Rezension zu »Raumpatrouille« von Matthias Brandt

Raumpatrouille

von


Belletristik · Kiepenheuer & Witsch · · Gebunden · 176 S. · ISBN 9783462045673
Sprache: de · Herkunft: de

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Matthias – allein zu Haus

Rezension vom 16.11.2016 · 6 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

»Keiner da.« So ähnlich muss es der kleine Junge oft empfunden haben, selbst wenn das große weiße Haus nie menschen­leer war. Kiefernweg 12 im Bonner Ortsteil Venusberg, das war die Dienst­villa des Bundes­kanzlers. Sicher­heits­personal, Bediens­tete, Sekretäre, Gäste werden es rund um die Uhr bevölkert haben. Quasi nebenan wohnt Bundes­präsident Heinrich Lübke mit Frau Wilhel­mine, mit denen das Kind nach­mittags Kakao trinken darf. Doch das sind alles nicht die Leute, die ein Sieben- oder Zehn­jähriger sucht.

Jeder Fernsehzuschauer wird den Mann kennen, der mit den beiden Wörtern sein litera­risches Debüt beginnt. Matthias Brandt zählt zu den belieb­testen Schau­spielern. Seine Marken­zeichen sind eine minima­listische Mimik, ein leichtes Blitzen in den Augen, das verschmitzt oder auch heim­tückisch auf­leuchten kann, eine unauf­geregte Stimme, eine elegante, auf­rechte Erschei­nung. Er kann sich undurch­schaubar und zynisch geben, aber selbst dann noch fragil wirken.

Wahrscheinlich ist auch keinem Zuschauer entgangen, dass der Mann ein Promi­nenten­kind ist. Sein Vater Willy Brandt war Regie­render Bürger­meister von Berlin (1957-1966), SPD-Partei­vorsit­zender (1964-1987), Bundes­außen­minister (1966-1969) und Bundes­kanzler (1969-1974) und zu seiner Zeit eher um­stritten als gefeiert. Streit­punkte boten die offenere »Ver­gangen­heits­bewäl­tigung« (Kniefall-Geste von Warschau) und die neue Ostpolitik (für die er 1971 den Friedens­nobel­preis erhielt). Daneben wurde er wegen seines Privat­lebens diffamiert, sei es wegen seiner unehe­lichen Herkunft, seines Exils während des Krieges oder angeb­licher persön­licher Schwächen. Willy Brandt – soviel ist bekannt – war nicht aus so hartem Holz geschnitzt, dass all dies einfach an ihm abge­prallt wäre. Wer weiß, wie sein tagtäglicher Kummer auch den kleinen Jungen belastete, seit er im Frühjahr 1967 mit seinen Eltern am Kiefern­weg ein­ge­zogen war.

Wer glaubt, Matthias Brandt eröffne einen Schlüssel­loch­blick auf bislang unver­öffent­lichte Intimi­täten aus der Polit­promi­nenz der Sechziger­jahre, wird enttäuscht. Der Kanzler (»Vater«) tritt seltenst in Erschei­nung, Mutter Rut etwas häufiger, die beiden größeren Brüder Peter und Lars gar nicht. »Keiner da« außer dem Jüngsten?

Augenscheinlich geht es dem Autor in seinem Erstling zunächst einmal darum, seiner eigenen Befind­lich­keit in jener frühen Phase nachzu­spüren. Insofern ist seine Perspek­tive sehr persönlich und einzig­artig. Was sie für jeden Leser lesens­wert macht, ist das Grund­sätzliche darin: die Ahnung des Kindes von Ein­sam­keit, Verlassen­sein, der Notwen­digkeit, selber einen Weg finden zu müssen. Das Leben im Rampen­licht, die Privi­legien, die heraus­gehobene Position an der Spitze der Gesell­schaft spielen nur Neben­rollen.

In vierzehn Geschichten erzählt Matthias Brandt (Jahrgang 1961) von seiner Zeit als etwa sieben- bis elf­jähriger Junge. Noch ehe er anfängt, zündet er eine Nebel­kerze: »Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattge­funden.« Viele Realia der späten Sechziger­jahre erden jedoch die nach­folgen­den Texte – traditions­reiche Marken­namen (Saba, Romika), längst entsorgte Kleidungs­stücke (Nicki­pullover), Köstlich­keiten aus Kinder­tagen (Champignon­streich­käse, Tri-Top Mandarine). TV-Straßen­feger versam­meln die Familien in den Wohn­zimmern. »EWG – Einer wird gewinnen«, das Samstag­abend-Quiz mit Hans-Joachim Kulen­kampff, stimmt die Deutschen auf Europa ein, »Raum­patrouille«, die deutsche Science-Fiction-Serie, erschließt (nach der ameri­kani­schen Mond­landung am 20. Juli 1969) auch ihnen Aben­teuer im Welt­raum.

