autorität.
Eine wertvolle Quelle für Maione ist Bambinella, ein »femminiello« , der sich gern in rätselhaften Andeutungen ergeht, bis Maione ihn mit groben Worten zum Klartext treibt. (Ein solch greller femminiello mag für uns als befremdliche Figur erscheinen, in Neapel hat sie aber eine lange Tradition und genießt bei den ›kleinen Leuten‹ auch heute noch allgemeine Anerkennung als Glücksbringer und ernst zu nehmender Berater in Fragen der Lebensführung, der Kindererziehung, der Gesundheit und dergleichen.)
Von Ricciardis Beziehungen zu seinen Kollegen im Kommissariat erfahren wir nichts. Da er als vollständig unabhängiger, freier Geist keinerlei Karriereambitionen hat, kommt er niemandem in die Quere, und seine ernste Wesensart hält ohnehin jeden Fremden auf Distanz. Sein Chef, vicequestore Angelo Garzo, weiß seine verlässlich gute Polizeiarbeit zu schätzen, solange er sich (vermeintlich) unterordnet und ihn die Lorbeeren einstreichen lässt. Was ihm aber immer wieder gegen den Strich geht und Anlass für manche Standpauke gibt, ist Ricciardis angeblicher Mangel an Respekt und Feinfühligkeit, wenn ihn seine Ermittlungen in die ›besseren Kreise‹ des Adels, des Reichtums, der Politik führen, wo Garzo zu gerne mitspielen möchte.
Die Frauen
Obwohl Ricciardi die Aufmerksamkeit vieler Frauen auf sich zieht, hindern ihn seine verstörende Gabe und seine emotional schwierige Verfassung, sich auf feste Beziehungen einzulassen.
Nach seiner früh verstorbenen Mutter ist die Haushälterin Rosa Vaglio die wichtigste Frau in seinem Leben. Doch je älter und schwächer sie wird, desto angespannter wird das Verhältnis zwischen den beiden. Rosa spürt ihr Ende nahen und sorgt sich, wie der signorino ohne sie sein Leben führen könne, ahnungslos in allen praktischen Angelegenheiten und ohne eine tüchtige Ehefrau in Sicht. So oft sie das Thema anschneidet, in Andeutungen oder mit Nachdruck, verwahrt er sich ungehalten gegen die Einmischung und lässt gar sein Abendessen unangetastet hinter sich. Kurz bevor es zu spät ist, holt Rosa ihre junge Nichte Nelide, ein schlichtes, aber tüchtiges Mädchen aus dem Heimatdorf im Cilento, ins Haus, lehrt sie als erstes richtiges Italienisch und ihr Mundwerk zu zügeln und weiht sie in alle Tätigkeiten und Gepflogenheiten ein, mit denen sie als ihre Nachfolgerin vertraut sein muss.
Eine asymmetrische Beziehung unterhält Ricciardi mit der bildschönen Opernsängerin Livia Lucani. Er lernte sie kennen, als er den Mord an ihrem Ehemann Arnaldo Vezzi, weltweit gefeierter Tenor und Freund des Duce, zu untersuchen hatte und sie in den Kreis der Verdächtigen geriet, zumal sie in ihrer Ehe mit Vezzi, für den sie ihre eigene Karriere aufgegeben hatte, unglücklich war. Bald kehrt die Witwe aus Rom in ihre Heimat Neapel zurück, führt dort ein glamouröses Leben und tut alles, um Ricciardi für sich zu gewinnen. Doch obwohl es zu zärtlichen Begegnungen kommt, verweigert er sich einer festen Bindung, und Livias Nähe zu faschistischen Kreisen (sie ist eng befreundet mit Edda Ciano, Mussolinis ältester Tochter) kompliziert die Beziehung obendrein.
Anlässlich eines anderen Falls lernt Ricciardi die sieben Jahre jüngere Enrica Colombo kennen und entflammt gleich beim ersten gegenseitigen Blickkontakt für sie. Es stellt sich heraus, dass Enrica mit ihren Eltern gegenüber von Ricciardi auf der anderen Seite der Gasse wohnt, und die beiden werfen einander immer wieder ein scheues Lächeln zu, wenn sie einander hinter den Fenstern entdecken. Im Übrigen behalten beide ihre Zuneigung als Geheimnis für sich. So erfahren weder Rosa noch Livia noch Enricas Eltern etwas davon, aber auch die beiden zart Verliebten öffnen sich einander nicht. Auch diese Beziehung bleibt damit vorerst unerfüllt. Eine Weile macht ihr ein deutscher Wehrmachtsoffizier den Hof, doch endlich gesteht ihr Ricciardi, was ihn innerlich bewegt, und es gelingt den beiden, die Hindernisse, die ihrem Glück entgegenstehen, zu überwinden.
