Kleine und große Helden
In Italien ist Maurizio de Giovannis Krimi-Reihe über das ungewöhnliche neapolitanische Kommissariat Pizzofalcone bereits auf sechs Bände angewachsen. Sie fanden großen Anklang bei den Lesern im In- und Ausland und wurden für das Fernsehen verfilmt (im Frühjahr 2017 auf RAI erstmals ausgestrahlt). Ihr Erfolg beruht wohl nicht zuletzt darauf, dass im Mittelpunkt nicht nur ein Protagonist in seiner Auseinandersetzung mit einem oder mehreren Widersachern steht, sondern ein ganzes Team, das parallel mehrere Fälle abarbeiten muss. Man kauft also, wenn man das so sehen will, gleich einen ganzen Strauß von Krimiplots ein und wird abwechslungsreich unterhalten wie in einem Magazin.
Überdies sind die »bastardi« von Pizzofalcone alles andere als normale Polizisten. Vielmehr ist ihr Kommissariat eine Art Strafkolonie für sechs »gefallene Gesetzeshüter«, denen man eine letzte Chance zur Rehabilitierung eingeräumt hat. Jedes Mitglied in diesem versprengten Häuflein trägt an Fehlern in seiner dunklen Vergangenheit, hat charakterliche Schwächen, leidet unter besonderen familiären Problemen, neigt zu knapp neben der Spur laufenden Verhaltensweisen. Die anderen Reviere in Neapel geben ihnen keine Chance und beobachten das Experiment mit Häme und Misstrauen.
Im soeben auf Deutsch erschienenen dritten Band hat die Mannschaft bereits erste Bewährungsproben bestanden und sich auch untereinander zu einem gut funktionierenden Team zusammengerauft. Man frotzelt, nimmt den anderen auf den Arm, nennt sich beim Spitznamen, akzeptiert aber inzwischen die Eigenarten der anderen, die sich auch als Vorzüge erweisen können.
Nachtrag im Mai 2021: Was es mit der Truppe der »Ausgestoßenen« auf sich hat, erfahren Sie mit vielen Hintergrundinformationen in meiner Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme von Maurizio de Giovanni.
Für Neueinsteiger der Reihe stellt der Autor sein Team anfangs kurz vor. Doch dann hält sich das private Beziehungstrara mit seinen vielfältigen Problemkreisen wohltuend im Hintergrund – zugunsten der kriminalistischen Ermittlungsarbeit in drei Fällen.
Während eines Schulausflugs ist ein Zehnjähriger entführt worden. Nicht irgendeiner, sondern Edoardo, einziger Enkel eines stinkreichen Geschäftsmannes und einziges Familienmitglied, das er seiner Zuneigung für würdig befindet. Eine gigantische Lösegeldforderung folgt auf dem Fuß, aber für »Dodo« ist der Großvater bereit, sein letztes Hemd herzugeben. Früh ahnt der routinierte Krimileser, wer das Geld am nötigsten braucht …
Während die Kollegen Aragona und Romano aus der zweiten Reihe diesen dramatischen Fall übernehmen, sind Top-Ermittler Lojacono und Kollegin Alex Di Nardo zu einem seltsamen Wohnungseinbruch gerufen worden. Da ist jemand in eine ungesicherte Wohnung hineinspaziert, derweil deren Besitzer auf Ischia weilten. Die Umstände sind befremdlich: die Alarmanlage ausgestellt, die Tür nicht aufgebrochen, in der Wohnung geordnetes Chaos. Von den einladenden Wertsachen – Silber, Schmuck, Gemälde – wurde nichts beschädigt oder gestohlen, nur der offen stehende Tresor leergeräumt. Alles halb so schlimm, scheint es, denn es sei ja »nichts von Belang« abhanden gekommen, wie der siebzigjährige Eigentümer Salvatore Parascandole mit dem »Gesichtsausdruck einer Bulldogge« versichert.
Den »Presidente« Giorgio Pisanelli treibt indessen seine Obsession um. Seine geliebte Frau Carmen ist nach einem schweren Krebsleiden von ihm gegangen, indem sie einen Cocktail aus Schmerz- und Schlaftabletten zu sich nahm. Doch trotz ihrer physischen Abwesenheit sind sich die beiden Ehegatten noch immer nah. Giorgio spricht mit der Verstorbenen, auch über die vielen anderen Selbstmorde im Viertel, denn der Polizist hegt Zweifel, dass sie alle aus freien Stücken begangen wurden. Er ist überzeugt, ein »Moribunden-Mörder« gehe um, der einsamen, kranken und depressiven Menschen einen vermeintlich guten Dienst erweisen möchte. Sein nächstes Opfer könnte eine arme Witwe sein, die allein in einem tristen Kellerloch haust. Um dem unbekannten Todesengel aus seiner Fantasie zuvorzukommen, beschattet Giorgio die alte Dame auf Schritt und Tritt.
In der guten Absicht, seinen Roman literarisch über die durchschnittliche Krimikost hinauszuheben, hat sich der Autor einiges einfallen lassen. Er bereitet die verschiedenen Handlungsfäden aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf, was noch mehr Abwechslung und zusätzliche Verrätselung bringt, aber den Überblick nicht gerade erleichtert. Neben der Sichtweise der Polizisten erleben wir die der Kriminellen, und besonders eindringlich wirkt die angstvolle Innenperspektive des jungen »Dodo«, der allein in einem dunklen Zimmer gefangen ist und sich fest an die kleine Plastikfigur seines Helden Batman klammert. Als poetisches Leitmotiv installiert der Autor düstere Gedanken über die Zeit, die üblicherweise als Wonnemonat gilt: »Hütet euch vor dem Mai! … Denn der Mai in dieser Stadt weiß, wie er euch täuschen kann … Er umschlingt euch mit seinen Tentakeln, und schon denkt ihr, alles sei in bester Ordnung, alles sei wie immer. Von wegen.« Nach meinem Geschmack ist all dies des Guten zuviel, denn der Fokus verliert sich, der Plot zerfleddert, die Lektüre kann anstrengend werden.
Auch bei uns findet Maurizio de Giovannis Krimireihe ihre treuen Anhänger, nicht zuletzt, weil die Wiedererkennung des zusammengewürfelten, markanten Teams mit lauter eigenartigen Charakteren, die, jeder auf seine Weise, das Herz am rechten Fleck haben, Spaß macht. Warten wir auf die nächsten Fälle für die »bastardi« von Pizzofalcone. Was die Spannung angeht, ist freilich noch immer genügend Luft nach oben.