Den kleinen Matthias beeindrucken die gleichen Dinge wie seine Alters­genossen. Ein Astro­nauten­anzug (eine Art Pyjama, klebrig, luftdicht, schweiß­treibend), eine Torwart-Aus­rüstung genau wie die von Wolf­gang Kleff, ein Zauber­kasten muss her. Solche Attribute und lodernde Leiden­schaft blasen das »spillerige« Kind nur für kurze Zeit zum Helden auf, ehe es die Reali­täten akzep­tieren muss. Dem Fuß­baller fehlt das Ball­gefühl, die Zauber­show zum Geburts­tag der Mutter geht noch im Experi­mentier­stadium kläglich in Flammen auf. Aber das Bedürfnis, sich voll­ständig in andere Menschen zu ver­wandeln, sogar »mehr sie sein [zu wollen], als sie selbst es waren«, schlägt Wurzeln.

Zündeln, Tierexperimente, Halsschmerzen, Allmacht­fantasien, Tob­suchts­anfälle – alle Jungs durch­leben das so oder so. Alles normal, alles gut so. Aber bei Matthias hat die familiäre Sonder­stellung der Normali­tät das Normale geraubt. Das möchte er bei Klassen­kamerad Holger kennen­lernen. Zum Fernseh­abend auf der Couch gibt es einen großen Teller mit belegten Broten, Gläser auf Unter­setzern, man trägt Cord­schlap­pen und Trainings­anzug – ein »gran­dioser Abend«! So könnte sich auch Matthias seine Zukunft vorstellen, viel­leicht als Brief­träger wie Herr Spahr­bier bei Wim Thoelke. Warum nur haben ihm seine Eltern und das Schick­sal »alles, was das Leben lebens­wert machte«, vorent­halten?

Zweifellos ist ein Kanzler-Kind zum Außen­seiter­dasein verurteilt. Die Zäune zwischen der Welt und dem Regierungs­anwesen sind scharf bewacht, hinaus geht es nur nach Termin­ab­sprache mit Chauffeur und Be­gleitung. Worin die »Bedrohung« in der Welt da draußen besteht, dass man sie Tag und Nacht mit Maschi­nen­pistolen in Schach halten muss, kann der Junge nicht verstehen. Die Wächter sind seine Kumpel (andere gibt es im Innen­bereich nicht) und spielen mit: »Ah, der Chef himself.« »Alles roger,« bestätigt Matthias. In ihrer Wach­stube lassen sie ihn von ihrer Teewurst­stulle abbeißen. Wenn er aber mal aus­büchst und sich im Schrank versteckt, sind alle in Aufruhr, bis der Vermisste wiederge­funden ist.

Andererseits kann der jüngste Bewohner das riesige Areal ganz für sich verein­nahmen. Niemand kontrol­liert oder dirigiert ihn. »Keiner da« – freie Bahn für das Ausleben aller Fantasien, wenn er auf dem Bonanza­rad durchs Gelände kurvt. Einsam ist er da auch nicht ganz, denn er hat seinen Lieblings­hund Gabor (dessen delikate Hunde­plätzchen er heimlich knabbert), ein Meer­schwein­chen, eine Schild­kröte, auch ein Au-pair-Mädchen, eine Haus­hälterin, einen Haus­meister.

Sein Anderssein bedrängt ihn vor allem draußen, in der Schule. Keine »Anver­wand­lung« und keine »Lebens­ver­ände­rungs­klei­dung« lässt ihn zu einem ganz normalen Holger werden, geschweige denn zu einem Anführer. Wenigstens ist er kein Ansgar. Der Sohn von »Vertrie­benen« steht noch weiter abge­schla­gen in der Hack­ordnung auf dem Schul­hof. Diesen Weichling, der, obwohl älter und größer, jede Demü­ti­gung passiv über sich ergehen lässt, zu verprügeln und zu quälen, »war die ein­fachste Art, zu sein wie die anderen, und das war mein bren­nendster Wunsch«. Dass sich die beiden Outcasts am Nach­mittag heimlich im Wald treffen, Zigaretten teilen und Ansgar seine dunkelsten Geheim­nisse offen­bart, verhindert nicht das Ritual des nächsten Tages: Matthias »hob langsam die Hand«, Ansgar beginnt zu winseln ...