Während alle anderen Rollen sehr passend besetzt und mit all ihren Brechungen überzeugend gespielt sind, verformt die Regie die Enrica-Darstellerin (Maria Vera Ratti) leider zu einer übertrieben gespaltenen, geradezu pubertären Persönlichkeit: Ihren Eltern, die sie immer wieder bedrängen, sich endlich einen Ehemann zu sichern, begegnet sie barsch und forsch und selbstbewusst, bei Rosa schäumt sie über vor kindlich-naiver Herzlichkeit, gegenüber Ricciardi aber ist sie komplett verhuscht und verschämt. (In Staffel 3 der »Bastardi di Pizzofalcone« darf sie sich natürlicher benehmen und gibt sehr souverän eine toughe Kommissarin.)
Die Fernsehserie
»Il commissario Montalbano«, »I Bastardi di Pizzofalcone«, »Commissario Ricciardi«, »Rocco Schiavone«, »Le indagini di Lolita Lobosco«, »Imma Tataranni«: Warum italienische Fernsehserien wie diese in Deutschland so wenig Anklang finden, ist mir angesichts der Beliebtheit Italiens als Urlaubsland rätselhaft. Beispielsweise wurden von »Il commissario Montalbano« in über zwanzig Jahren 37 Folgen hergestellt und in viele Länder verkauft, aber das ZDF synchronisierte nur die ersten vier, obendrein lustlos, und strahlte sie zu nächtlicher Stunde aus. (Dank des österreichischen Privatsenders ServusTV sind inzwischen 26 Folgen auf DVD erhältlich.)
Man mag allerlei bekritteln, etwa das Frauenbild, das nicht so recht ins nordeuropäische passt, auch die durchweg konventionelle Filmsprache, in der Experimente wie hektische Schnitte fehlen, oder dass soziale Fragen nicht im Vordergrund thematisiert werden (sehr wohl aber die Handlung prägen können). Andererseits sucht man in den RAI-Produktionen vergeblich nach Brutalitäten und expliziten Sexszenen, wie sie »Tatort«, »Polizeifunk« und dergleichen dem Publikum alltäglich schonungs- und bedenkenlos vor Augen führen. Stattdessen reizen die Italiener oft genüsslich die ästhetischen Trümpfe ihrer Schauplätze aus, so dass das Fernseh-Erlebnis durchaus etwas von Urlaub vermitteln kann. Und die Protagonisten (m/w) quälen sich selbst, gegenseitig und die Zuschauer nicht mit ihren persönlichen Be- und Empfindlichkeiten, sondern treten als runde Charaktere mit Stärken und Schwächen auf, die einander akzeptieren und respektieren. Es geht schließlich um Unterhaltung des Publikums, nicht um dessen psychosoziale Erziehung.
Interessieren Sie sich für die Originalversionen in italienischer Sprache? Dann stellen Sie sich auf eine Art Rodeo ein. Eine perfekte Beherrschung des Italienischen ist gar nicht nötig, aber ein gutes Ohr und viel Erfahrung, Italienern im Alltag zuzuhören. Oft genügt ja ›island hopping‹, d.h. von einem verstandenen Passus zum nächsten zu hüpfen, auch wenn zwischendrin eine Lücke bleibt. Wenn erwünscht, kann man überdies Untertitel aktivieren, zurückspulen, die Abspielgeschwindigkeit reduzieren, und Sie werden staunen, wie viel mehr Sie nach ein paar Stunden mitbekommen. Das gilt selbst bei Dialekten wie Camilleris Sizilianisch oder den gelegentlichen Neapolitanisch-Einsprengseln der »Bastardi«. Alles hängt natürlich davon ab, wie gut die Aussprache der Schauspieler ist. Bei »Rocco Schiavone« hat man die größten Probleme (und zwar mit der gesamten Mannschaft!), bei den »Bastardi« kommt man zurecht, »Montalbano« und »Ricciardi« sind in dieser Hinsicht gut.