Die Geschichte von Ansgar ist eine der berüh­rendsten, macht der Erzähler doch kein Hehl aus seinem ziemlich erbärm­lichen Mit­macher­tum. Über­haupt schont er sich nicht. Freimütig berichtet er von seinen Schwächen, Feig­heiten, Ängsten, Scham­gefühlen, Selbst­zweifeln, seinem Versagen, jedoch ohne den Jungen bloßzu­stellen. Der gereifte Erwach­sene beschreibt ihn mit dem­selben feinen Gespür, mit dem er einst die Welt um sich herum aufnahm, sich selber beob­achtete und seine Existenz quälend hinter­fragte, bis er sie in ein »Nichts« aufgelöst hatte.

Und die Eltern? Wer könnte ihnen einen Vorwurf machen, dass die meiste Zeit »keiner da« ist? Sie werden von Wichti­gerem in Beschlag genommen. Nicht nur Matthias, auch seine Mutter scheint darüber unglück­lich. Nur in den Ferien, wenn es zu den Ver­wand­ten in »unsere eigent­liche Heimat« Norwegen geht, fällt alle Last von ihr ab. Ihre Frage, ob er sich vorstellen kann, mit ihr hier zu leben (»wir zwei, du und ich«), lässt ahnen, wie es in ihr aus­sehen mag. Den Jungen beun­ruhigt die Frage. Der Mutter zuliebe bejaht er – und hofft doch, sie meine es nicht ernst.

Die erzählten Erfahrungen mit dem »geliebten Vater« könnten den politisch Interes­sierten zum Schmunzeln verleiten, wären sie nicht so depri­mierend für das Kind, das den Preis bezahlt. Einmal besucht die ganze Familie einen Jahrmarkt. Man schleust die drei, belagert von einer Foto­grafen­meute, durch die teils applau­dierende, teils buhende Menge. An einer Losbude fängt Blitz­licht­gewitter ein, wie dem Jungen der Haupt­gewinn, ein »großer rosa Teddy­bär«, in die Arme gedrückt wird. Unbe­achtet bleibt, dass Matthias zuvor sämtliche Lose im Eimer auf­dröseln musste, bis endlich das richtige gefunden war. Ebenso muss er alleine damit fertig werden, dass man ihn mit der riesigen rosa Pein­lich­keit in sämt­lichen Jungs­kreisen blamie­ren wird. An allem, was einen Zehn­jährigen wirklich inter­essiert, geht es dann rasch vorbei. »Auf der Heim­fahrt Schweigen.« Ein anderes Mal wird ein Fahrrad­ausflug am Sonntag­morgen arrangiert. Auch hier muss Matthias erkennen, dass er nicht die Haupt­person, sondern das »Anstands­kind« ist, eine Art Puffer zwischen zwei Spitzen­politi­kern, die ein­ander spinne­feind sind. SPD-Fraktions­vorsit­zender Herbert Wehner und der Kanzler sollen sich informell näher kommen. Die Veran­staltung erreicht nach kurzer Zeit ihren Tief- und End­punkt, als der unge­übte, unge­lenke Vater vom Rad stürzt.

Ob historisch korrekt oder nicht – egal. Matthias Brandt debütiert mit einem ganz wunder­baren litera­ri­schen Schmuck­stück. Ein leicht melan­cholischer Ton durchweht die meisten Seiten, manch traurige Epi­sode wird dagegen ganz trocken referiert. Seine unge­wöhn­liche Kindheit hat dem Autor einen einzig­arti­gen Stoff von großem öffent­lichen Interesse beschert, aber er wider­steht jegli­cher Ver­suchung, damit zu koket­tieren oder eine Abrech­nung zu verbinden. Hier schreibt ein äußerst fein­fühliger, ästhetisch an­spruchs­voller und sprach­lich hoch begabter Mensch, der sich von seinem Über­vater eman­zipiert und auf eigene Füße gestellt hat.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2016 aufgenommen.


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